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Kirchen, die wir brauchen

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Berechtigte Bedürfnisse von Kirchenbesuchern nach weniger steril-funktionalisti- schen Kirchen stehen im Wi- derstreit zur Tendenz der modernen (Kirchen)-Archi- tektur, die für verschiedene Nutzungsmöglichkeiten of- fen sein will. Dazu die Bei- träge dieser Doppelseite.

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Berechtigte Bedürfnisse von Kirchenbesuchern nach weniger steril-funktionalisti- schen Kirchen stehen im Wi- derstreit zur Tendenz der modernen (Kirchen)-Archi- tektur, die für verschiedene Nutzungsmöglichkeiten of- fen sein will. Dazu die Bei- träge dieser Doppelseite.

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Ich erinnere mich an die Profes- soren in der Zeit meines Architek- turstudiums, die sogar mit Antonio Gaudi nichts anzufangen wußten. Sein Werk war für sie damals ein „Gebauter Gartenzweg", ähnlich wie heute seine „Weiterführung", das Hundertwasser-Haus. Alles, was den Regeln nicht entsprach, war suspekt. Die dogmatischen Ver- fechter des internationalen Stils haben jedoch immer wieder über- sehen, daß die Großen der Avant- garde nie dogmatisch waren. Es ist etwa bekannt und mehrfach über- liefert, daß LeCorbusier einegro- ße Begeisterung für die Werke Gau- di's hatte.

In der heutigen Zeit hat es eigent- lich keinen Sinn mehr, sich über die Dogmen der Moderne auszulassen. Die Postmoderne und die durch sie ausgelösten Bewegungen in der Architektur haben der Moderne in einer gewissen Art und Weise den Todesstoß versetzt.

In der heutigen Zeit wird der Mensch in zunehmendem Maße durch die Ratio bestimmt. Das arti- kuliert sich auf verschiedenen Ebenen von den gesellschaftspoli- tischen Makrodimensionen bis hin zum Privatleben des einzelnen Menschen.

Für das so oft vorhandene Irrita- tionsgefühl des Menschen ist die breite technisierte Skala persönli- cher Belange der Verursacher. Schon seit mehr als einem Jahr- zehnt sind dagegen durch den Menschen Abwehrmechanismen entwickelt worden. Davon zeugt die soziologisch unzutreffend, aber populär so genannte allgemeine „ Nostalgiewelle".

Vereinfacht kann man sagen, daß in der Architektur die Sachlichkeit des modernen Stils durch die Post- moderne abgelöst wurde. Sie hat versucht, den geistigen Bedürfnis- sen der Menschen Rechnung zu tra- gen durch eine starke Anbiederung an Gewohntes, was sich im Rück- griff auf ein eklektizistisches Form- repertoire, aber auch gleichzeitig im Versuch eines mehr menschli- chen Maßstabes niederschlug. Bei dem Nutzer der Architektur stößt die Postmoderne auf erheblich mehr Gegenliebe als die vorher herr- schende Gestaltungsart. Jedoch die Architekten selbst bedienen sich dieses Stils mit einem gewissen Schamgefühl oder zumindest mit einer gewissen Verlegenheit.

Jeder der großen Architekten der heutigen Zeit bestreitet auf das heftigste, ein Postmodernist zu sein. Ich glaube, es liegt daran, daß be- sonders die Großen unserer Zeit mit ihrem Intellekt und ihrer künstlerischen Intuition erkennen, daß an der Postmoderne etwas nicht stimmt. Sie ist eine schnelle, hastige, überstürzte Absage an die Moderne. Es fehlt dieser neuen Stilrichtung eine konstruktive Botschaft, eine ins Positive umge- wandelte Weiterentwicklung der Architektur als Fortführung abendländischer Baukultur.

Es ist notwendig, über die geisti- gen Bedürfnisse des Menschen am Ubergang zum 21. Jahrhundert nachzudenken und über ihre Be- friedigung durch die Architektur. Anders gesagt: Was für eine Archi- tektur, Formsprache, Botschaft, welchen Geist braucht der Mensch von heute und morgen? Wie kann man den sich schnell verändernden geistigen Bedürfnissen des Men- schen mit einer gewissermaßen langlebigen Kunst, wie es die Ar- chitektur ja ist, entgegenkommen? Ist die Zeit reif dafür, eine neue Stilrichtung in der Architektur einzuläuten? Auf welchen Prämis- sen soll diese beruhen?

Die Ansprüche, die der Bewoh- ner an den gestalterischen Ausdruck des öffentlichen Raumes der Stadt stellt, ändern sich wesentlich im Laufe der Geschichte. Historisch gesehen, ist es ein äußerst differen- ziertes Thema, da diese Bedürfnis- se zum Beispiel von verschiedenen Bevölkerungsgruppen verschieden artikuliert wurden sowie die Zu- sammenhänge und Rückkoppelun- gen von einer breiten Palette sozia- ler, religiöser, kultureller, wirt- schaftlicher, herrschaftsstrukturel- ler und sogar klimatischer Prämis- sen mehr oder weniger abhängig waren.

Die Erfüllung funktionaler Be- dürfnisse ist sicher ein Teilaspekt bürgerschaftlicher Ansprüche an die Architektur, wobei im allge- meinen Funktionsfähigkeit nicht wahrgenommen, sondern Funk- tionsdefizite als Irritation empfun- den werden und die Zusammen- hänge zwischen Funktion und Gestalt vom Durchschnittsbetrach- ter nicht erkannt werden.

Bei genauer Analyse der gegen- wärtigen gesellschaftlichen Ent- wicklung in Westeuropa kann man die Ansätze eines Trends erkennen, daß nach der Zeit des wirtschaftli- chen Aufschwungs und Wohlstands, des Glaubens an die Macht von Technik, Technologie und Fort- schritt, was sich unter anderem in den rückläufigen Zahlen der Kir- chenbesucher niederschlug, eine Kehrtwende vorauszusehen ist.

Die Entwicklung der materiellen Kultur im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich nicht, ent- gegen allgemeiner Meinung, als eine steigende Entwicklung erwiesen. Die negativen Rückwirkungen sol- cher Erscheinungen, wie Umwelt- belastungen und - auf der soziolo- gischen Ebene - die Entfremdung des Individuums von der Gesell- schaft, Abnahme der Qualität der zwischenmenschlichen Kontakte bis zu Neurosen, die auf hemmungs- lose Konsumorientierung zurück- zuführen sind, haben viele Zweifel und Nachdenken bei den Menschen von heute aufkommen lassen.

Auf der geistigen Ebene wurde der Mensch als reflektierendes Wesen durch Zusammenbruch der Ideologien verunsichert und beun- ruhigt. Bei dem Begriff Ideologien sollte man auch an das Schwinden der Wirkung von Vorbildern, gei- stigen Idolen, der Anziehungskraft von Institutionen - unter anderem der Kirche - denken. Es gibt Ansät- ze zu behaupten, daß dieser so ver- unsicherte Mensch stärker eine Sublimierung seines Daseins in der Religion suchen wird. „Nachdem der schillernde Traum vom Super- markt-Paradies des Fortschritts- glaubens getrogen hat, fragen sich die Menschen wieder nach dem Sinn des Daseins." Ich kann diese auf- kommende Tendenz durch meine engen Kontakte mit Studenten vie- ler Länder Europas bestätigt se- hen.

Die Gestaltung des sakralen Raumes entspricht oder mindestens soll den geistigen Bedürfnissen des Menschen der jeweiligen Zeit ent- sprechen. Zum Beispiel die starke oder sogar pompöse Wirkung der Architektur des Barock spiegelt die Mentalität des Menschen der Ba- rockzeit wider.

Wenn wir, wie oben ausgeführt, mit Veränderungen im Bereich der geistigen Bedürfnisse des heutigen Menschen zu tun haben, müßte sich das auch in Veränderungen in der Gestaltung des sakralen Raumes niederschlagen. Die vereinfachte Feststellung, daß die Zahl der Kir- chenbesucher rückläufig ist und daß wir deswegen keine neuen Kirchen brauchen, und die vorhandenen sowieso schön sind, ist eine geläufi- ge Äußerung, die aus Bequemlich- keit und intellektueller Trägheit resultiert.

In meiner langjährigen Tätigkeit als Architekt habe ich mich immer wieder mit der sakralen Architek- tur auseinandergesetzt, sowohl als Hochschullehrer, als Forscher und auch als persönlich schöpferisch Tätiger und muß aufgrund meiner Erfahrung dieser Auffassung ganz entschieden widersprechen. Hier werden Ursache und Wirkung ver- wechselt. Es ist vielmehr so, daß die Zahl der Kirchenbesucher nicht in dem Maße rückläufig wäre, wenn die modernen Kirchen eine stärke- re Ausstrahlung hätten. Zumin- dest stimmt diese meine Behaup- tung in bezug auf die jüngere Gene- ration. „Scheune, Industriehalle, Garage des lieben Gottes - was soll ich dort?" bekommt man zu hören, wenn man offen und ehrlich mit Studenten diskutiert.

Die evangelischen jungen Men- schen bringen die Beurteilung der nüchternen Strenge ihrer Gottes- häuser auf den Nenner: „Diesen Gerichtssaal kann ich nicht haben." Darauf könnte jemand erwidern, warum sie denn dann nicht in die alten Kirchen gingen, wenn ihnen die neuen nicht behagen. Die ba- rocken Kirchen beispielsweise sind doch sehr intensiv in Gestaltung und Botschaft und trotzdem be- trachten die Besucher sie eigent- lich nur als Denkmal der Bauge- schichte und kirchlichen Entwick- lung. Eine historische Kirche kann nicht völlig den Bedürfnissen des heutigen Menschen entsprechen, das widerspräche den Prinzipien der Kohärenz zwischen den geisti- gen Bedürfnissen des Menschen einer entsprechenden Zeit und der sie befriedigenden Architektur.

Wenn wir nicht in absehbarer Zeit für den Bereich der sakralen Archi- tektur Zielsetzungen und metho- dologische Vorgehensweisen mit dem Ziel, besser den Bedürfnissen der heranwachsenden Generation zu entsprechen, herausarbeiten, werden die Erwartungen und Hoff- nungen, die der Mensch von heute und morgen mit der sakralen Ar- chitektur verbindet und die ge- stalterische Wirklichkeit, die er in unserem Kirchenraum vorfindet, auseinanderklaffen.

In der Zeit des sogenannten „modernen Stils" in der Architek- tur ist man immer mehr von der sakralen Wirkung des Raumes abgekommen. Es war eine Auswir- kung der damals herrschenden Sachlichkeit und des Funktionalis- mus. Besonders negative Auswir- kungen hatte dieses im Bereich der sakralen Architektur. Ein Gottes- haus ist kein reiner Funktionsraum. Es geht hier um ganz ander Werte, als die nüchterne Erfüllung einer Funktion. Eine dem Kirchenbau aufgezwungene funktionalistische Gestaltungsart hat verheerende Folgen für seine Wirkung gehabt. Dazu kam noch eine - von der evangelischen Kirche übernom- mene - Tendenz, den sakralen Raum als Mehrzweckraum zu ge- stalten.

Meine Forschungen auf dem Ge- biet der sakralen Architektur, Umfragen bei den Nutzern der Kir- chen sowie meine Arbeit mit den Studenten auf diesem Gebiet ha- ben mich zu der festen Überzeu- gung gebracht, daß die kalte, steri- le, schmucklose Ausstrahlung ohne Atmosphäre und Botschaftsgehalt des Kirchenraumes von den Men- schen von heute und besonders von der jungen Generation abgelehnt wird. Ich würde sogar sagen, daß diese Kirchen eine Art Hemm» schwelle erzeugen. Der Mensch braucht nach wie vor, oder viel- leicht sogar noch mehr als früher, einen Ort, wo er Ruhe findet, wo er ein Gegengewicht zu der Hektik der Zeit und den Auswirkungen der Konsumgesellschaft finden kann.

Ich bin davon überzeugt, daß viele der nach dem Krieg entstandenen modernen Gotteshäuser dringend einer Anpassung ihrer Wirkung an die veränderten geistigen Bedürf- nisse des Menschen von heute be- dürfen. Anders gesagt, in diesen Räumen müßte man, manchmal nur mit geringen und nicht unbedingt teuren Maßnahmen die Wirkung herstellen, die der Mensch von heute braucht, erwartet und herbeisehnt.

Die Ablehnung der kalten, steri- len Atmosphäre des Kirchenrau- mes bedeutet nicht, daß wir auf die Wirkung durch die „Stille" verzich- ten wollen. Nein, aber Wirkung durch „Stille", ist eine Sache und Einfallslosigkeit und Sterilität, die sich als „Stille" gibt, eine andere.

Diese Gedanken sollen auch nicht gegen den Architekturstil, der als internationaler Stil oder die soge- nannte Moderne in die Geschichte eingegangen ist, verstanden wer- den. Die großen Vordenker der Moderne haben hervorragende Leistungen - auch auf dem sakra- len Gebiet - erbracht. Die Gestal- tung der Kapelle in Ronchamps von Le Corbusier ist alles andere als kalt oder steril, sie ist ungemein poetisch und ergreifend. Die ober- flächlichen Anlehner der Großen jedoch haben diesen ausstrahlungs- losen Zustand verursacht, den wir in manchen modernen Kirchen vor- finden.

Der Autor ist Architekt, Stadt- und l.and- schaftsplaner in Frankfurt.

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