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Die kalkulierte Revolution

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In der Reihe der „Wiener Schulen“ mit Weltgeltung gebührt der heute fast vergessenen Wagner-Schule ein ganz hervorragender Platz: Es war international gesehen die erste „akademische“ — und zugleich antiakademische — Schule der modernen Architektur. Ein geradezu einmaliges Phänomen, das bis heute von der Architekturgeschichte nicht oder nur am Rande erkannt, geschweige denn gewürdigt wurde: „Das Geschichtsbild, das man sich von der Kunst Wiens um 1900 zu machen pflegt, ist ohne eine genaue Analyse der Wagnerschule unvollständig und einseitig. Die kühne, revolutionäre Modernität der Schule geht über die Kunst von Wagner, selbst Loos und Hoffmann weit hinaus und beschäftigt sich mit den wichtigsten Problemen der modernen Architektur“, schreibt Otto Antonia Graf in seinem Buch über diese Generation von Architekten. „Aber wir stehen vor der traurigen Tatsache, daß eine Generation hervorragender erfinderischer Architekten durch die Ungunst der Zeit zum Scheitern verurteilt war, ehe sie noch eine ihrer Bedeutung angemessene Tätigkeit entfalten konnte.“

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In der Reihe der „Wiener Schulen“ mit Weltgeltung gebührt der heute fast vergessenen Wagner-Schule ein ganz hervorragender Platz: Es war international gesehen die erste „akademische“ — und zugleich antiakademische — Schule der modernen Architektur. Ein geradezu einmaliges Phänomen, das bis heute von der Architekturgeschichte nicht oder nur am Rande erkannt, geschweige denn gewürdigt wurde: „Das Geschichtsbild, das man sich von der Kunst Wiens um 1900 zu machen pflegt, ist ohne eine genaue Analyse der Wagnerschule unvollständig und einseitig. Die kühne, revolutionäre Modernität der Schule geht über die Kunst von Wagner, selbst Loos und Hoffmann weit hinaus und beschäftigt sich mit den wichtigsten Problemen der modernen Architektur“, schreibt Otto Antonia Graf in seinem Buch über diese Generation von Architekten. „Aber wir stehen vor der traurigen Tatsache, daß eine Generation hervorragender erfinderischer Architekten durch die Ungunst der Zeit zum Scheitern verurteilt war, ehe sie noch eine ihrer Bedeutung angemessene Tätigkeit entfalten konnte.“

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Otto Wagner selbst, der letzte große Überlebende der „heroischen“ Phase der Stadterneuerung, in Wien als Professor an der k. u. k. Akademie der bildenden Künste ab 1894 angestellt, stand an der Spitze des gigantischen Wiener Bauunternehmens: der Bau der Stadtbahn, der Kanalisation, der Verkehrsregulierung, von Schleusen und Kanalsperren, Maschinenhäusern und Brücken waren seine wichtigsten Aufgaben, die er dem Anspruch seiner Zeit entsprechend in ästhetischer Vollendung, zugleich aber nach revolutionären technischen Grundsätzen löste. Dennoch: als hervorragender Repräsentant von 1894 bis 1898 an der Frontlinie der Progressiven, führte er einen erbitterten Kampf gegen künstlerisches Kleinbürgertum. „Die Schule, die Wagner an der Akademie ins Leben rief, war der Ort, an dem sich das von dem Künstler herbeigesehnte radikal Neue entfalten sollte und konnte, ohne auf die Absurdität der Öffentlichkeit Rücksicht nehmen zu müssen. Im Schutze der Schule und der außerordentlichen Liberalität Wagners vollzog sich fast unbemerkt zwischen 1898 und 1907 eine große Mutation. Sie konnte sich nicht in Bauten manifestieren, trat nur publizistisch hervor und ist nicht identisch mit dem, was gemeinhin als Wagner-Schule gilt.“ Es war eine auf die Persönlichkeit Wagners total abgestimmte Klasse, die nicht von ungefähr mit dem Ausscheiden des großen Architekten abrupt endete. Der Ruf der Schule verbreitete sich jedenfalls schnell. Die Resonanz war international. Hevesi, einer der verläßlichsten Chronisten, berichtet: „... in die Wagner-Schule kommt ja längst kein Fremder mehr hinein, weil der Zu-drang der Einheimischen zu groß ist. An die 200 fremde Bewerber aus allen Ländern sind in letzter Zeit abgewiesen worden.“ Es studierte da etwa der Sohn Frank Lloyd Wrights, Olbrich und Josef Hoffmann, Schindler u. a. Otto Antonia Graf hat eine Liste von über 150 Studenten zusammengetragen und für sein bei dem Verlag Jugend und Volk (Wien—München) erschienenes Buch die bedeutendsten zukunftweisenden Projekte zusammengestellt, die schon auf die für ihre Zeit ungewöhnlichen Problemstellungen der Schule hinweisen. Das Problembewußtsein entzündete sich vor allem an zwei Feststellungen, die Wagners schärfste Kritik am 19. Jahrhundert einschließen: 1889 spricht er über die „Karikaturen der Stile“, später „von der Unverständ-lichkeit der Baukunst, das heißt ihrer Ungleichzeitigkeit“. Er konstatiert die Entfremdung der Baukunst vom sozialen Prozeß. „Die Kunst hat sich auf irgendeine Weise vom Leben gelöst und führt daher ein karikaturhaftes, parasitäres Dasein.“ Wagner hat diesen kulturkritischen Ansatz nie ausgeführt, da es ihm vor allem um eine praxisorientierte, ganz kämpferische Ideologie zu tun war. Er polemisierte vor allem gegen die Entfremdung zwischen Kunst und Leben, die vom Akademismus verursacht worden war. Hier hatte die Wagner-Schule einzusetzen.....im

Schauen, Wahrnehmen, Erkennen der menschlichen Bedürfnisse zu üben und die so gefundene künstlerische Aufgabe zu lösen“, formulierte etwa Wagners Schüler, Karl Maria Kerndle, das Ziel kollektiver Fortschritte. Und Joseph Lux, der Freund und Biograph Wagners, faßt die Aufgabe wie die Ästhetik noch lapidarer zusammen: ..... Zweck,Konstruktion, Poesie. Diese drei Worte als Uberschrift eines künstlerischen Glaubensbekenntnisses stellen die höchsten Forderungen.“ Die bewußte Formulierung der Dynamik, der Forschung, der Offenheit und Zukunftsbezogenheit setzt eine neue Orientierung des Bauens als Prozeß sozialer und vitaler Organisation frei. Damit begibt sich die Architektur der Wagner-Schule in einen krassen Gegensatz zum Formelwesen des Historismus, strebt nach unendlichem Fortschritt und revolutionärer Bewegung. Die umfassende Neubestimmung des Bauens, die nicht in der traditionalistischen (Loos) oder der kunstge-werblerischen (Hoffmann) Reform steckenbleiben will, verwandelt den architektonischen Prozeß in eine offene Dynamik, die kein Ende hat. Der Schritt zum anarchistischen Fortschrittsgedanken liegt nahe. Form als Resultat eines komplexen sozialen Prozesses postuliert zum Beispiel Kerndle schon damals als das Grundprinzip der Kunst unseres Jahrhunderts. Und folgerichtig gibt der Wagner-Schüler nur noch offene Hinweise auf „zu lösende Probleme“, unter denen sich schon um 1912 kühne Flughafenprojekte, rotierende Bauten und technische Zentren des Welthandels befinden. Die architektonische Revolution wird erstmals nach modernsten Gesichtspunkten kalkuliert.

Die vergessene Wagner-Schule wies sich damit im Grunde als Forschungslabor aus, indem man sich dem reinen Experiment hingibt, ohne Rücksicht auf die Beschränktheit der Umgebung und den kommerziellen Erfolg der Bauindustrie. Man versteht heute nur zu gut,warum alles auf dem Papier blieb. Die Projekte zeigen aber auch, wie kühn und weit man in neue Gebiete vorstieß, sich mit Problemen wie der Prozeßform, kubistischer, orphisti-scher, geometrischer und abstrakter Gestaltung beschäftigte, die damals noch kaum aktuell waren. Das Streben, Konstruktion und Form zu versöhnen, führt die Schule bereits um 1900 zu Betonwolkenkratzern, Sportfeldern, Rennbahnen, ja zur Maschi-neri&rchrtektur; Sie nächsten 50 Jahre der Architektur scheinen vorweggenommen. Die Spiegelung sozialer Struktur der modernen Konsumgesellschaft geht mit dem geplanten technischen Aufschwung Hand in Hand.

Es ist fast ein österreichisches Schicksal dieser Schule, rund 60 Jahre nach ihrem Ende als vielleicht progressivstes Unternehmen dieser Art „entdeckt“ werden zu müssen. Nur die wenigsten Zeitgenossen Wagners haben erkannt, was er in Wien mit dieser Schule schuf und welche Zukunft sie gehabt hätte. Aber sollte es verwundern, wo selbst heute noch mutwillige Architekten und öffentliche Institutionen seine Bauten rücksichtslos demolieren, einem zweifelhaften Verkehrskonzept opfern?

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