Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Mut zu neuer Vision
Wenn man heute feststellt, daß unser bisheriger Fortschritt ins Stocken geraten ist, verkündet man keine atemberaubende Neuigkeit mehr. Die Signale dafür sind nicht zu übersehen: zusammenbrechende Paradeunternehmen, Arbeitslosenziffern von über 20 Millionen im EWG-Raum, Schuldenstundungen von mehr als 25 Milliarden Dollar für Polen, drastische Budgetkürzungen, die Österreichs Verteidigungskonzept gefährden, dennoch aber mit einer Verschuldung verbunden sind, die gerade noch finanziert werden kann...
Trotz gegenteiliger Beteuerungen herrscht Ratlosigkeit (inter den politischen Verantwortlichen, denn die bisher bewährten Instrumente der Wirtschaftssteuerung greifen nicht. Die breite Masse der Bevölkerung beginnt zu resignieren und glaubt nicht mehr an eine bessere Zukunft. (Weniger als 30 Prozent der Deutschen sind noch zuversichtlich.)
Man versteht diese Verzagtheit, wenn man sich die Fülle besorgniserregender Meldung vor Augen führt, die in den letzten Jahren über uns niedergegangen sind: Warnungen vor Umwelt- und Energiekrise, vor katastrophalen Zuständen in der Dritten Welt, Terrorismus, Kriminalität...
Ich bin bei der Lektüre einschlägiger Untersuchungen stets überrascht, wie klarsichtig analysiert wird, wie umfassend die negativen Bestandsaufnahmen sind.
Obwohl solche Besinnung zweifellos notwendig ist, werden wir doch heute allzu leichtfertig mit diesen er- schfeckenden Analysen alleingelassen. Wir haben dann zwar bis ins Detail erfäihren, was alles nicht funktioniert. Aber kaum jemand macht sich an die Aufgabe, uns aus der Patsche zu helfen.
Liegt es an unserem mangelnden Wissen? Ich glaube kaum, wenn ich mir vor Augen halte, daß der Großteil der Forscher, die jemals gelebt haben, heute tätig sind. Noch nie wurde soviel über soziale, psychologische und wirtschaftliche Probleme nachgedacht und vor allem geschrieben!
Vieles aber deutet darauf hin, daß wir ernsthaft Probleme mit dem Ziel unserer Entwicklung haben. Wissen wir denn überhaupt,’was wir als Gesellschaft eigentlich wollen? Haben wir Konsens darüber, was für ein erfülltes Leben notwendig, wichtig oder nur nebensächlich ist?
Unser bisheriger Konsens, daß menschliches Glück wesentlich von der besseren Versorgung mit Gütern und Leistungen bestimmt sei, hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Denn „wo Bedürfnisse ausgeweitet werden“, schreibt E. F. Schumacher, „entsteht eine Tendenz zur verstärkten Abhängigkeit von äußeren Einflüssen, über die man keine Kontrolle hat. Das erhöht die existentielle Angst“. Und die greift langsam um sich.
Auf der Suche nach Auswegen kommen so verschiedenartige Denker wie der Sozialphilosoph Erich
Fromm, der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter, der kommunistische Politiker Roger Garaudy, der Physiker Herbert Pietschmann bei ihren Überlegungen übereinstimmend zu der Ansicht, daß der Mensch unserer Tage an seiner wesentlichen Fähigkeit, nämlich der zu lieben, Schaden genommen hat.
Unsere Alltagserfahrungen bestätigen diese Feststellung: Auf einer belebten Wiener Straße wird eine Frau von einem Mann bedrängt, geschlagen. Sie ruft um Hilfe, der Mann entreißt ihr die Handtasche. Die Passanten gehen ihres Weges, einige schauen, niemand hilft.
Nach jahrelangem Streiten haben sich Bekannte scheiden lassen. Er zieht zur neuen Freundin, sie geht wieder arbeiten. Die Kinder laufen mit einem Schlüssel um den Hals im Park herum.
In einem Gemeindebau wird die verweste Leiche einer alten Frau gefunden. Sie war vor vielen Tagen gestorben und niemandem abgegangen.
Aber bleiben wir doch nicht bei der Analyse und Kritik der bestehenden Zustände stehen! Ziehen wir doch Konsequenzen! Es ist an der Zeit, eine bessere, faszinierende Vision von erfülltem Leben zu entwickeln.
Es geht darum, heute an einer Welt zu bauen, in der die Menschen wieder liebevoller miteinander umgehen. Das müßte die Hauptstoßrichtung sein. Es müßte eine Welt sein, in der Friedfertigkeit nicht als Schwäche, Verzicht nicht als Dummheit, Verzeihen nicht als Resignation, Vorsicht nicht als Feigheit angesehen wird.
Sicher klingt das unter den heutigen Bedingungen utopisch. Ist es auch in dem Sinn, daß es sich nicht auf breiter Basis von heute auf morgen durchsetzen läßt.
Aber waren die Denker früherer Zeiten nicht genauso Träumer? In Zeiten der absoluten Monarchie von Freiheit für alle Bürger zu sprechen, erscheint nur uns selbstverständlich, die wir mittlerweile in den Genuß der realisierten Vision gekommen sind.
Und steht es nicht ebenso mit den Marxisten des vergangenen Jahrhunderts? War es nicht vollkommen unrealistisch, von Gleichheit in einer Zeit zu reden, in der der liberale Kapitalismus in Hochblüte stand? Und wie viele Aspekte dieser Vision sind heute Teile unserer Alltagsrealität geworden? Man muß einmal Engels lesen, um es sich vor Augen zu führen ... .
Die Chancen stehen gut: Vielleicht geschieht es zum ersten Mal in der Geschichte, daß Tugend nicht mit erhobenem Zeigefinger gepredigt werden muß. Heute kann man mit kühlem Verstand und nüchterner Beobachtungsgabe erkennen, daß Demut, .Friedfertigkeit, Bereitschaft zum Maßhalten, Brüderlichkeit die notwendigen Grundpfeiler einer überlebensfähigen Gesellschaft sind.
Aufbruch zur Brüderlichkeit sollte gerade auch uns Christen aus unserem Schmollwinkel mobilisieren.
Könnte die Frage danach, ob eine Handlung zu mehr Solidarität unter den Menschen beiträgt, nicht genauso ein Entscheidungskriterium für individuelles und gesellschaftliches Handeln sein wie die Frage danach, ob sie materiell etwas einbringt?
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!