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Architekten der Gegenwart

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Man kann die moderne Architektur nicht allein nach dem beurteilen, was uns im vergangenen Jahr in Ausstellungen und Vorträgen französischer Architekten und Städtebauer gezeigt wurde; die Charakteristika der französischen Schule, an deren Spitze Le Corbusier steht, besitzen keineswegs allgemeine Gültigkeit. Den Franzosen nämlich steht als großer Widersacher eine sehr bedeutende amerikanische Schule gegenüber, als deren Führer Frank Lloyd Wright gilt; beide Richtungen sind scharf voneinander zu trennen. Sie haben zwar manche Stilelemente gemeinsam, unterscheiden sich jedoch durchaus in Tendenz, Gesinnung und Ziel. Es lohnt sich, die Ergebnisse der beiden Schulen gegeneinander abzuwägen; die Gelegenheit dazu gewährt eine Photoausstellung von Werken Richard J. Neutras, die derzeit in der Säulenhalle des Museums für angewandte Kunst am Stubenring zu sehen ist.

Richard J. Neutra, der gebürtige Österreicher und Otto-Wagner-Schüler, war Mitarbeiter Wrights, schafft in dessen Sinn, geht hier und dort sogar noch ein Stück über den großen Amerikaner hinaus, dessen bedeutendster Nachfolger er ohne Zweifel ist. Neutras Bauten tragen die Kennzeichen eines abstrakten Stils: abstrakte Horizontalen und Vertikalen, Beton und Glas herrschen vor, die Gebäudeteile gleichen geometrischen Gebilden, Kuben oder Prismen, die unter dem Gesichtspunkt der Massenwirkung frei im Raume verschoben und zu einem Ganzen komponiert werden. Weder klassische Archtitekturregeln noch ein Bedürfnis nach einer Fassade oder Hauptansicht kommen zum Ausdruck, ja selbst malerische Prinzipien, wie sie bisweilen noch Wright anwendet, spielen bei Neutra keine Rolle mehr.

Nun, all das gilt auch für die Schöpfungen der Franzosen. Aber Le Corbusier verharrt in der Abstraktion; er setzt sie nicht in eine Beziehung — etwa zur Landschaft —, sondern betont sie so sehr, daß seine Bauten geradezu Gegenstücke der Natur werden. Sie haben mit ihr nichts mehr gemeinsam, sie sind im Gegenteil von einer durchaus nicht unbeabsichtigten Widernatürlichkeit. Diese merkwürdige Naturfeindlichkeit war in den früheren Werken des Franzosen nicht immer offenkundig; nach und nach aber wurde sie zum hervorstechendsten Merkmal seiner Schule. Und somit ist es sicherlich kein Zufall, daß sich das Schaffen Le Corbusiers immer mehr in Gegenden verlagert, in denen es sozusagen keine oder nur mehr eine abstrakte Natur gibt — an den Rand der nordafrikanischen Küste nämlich.

Bei den Amerikanern ist es anders. Le Corbusier will aus der Wohnung des Menschen eine „Wohnmaschine“, Neutra möchte aus ihr am liebsten ein Stück Garten oder Landschaft machen. Le Corbusier errichtet Betonwände, um die Natur auszuschließen, Neutra läßt Buschwerk und Blumen in verandenartig geöffnete Zimmer vordringen. Dem Franzosen schwebt, wenn er seine Hochhäuser projektiert, eine Menschheit vor, die, wie ein Bienenstock organisiert, ein automatisch funktionierendes Kollektiv ist — der Amerikaner denkt, wenn er plant, an, man möchte fast sagen, humanere Formen des menschlichen Zusammenlebens: an Familien, Kindergärten oder Schulen. Und darum setzt er seine

Landhäuser in Kommunikation mit der Umgebung, zieht den Garten in die Wohnung hinein und gewinnt aus dem Gegensatz zwischen den abstrakten Lotrechten seiner Architektur und den vielfältigen Naturformen ringsum unerwartete Schönheit und Harmonie. Darum wirken seine Bauwerke so „natürlich“, so, als ob sie die Natur selbst hervorgebracht hätte wie Kristalle, die zwischen Gestein eingebettet sind. Es spiegelt sich in ihnen eine höhere Gesetzlichkeit als die des Reißbrettes und der tristen Rationalität. Um sie mit einem Wort zu bezeichnen: sie sind aus einer humanen Gesinnung entstanden. Sie gehören dem Menschen.

Diese Gesinnung ist vorbildlich; ob für ans, die wir nicht im Klima Kaliforniens leben, auch die Bauformen Neutras vorbildlich sein können, ist eine Frage, die man füglich den Architekten wird überlassen müssen. Zweifellos wird aber Architektur dieser Gattung, wenn sie einmal bei uns an Boden gewinnen sollte, Variationen unterliegen, die ihr Bild wesentlich verändern werden. Denn es ist nun einmal so, daß die Aufgaben, die das Klima stellt, nicht auf bloß konstruktivem Wege zu lösen sind, ganz abgesehen davon, daß es weder heute noch in Zukunft wirklich einen „Weltstil" geben wird, der für Länder verschiedener Breiten- und Längengrade gleichermaßen verpflichtend ist. An dem Gegensatz der französischen und amerikanischen Architektur erweist sich das wohl sehr deutlich.

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