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Ausbruch aus der Resignation wagen

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„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.. .“In welche Welt käme dieses Wort heute? Wäre es eine Antwort auf Fragen, Sorgen und Nöte unserer Zeit?

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„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.. .“In welche Welt käme dieses Wort heute? Wäre es eine Antwort auf Fragen, Sorgen und Nöte unserer Zeit?

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Einige Schlaglichter auf unseren Alltag können vielleicht helfen, unsere heutige Welt etwas zu kennzeichnen:

Die Tafel am Bahnhof gibt Auskunft über die Tarife. Daneben ein Fahrkartenautomat — Münzeinwurf — Fahrschein. Eine Stimme vom Tonband kündigt den einfahrenden Zug an. Automatisch öffnen sich die Türen, automatisch gehen sie zu. Eng an den Nachbarn gedrängt vermeidet jeder den Blickkontakt. Man schweigt...

Im Supermarkt zur Mittagszeit: Rasch eine Kleinigkeit zum Mittagessen geholt. Zwischen vollen Regalen, Plakaten mit Sonderangeboten, Preisschildern suchen die Einkäufer stumm, was sie brauchen. Stumm liefern die Angestellten Nachschub. 03 aus dem Lautsprecher. Nur an der Kassa eine menschliche Stimme: „24 Schilling“. Stumm verfolgt eine Videokamera das Geschehen.

„Wieder zu spät, zwanzig Minuten sogar“, denkt er und hastet ins Kaffeehaus. Seine Gesprächspartner beruhigen ihn: Auch sie sind erst seit fünf Minuten hier. Man kommt rasch zur Sache. In einer halben Stunde wartet der nächste Termin. Bevor sie auseinandergehen, zückt jeder den Kalender —ein neuer Termin. „Nächste Woche?“ - „Unmöglich!“. „Freitag in zwei Wochen?“ -„Geht nicht“. „Dann telefonieren wir halt...“

Eine lange Kolonne geht hinter dem Sarg her. Er war ein bedeutender Mann, Universitätsprofessor. Am offenen Grab werden bewegende Abschiedsworte gesprochen: „Dein Tod hat eine Lücke gerissen, die nicht zu schließen ist“, ruft ein Kollege aus. In den hinteren Reihen unterhält man sich über das Intrigenspiel rund um die Berufung des Nachfolgers.

„Ruhig, man versteht ja nichts!“ Vater ist ungehalten. Verständlich: Es ist zwanzig vor acht und „Zeit im Bild“. Also wird ohne reden weiter gegessen. Kaum sind die Teller leer, verschwinden die Kinder vor den Fernseher im eigenen Zimmer:, .Kommissar XY“ ist spannender als das fade Programm der Eltern.

Mag sein, daß manches ein bißchen überzeichnet ist. Aber ist nicht unser aller Leben von ähnlichen Erfahrungen geprägt: Anonymität, Zeitnot, Sprachlosigkeit, das Gefühl der Abhängigkeit von Apparaten und der eigenen Bedeutungslosigkeit? Sind das nicht alles Kennzeichen unserer Welt, in der die „Gesellschaft“ den Ton angibt und nicht die Person? In der Zwecke und Nutzen Vorrang vor der Freude und dem Kummer von einzelnen haben?

Ich merke es immer wieder in Gesprächen, in denen es um die Zukunft geht. Welche Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit kommen doch bei solchen Gelegenheiten zum Ausdruck! Ja, die Politiker müßten endlich gescheiter — und viel ehrlicher werden. Und auf internationaler Ebene müßte man sich einigen, und vor allem müßte viel mehr geforscht werden. So laufen etwa die Uber-legungen des kleinen Mannes, wenn er über die zahllosen Mißstände der heutigen Zeit nachdenkt, um Wege in eine gedeihliche Zukunft zu erkunden.

Spricht man dann mit Politikern über einen neuen politischen Stil und neue Ansätze, bekommt man beinahe dasselbe zu hören: Ja, Ideen gäbe es schon. Aber die ließen sich nicht verwirklichen. „Wer würde mich denn wählen? Und außerdem, was wollen Sie? Wir sind ein kleines Land, wir können nicht aus der Reihe tanzen.“

Und die Wissenschaftler, unkündbare Professoren mit garantierter Lehrfreiheit? Auch sie wollen in Kollegenkreisen etwas gelten, zu Kongressen eingeladen werden. Da fällt man nicht gern aus dem Rahmen. Und wer Kritisches äußert, sorgt sich um die Fortsetzung seiner Forschungsaufträge. Schließlich müssen davon Assistentengehälter gezahlt werden.

Und so fühlt sich jeder vom „System“ abhängig, läuft mit dem scheinbar unaufhaltsamen gesellschaftlichen Fortschritt mit und verliert seine persönliche Entfaltung aus den Augen.

Ist also die zeitgemäße Umdeu-tung der oben erwähnten Stelle aus dem Johannes-Evangelium folgende: „Und das Wort ist System geworden?“ Manchmal entsteht fast dieser Eindruck, wenn etwa von „sündigen Strukturen“ die Rede ist, wenn sich so viele Menschen alles Heil von der Änderung der Systeme, der Macht-

Verteilung, der Handelsbeziehungen, der Einkommensverhältnisse erwarten.

Keine Frage: Eine echte, tiefgehende christliche Erneuerung würde sich auch in einer Veränderung dieser äußeren Verhältnisse niederschlagen. Sie würde sich nicht mit den skandalösen Einkommensunterschieden zwischen armen und reichen Ländern abfinden. Sie würde Schluß mit dem selbstmörderischen Aufrüsten machen. Sie würde mit einer radikalen Umweltsanierung und mit einem Abbau der Korruption einhergehen. Und und und...

Eine christliche Erneuerung würde aber nicht bei den Strukturen ansetzen. Denn das Wort muß Fleisch werden. Es muß den Menschen betreffen, ihn erfassen. Und zwar die einfachen Menschen zuerst. Auch Jesus, das Mensch gewordene Wort Gottes, ist in einem Provinznest aufgewachsen und nicht in den Machtzentren der Antike. Er war Kind einfacher Leute und nicht einflußreicher Machtmensch. Er erlernte den Beruf des Zimmermanns und war kein gelehrter Wissenschaftler. Er versammelte einfache „G'scherte“ um sich und nicht Würdenträger. Seine Botschaft spekulierte nicht mit der Sympathie der Mächtigen, sondern fiel bei jenen auf fruchtbaren Boden, die sich für seinen Geist öffneten.

Und genau dasselbe geschieht heute. Es ist gar nicht notwendig, die Vision einer christlichen Erneuerung im Konditional zu schreiben. Das Wort wird auch heute Fleisch, wenn auch nicht in jener einmaligen, unwiederhol-baren Art wie vor 2000 Jahren in Bethlehem. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, erkennt, daß mitten in den überhandnehmenden Problemen das Rettende, das Reich Gottes wächst.

Es wächst überall dort, wo einer die moderne Illusion aufgibt, der Mensch sei in seinem Kern gut und nur von äußeren Zwängen krank und hilflos gemacht. Wer seine Gespaltenheit, Sündhaftigkeit und Hilfsbedürftigkeit erkennt, kann sich für das Wirken Gottes öffnen. Wer sich auf diesen Weg begibt, sieht in Gott nicht mehr den fernen Generaldirektor der „Weltraum GmbH“, sondern läßt sich im Alltag von Gottes Geist leiten. Und dieser reißt den einzelnen aus der verbreiteten, lähmenden Passivität.

Was dann geschieht? Unvorhersehbares, weil Gottes Wege anders verlaufen als unsere. Dann bricht plötzlich eine christliche Erneuerung auf in der Sowjetunion, in einem Land, das sich seit bald 70 Jahren bemüht, Gott mit allen Mitteln abzuschaffen. Da nehmen Menschen Leid, Verfolgung und Tod auf sich, um zu bekunden, daß Leben aus dem Geist Jesu tiefer trägt, als menschliche Bosheit zerstören kann.

Da wächst mitten im Elend, in der Ausbeutung, im politischen Terror in Lateinamerika eine christliche Erneuerung unter den einfachen Leuten. Sie zieht auch die von weltlicher Versuchung angekränkelten kirchlichen Würdenträger in ihren Bann. Mitten in den Slums lesen Menschen die Heilige Schrift und erfahren die Botschaft als Wort Gottes, das für sie gilt - hier und heute. Und sie beginnen—trotz aller scheinbaren weltlichen Aussichtslosigkeit -, in gegenseitiger Verantwortung und Brüderlichkeit an einer menschenwürdigen Umgebung zu bauen.

Wo das Wort Fleisch wird, entdeckt der einzelne seine Verantwortung — und beginnt an einer ne'uen Welt zu bauen, trotz aller scheinbaren Sinnlosigkeit. Und das geschieht auch bei uns, im reichen Westen, unscheinbarer vielleicht und stark angefochten: Junge Leute verlassen die ausgetretenen Pfade von Wohlstand und Karriere und entdecken eine Sehnsucht nach Stille, Gebet und einfachem Leben; Menschen er-, kennen die Isolation der modernen Lebensweise als Irrtum und bilden neue Formen christlicher Gemeinschaften; andere lassen sich von der Not der Welt betreffen, geben das Horten auf und beginnen zu teilen...

Und so wächst weltweit dieses Reich, das Ordnung ins Chaos bringt und das nicht von dieser Welt ist. In ihm erwartet man sich alles von der inneren Erneuerung des einzelnen und setzt nicht auf strukturelle Veränderungen als Allheilmittel. In ihm muß der Mensch nicht mehr himmelstürmender, selbstverantwortlicher Titan sein, sondern er darf wieder Kind Gottes werden.

Es ist dasselbe Reich, das Jesus vor 2000 Jahren gegründet hat, das aus seinem Geist lebt und seiner Vollendung entgegengeht. Es hat keine fest umrissenen Grenzen, keine Stacheldrahtverhaue und Grenzsoldaten. Es wächst überall und übt eine faszinierende Anziehungskraft aus, vor der die Mächtigen zittern. Denn in ihm werfen die Armen die Last des materiellen Uberflusses ab, hegen die Sanftmütigen liebevoll die ihnen anvertraute Schöpfung, haben die Barmherzigen Geduld mit der Schwäche ihrer Mitmenschen. Um sich ein reines Herz zu bewahren, machen die Menschen in diesem Reich nicht bei allem mit und lassen sich nicht von Systemen kaufen, sondern schwimmen gegen den Strom und tragen somit die Erneuerung der Welt. Hier wird offenkundig: Jeder kann die Welt verändern.

Und all das geschieht nicht aus eigener'Stärke, kann nicht immer durchgehalten werden und ist mit viel Versagen durchsetzt. Aber es wird immer neu entfacht von dem Wort, das Fleisch geworden ist und die Welt überwunden hat -auch die heutige.

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