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LE CORBUSIER / ARCHITEKTUR ALS KREATIVES NEUGESTALTE

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„Hier, Monsieur, haben Sie für Gott und Unsere Liebe Frau gearbeitet“, sagte der Erzbischof Du-bois von Besaueon zum Architekten der Wallfahrtskirche Ste. Marie du Haut anläßlich ihrer Einweihung im Juni 1955. Viele unserer Zeitgenossen sind und waren anderer Meinung. Sie halten es nicht für möglich, daß Le Corbusier (eigentlich Charles Edouard Jeanneret), der in diesem Monat 75 Jahre alt wurde, ein „Nichtgläubiger“, dazu befähigt sei, eine katholische Kirche zu erbauen. Sie finden sie heidnisch oder sonst was, jedenfalls unchristlich. Fest steht aber: mit diesem Bau wurde die moderne Kirchenbaukunst um einen entscheidenden, einen großartigen Schritt vorwärtsgebracht. Die Kapelle ist — von kleinen Einzelheiten abgesehen — außerdem schön (freilich in keinem althergebrachten Sinn). Niemand, der gutwillig ist und nicht um mindestens fünfzig Jahre verspätet lebt, wird es abstreiten, wenn er sie gesehen und auf sich einwirken gelassen hat. Diese Kirche ist weitaus überzeugender. großartiger und ideenreicher als andere Bauten, die Le Corbusier erbaut hat. Hier sind alle Teile miteinander verzahnt und zu einer Einheit gebracht worden; eigentlich ist diese Kapelle eine Plastik.

Le Corbusier hat überall in der Welt mit Erfolg gebaut. Am bekanntesten sind seine Wohnhochhäuser, ist seine Uniti d'Habitation etwa in Marseille geworden, deren Prinzipien er zuerst 7 922 erdachte. Ein ähnlicher Bau steht auch im Hansaviertel in Berlin, und schon in der Werkbundsiedlung in Stuttgart ließ er seine zukunftsreichen, wenn auch zum Teil noch korrekturbedürftigen Ideen erkennen.

„Seit zwanzig Jahren, seit ich im vollen Schaffen stehe, habe ich die Gewißheit, daß wir inmitten einer gewaltigen Neugestaltung, einer Reformation stehen, bei der es darum geht, eine Neubildung des Bewußtseins eines jeden einzelnen zu erreichen... In der Zeit der Industrialisierung... kommt dem kreativen Individuum eine erhöhte Bedeutung zu als Träger und als Uber-mittler des menschlichen Empfindens.“ Das sind Sätze, die Le Corbusier, der Architekt, Maler, Plastiker und Dichter, 1947 äußerte. Er hatte die besten Absichten und Fähigkeiten, feierte Erfolge und erlitt Niederlagen — setzte sich aber auf jeden Fall durch. Seine Wohneinheiten hatten einen ungeheuren Einfluß auf die neue Bauentwicklung. Eine der größten Aufgaben wurde ihm in Indien erteilt, wo er eine Hauptstadt für den Ost-pandjab am Fuß des Himalaja erbaute: Chandigarh. Mit ihrem Bau wurde 1950 begonnen. Ein Für und Wider beschäftigt seitdem die ganze, an neuen Bauproblemen interessierte Welt

Le Corbusier ist aber kein eigentlicher Bahnbrecher der modernen Architektur. Sein Werk fußt entscheidend auf den Vorarbeiten und Entdeckungen anderer — im Gegen-sa • zu einer weitverbreiteten Meinung und im Gegensatz zu seinen eigenen Darlegungen. Er wurde im puritanischen Landesteil der Schweiz, in La Chaux-de-Fonds, im Jahre 1887 geboren. Unter anderen war der Wiener Josef Hoffmann sein Lehrer, zu einer Zeit, als Wiener Architekten mit die führenden in Europa waren. Auch von Adolf Loos, den Le Corbusier sehr schätzte, hat er sicherlich gelernt. Das Bauen in Kuben, in die Einheit betonenden Blöcken, hat er mit ihm gemeinsam gehabt. Seine ersten Häuser errichtete er 1912 bis 1916 in La Chaux-de-Fonds, darunter eines mit Eisenbetongerippe. Das hat er bei einem anderen wichtigen Lehrer, bei A. Perret in Paris, gelernt.

Wie Loos, wandte er sich mit seinen ab 1922 entstehenden Hausbauten gegen jede Ornamentik. Als Maler begründete er, zusammen mit Ozenfant, die Richtung des Purismus, als Architekt arbeitete er sehr viel mit seinem Vetter Pierre Jeanneret zusammen. Er veröffentlichte eine stattliche Reihe von Büchern theoretischer und praktischer Natur. Le Corbusier ist, alle Einwände eingeschlossen, einer der wichtigsten, erfindungsreichsten unter den die Technik in ihren Dienst stellenden entscheidenden Architekten unserer Zeit. Daß er von Österreichern gelernt hat oder sich voh^ ihnen beeinflussen ließ, kann uns deswegen nicht mit Befriedigung erfüllen, weil die Österreicher später viel zuwenig von ihm geternt haben — zumindest die Architekten unter ihnen.

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