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Digital In Arbeit

Die Flut der „Normen“

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len können. Dies alles wäre aber nur ein unvollkommenes, einseitiges Beginnen, wenn nicht durch einflußreiche Persönlichkeiten aller ländlichen Berufsorganisationen bei der Landbevölkerung das Interesse für die Landschule gestärkt und vermehrt werden würde. Eine Hebung des Schulinteresses der Landbevölkerung und entsprechende wirtschaftliche und berufliche Förderungsmaßnahmen für die Landlehrerschaft werden diese dann auch mehr als bisher dazu veranlassen, länger oder ganz auf dem Lande zu verbleiben und dort mit Freude und Innerer Anteilnahme, ohne Zwang und moralischen Druck aktiv an dieser geistigen Erneuerung unseres Landvolkes mitzuarbeiten.

Betont muß hier noch werden, daß alle diese Lehrerschaft und Schule betreffenden Reformen nicht noch dem Muster der Stadtschule erfolgen dürfen, sondern daß bei dieser Arbeit in erster Linie nur er-

fahrene Männer der Landschule sowie hervorragende Persönlichkeiten der ländlichen Wirtschaft und Kultur gehört werden sollen. Soviel hat uns die heutige Landschule, aufgebaut nach einem einheitlichen Schema in vollkommen anderen Zeitverhältnissen, bewiesen, daß sie in ihrer derzeitigen Gestalt den ihr gestellten Aufgaben nicht gewachsen ist; darum muß vor allem hier möglichst bald ein entscheidender Schritt getan werden.

Wie zum Ziel?

Zur praktischen Durchführung dieser Arbeiten würde ich vorerst die Schaffung einer Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus einigen Herren und Damen der Landlehrerschaft, der ländlichen Wirtschaft und des ländlichen Volksbildungswesens, vorschlagen, die über Ziel und Weg der geistigen Reformarbeit im allgemeinen und besonderen beraten und entsprechende Vorschläge aus-

arbeiten sollten. Im Rahmen dieser Arbeitsgemeinschaft, unterteilt in Arbeitsgruppen für Schule, Aufklärung, Kultur usw., wären eingebrachte Detailvorschläge zu beraten und zu prüfen und hierauf entsprechende Gesetzesvorschläge den Landesstellen zur Beschlußfassung zu unterbreiten, während nach einem ausgearbeiteten Organisationsplan die entsprechende Arbeit in allen Gruppen zu beginnen hätte.

Vorerst aber, glaube ich, wird es notwendig sein, für den großen Gedanken einer geistigen Refonnarbeit als Beitrag bzw. Grundlage aller sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Verhütung der Landflucht Verständnis zu wecken. Erst wenn einmal festgestellt werden kann, welche Kreise sich hiefür interessieren und Verständnis zeigen, wird es auch am Platze sein, Einzelheiten vorzutragen und vor diesem oder einem anderen Forum zu erörtern.

Progressive Vermehrung heißt gegenwärtig das Symptom in den verschiedensten Bereichen der Lebensgestaltung. Von der unüberschaubaren Steigerung der Menge und Arten von Konsum- und Investitionsgütern spannt sich der Bogen über die Inflation der Wünsche bis zur weltweiten Inflation des Geldes. Die Zahl der pro Kopf zurückgelegten Kilometer, der Produkte der lite-rerarischen Tätigkeit und sogar der wissenschaftlichen Theorien unterliegt gleichfalls dem Phänomen der Aufblähung. Dies trifft auch auf den Erzeugungsvorgang und die Menge der das menschliche Verhalten regelnden Normen zu.

Welche Faktoren bedingen beziehungsweise fördern die Vermehrung der Normen? Ist die „Normenzuwachsrate“ in einer bestimmten Größe unvermeidbar, im darüber hinausreichenden Ausmaß jedoch überflüssig und sogar schädlich?

• Ein immer dichter werdendes Sozialgefüge mit infolge Berufsspezialisierung vermehrter' Abhängigkeit- der Menschen* voneinander und vermehrten Eigentums- und Ge-brauchsbeziehungen der Menschen zu beweglichen und unbeweglichen Sachen verlangt nach einem Mehr an Regelungen.

• Das Modell der Perfektion beziehungsweise Geschlossenheit der Rechtsordnung, das verfassungsmäßig im rechtsstaatlichen Prinzip („Die gesamte staatliche Vollziehung darf nur auf Grund der Gesetze erfolgen“) wurzelt, drängt nach einer Normenvermehrung. Die Tendenz zur antizipativen Normierung aller Tatbestände, die sich in der Zukunft ereignen könnten, ist im System des Fall-Rechtes (case-law) weniger stark.

• Die Aushöhlung des Autoritats-begriffes in der demokratischen Massengesellschaft fördert das Mißtrauen gegenüber den rechtsanwendenden Organträgern. Den entscheidenden Richtern oder Verwaltungsbeamten wird kaum volle Sachlichkeit, Unparteilichkeit und richtiges Ermessen zugebilligt. Die Tätigkeit dieser Organträger soll genau fixiert sein, was nur durch vermehrte Normen geschehen kann. Vom Partner privatrechtlicher Verträge wiederum wird angenommen, daß er sich nicht an den Grundsatz von Treu und Glauben halten wird. Deshalb ertönt auch hier der Ruf nach Normierung, die zu einer weiteren Einschränkung der Vertragsfreiheit führt

• Es besteht heute das allgemeine Streben, sich in ein Verhaltensschema zu flüchten. Bei der Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Lebensverhältnisse resultiert dieses Streben aus dem begreiflichen Verlangen nach Sicherheit.

• Im Bereich der Technik erlebt der Mensch direkt oder indirekt die zumindest teilweise Beherrschung der Natur. Ohne es auszusprechen, wird versucht, den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen ebenfalls durch perfekte Normen zu manipulieren. Man verfällt der Analogie, daß eben im gesellschaftlichen Bereich alle Vorgänge genauso beherrschbar ablaufen müßten wie im Bereich der Technik.

Dieses Ursachenbündel beweist, daß eine Vermehrung von rechtlichen Normen eine unabänderliche Erscheinung unserer Zeit geworden ist. Sind sie alle notwendig?

Die Schwächen der Inflation

Ohne Zweifel wird einmal dem „normenproduzierenden Vorprellen“ der verschiedenen Interessengruppen zuviel Raum gegeben. Die Folge ist eine Aufsplitterung der Rechtsgebiete und einzelnen Gesetze. Normative Formulierungen beginnen mit dem Wort „grundsätzlich“ und zählen hierauf so viele Ausnahmen von diesem Grundsatz auf, daß der „Grundsatz“ kein solcher mehr ist. Vor allem durch Gesetzesnovellen werden die „Grundsätze“ in weiterer Folge immer mehr durchlöchert

Selbstverständlich ist es ein bedeutender Zweck der Normen, die Schwachen zu schützen. Trotzdem werden in unserer „perfekten“ Welt Gesetze gerne mit einem, Mittel verwechselt, das den einzelnen von der Mühe des Nachdenkens, der Bildung und . Vorsicht enthebt. Es ist eben unmöglich, durch Normen den Konsumenten gegen alle Gefahren einer nachteiligen Kaufentscheidung zu sichern, durch Natur- und Landschaftsschutznormen allein die Natur beziehungsweise die Landschaft zu behüten oder durch „Lawinenschutz-gesetze“, wie sie nach Lawinenunglücken vielfach gefordert werden, die Winterurlauber beziehungsweise die Skifahrer zu beschirmen.

Auch die Verwendung von Normen als bloße Fallstricke, in denen man gegebenenfalls einen Schuldtragenden fangen kann, war seit jeher üblich und wird weiter praktiziert. Die Umwelt hat dafür nur ein Achselzucken und die Hoffnung beziehungsweise Spekulation, daß „man selbst“ freilich dieses „Pech“ nicht haben werde. Denken wir zum Beispiel an die mit der Verwirklichung der Straßenverkehrsordnung zusammenhängenden Probleme.

Das Phänomen der Geschwindigkeit, wie sie sich uns in der technisierten Welt präsentiert, darf nicht auf den Erzeugungsvorgang für Normen übertragen werden. Während die Gesetzesproduktion durch die gesetzgebenden Organe noch etwas langsamer abläuft, werden Verordnungen von den Verwaltungsbehörden mit wachsender Beschleunigung geschaffen.

Irgendeine problematische Rechtsmaterie wird in „verhandlungsschwangeren“ Augenblicken von mehr oder weniger zuständigen beziehungsweise sachkundigen Politikern ausgehandelt, und das Ergebnis wird aus taktischen Motiven „versteinert“. Weder in einem verkrampften Festhalten an zwischen politischen Bevollmächtigten ausgemachten „Prinzipien“, die sich in der Folge für eine seriöse Formulierung der Normen nachteilig erweisen, noch in einer hysterischen Dynamik bei Normenänderungen zeigt sich das richtige Verständnis für die Erfordernisse der Gegenwart und Zukunft.

Allhellmittel „Vorschrift“

Eine ungesunde Zuwachsrate an Normen wertet di vollziehenden

Organe zu reinen Subsumtions-maschinerien ab, das heißt, die einzelnen Richter und Verwaltungsbeamten stellen nur noch rechtlich relevante Sachverhalte fest und ordnen diese festgestellten und als erwiesen angenommenen Sachverhalte unter die dem Normenkatalog entsprechende abstrakte Bestimmung. Es gibt nicht den kleinsten Bereich eines freien Ermessens. Aus dem Wesen des Einzelfalls abgeleitete Lösungen werden verhindert und wirklichkeitsfremde Entscheidungen gefördert. Die Achtung der Staatsbürger gegenüber den Vollzugsorganen sinkt ständig. Die Vollzugsorgane selbst erleiden Einbußen an Arbeitsfreude und (vor allem menschlicher) Qualität. Werten wir den Berufsstand der staatlichen beziehungsweise öffentlich-rechtlichen Vollzugsträger wieder auf!

Theorie und Praxis

Schließlich müssen alle Normen, die nicht wirklich Aussicht auf ReaüstemngrfhabenV Vermieden werden. Zu viele Vorschriften gibt es bereits, die wohl als -Verlraltens-postulate existieren, bei denen aber die „allgemeine“ Meinung die Nichtbeachtung billigt oder sogar denjenigen, der diese Normen einhält, als wenig intelligent einstuft. Anderseits nehmen — in funktionaler Wechselwirkung zu dieser Erscheinung — die Behörden sehr oft von der Durchsetzung derartiger Normen Abstand. Das Argument, daß hier eben die Diskrepanz zwischen dem „Sollen“ und#dem „Ist“ sich größer erweist als bei anderen Gesetzen und Verordnungen, geht ins Leere: Wo nicht eine überwiegende Chance für die Einhaltung der Normen im Verhalten der Menschen gegeben ist, schadet die Norm mehr als sie nützt.

„Wo ist das geregelt?“

Eine Ermittlung der „unnützen“, ja sogar „schädlichen“ Normen ist selbstverständlich rechnerisch nicht einmal in einem Näherungsverfahren möglich. Heute aber werden der Gesetzesform völlig unwürdige Materien in Gesetzen verankert. Nicht durchsetzbare Regelungen werden in Rechtsverordnungen aufgenommen. Verwaltungsverordnungen — Weisungen und Erlässe — erschlagen die Unterbehörden in der Verwaltung und lähmen Eigenverantwortung und dem Einzelfall adäquate Lösungen. Durch die vielfach gestellte Frage: „Wo ist das geregelt?“ oder durch den Ruf: „Ja, gibt es denn hier noch keine Bestimmungen, warum machen die Verantwortlichen nichts!“ entfernt man sich auf leisen Sohlen immer weiter vom Ideal der Freiheit und flüchtet sich in eine oft trügerische normative Sicherheit.

Der notwendige Teil der Gesetzesund Verordnungszuwachsrate verbessert unser Sozialgefüge. Es liegt an allen, den Kampf gegen den schädlichen Teil, getragen vom Gedanken der Sachlichkeit, Personenwürde, Eflektuierbarkeit und des Wertes der Normen, aufzunehmen. Orientieren wir uns wieder mehr am kategorischen Imperativ Kants und bedenken wir, daß der Mensch das Maß der Rechtsnormen ist und diese nur dann das Maß für den Menschen sind, wenn sie am Natur-recht ausgerichtet, von Ausnahmen nicht perforiert und anwendbar sind.

t.

Und wieder geht ein Jahr zu Ende. Ein Schuljahr. Ein Arbeitsjahr. Das Parlament wird bald Ferien machen. „Das neue Jahr“ beginnt für viele Menschen in unserem Land nicht am 1. Jänner, sondern im Frühherbst. Nach der grohen sommerlichen Zäsur.

Ein Jahr geht zu Ende. Ein Schuljahr. Ein Arbeitsjahr. Millionen Menschen stürzen, fluten, eine riesige Menschenwelle, an die Gestade des Meeres, an die Ufer unserer Seen. Menschen aller Altersklassen, die die „Kunst, zu leben“ in der Schule, und in der Schule des Lebens nicht gelernt hoben. Mit Klagen, mit einem Bedauern, und gar mit Kritik ist es nicht getan, wird der große Notstand nicht behoben: die seelische Unler-entwicklung, die geistig-körperliche Unreife von sehr vielen Menschen aller Altersklassen, Rang-, Fahr- und Gehaltsklassen. Sie haben alle viel zuwenig mitbekommen in Schule, Familie, Berufsgesellschaft, um zu einem reifen, erfüllten Leben zu finden.

Auch unsere Zeitungen In Osterreich — sie berichten an sich wenig von rfem, was in der Welt heute vorgeht, manches aber berichten sie doch — schreiben darüber, wie da in Rom „Sexstars vor Gericht“ erscheinen müssen, wie da in Rom „die steigende Unmoral im italienischen Film“ zur Debatte gestellt wird. Es sind diesmal nicht die Linkskatholiken, denen eine Allianz mit den Kommunisten in die Schuhe geschoben wird, es zeigte sich plötzlich in allerbreitester Öffentlichkeit ein Allianz zwischen sehr rechtsstehenden Kreisen und parteikommunistischer Presse: Wie In einem Chor begann da die Kampagne gegen die „Unmoral im italienischen Film“.

Der Hintergrund ist hart: die Italienische Filmindustrie ringt schwer um ihre Existenz. Wenn man weif], wie viele Milliarden Amerika mit der „Sexbombe“ Rita Hayworth, wie viele Milliarden Frankreich mit Brigitte Bardo! — einstl — verdiente, wird man den Kampf um das grofje Geschäft zu würdigen wissen, der italienische Filmindustrielle mit einem halben Dutzend erstklassiger Filmstars zusammengeführt hat, In der Entklei-dungswelle.

Es ist kein Zufall: Ziemlich gleichzeitig begann Itt Deutschland 4 “ond Osterreich eine Kampagne gegen rfScWrmit*“ und- Schund*, gegen- die Überflutung unserer Jugend mit einem Schrifttum (wenn man das so nennen darf), mit einem Großaufgebot von Bildbüchern und Bildschritten, die den Ehrgeiz haben, das grofje Geschäft des amerikanischen „Playboy“ einzuholen.

Kampagnen dieser Art haben etwas Rührendes an sich. Sie erinnern mich an Sammlungen für das „Rote Kreuz“, an schönen Festtagen auch: man gibt da seinen Groschen oder Schilling, fafjt vielleicht auch den frommen Vorsatz, nächstesmal noch etwas mehr zu geben. Und tritt hinaus in eine Welt, die jährlich einhundertvierzig Milliarden Dollar zur Vorbereifung der „Endlösung' der Menschheitsfrage ausgibt — in der Rüstungsindustrie, tritt in eine Atmosphäre, die nicht nur an den Plakaf-wänden reizüberflutef ist.

Diese Bemerkung hier soll natürlich (natürlich heifjt hier: naturbezogen) nicht als ein ironischer Seitenhieb auf wohlmeinende Aktionen von wohimeinenden Gönnern und Freunden einer Verbesserung der öffentlichen Moral verstanden werden. Wohl aber als dies: als ein Hinweis auf die Tatsache, dafj das große Geschäft — der Kriegsindustrie, der „Vergnügungsindustrie“, der Reizstoffindustrie — sich durch kurzfristige Aktionen dieser Art nicht beeinflussen Iaht. Und daß der kranke Körper unserer Großgesell-schaft (zunächst der weihen Rasse) nicht durch Schönheitspflästerchen geheilt werden kann.

Die beiden hängen nämlich zusammen: die Bombe und die Sexbombe.

Hinter der sogenannten „Genußsucht“ steht ja dies: die Millionen Menschen, die Lebensangst, Liebesangst, Todesangst. Man spricht nicht von der Verzweiflung, wenn man in ihr lebt. Die Verzweiflung von Dichtern, von Philosophen und Literaten isi eine andere Sache. Das grofje Geschäft mit der Angst, mit der latenten, un-eingestandenen, uneinbekannten Verzweiflung — einer stillen Verzweiflung, nie „gelebt“ zu haben —, belebt sich ja eben durch die Ablenkungen, die es vorzustellen und darzubieten hat.

4.

Also dies: Wer sich zu Hause zerarbeitet, die Zeit und Lebenskraft zerreibt, soll rasche Gelegenheit haben, durch ein Verreisen die

Selbstkonsumierung, den Selbstverzehr mit anderen Mitteln möglichst „abwechslungsreich“ fortzusetzen. Für den „Urlaub“, für die „Freizeit“ stehen ja, zu allermeist, nur dieselben Mittel zur Verfügung, wie füi den Alltag: dieselben seelischen, geistigen Mittel. Der heutige Urlauber begegnet im Urlaub in Griechenland, Italien, Spanien, Rumänien, Jugoslawien nicht anderen Welten, sondern sich selbst. Seine Optik verändert sich nicht. Er gleicht — wie oft ist mir dies in den letzten zwölf Jahren aufgefallen, wenn ich unfreiwillig Gespräche am Strand mithörte — fatal dem Landser, dem Soldaten der Wehrmacht im letzten Krieg: der, wohin immer er kam, an der Küste der Nor-mandie, in Griechenland, im besetzten Belgien, überall sich selbst vorfand. Und mit wenigen Worten, mit wenigen Blicken die Dürftigkeit seiner Existenz sich selbst darbot. ..

Unfruchtbar. Menschlich, unergiebig, seelisch unergiebig, geistig dürftig: die „erholte“ Menschenwelle flutet dann, in riesigen Rückstauungen und Rückflutungen, auf den grofjen Strafjen wieder zurück. Braungebrannte, gesunde Leiber, in denen, wie Fledermäuse in alten Dachkammern, eingerollte Kümmerformen von Seelen und vielleicht ein kleiner Knäuel unguter Geister hängen.

Mit denselben Worten, mit denselben Gebärden wird, nach der langen Neujahrsfeier In den grofjen Ferien, das alte Jahr, das alte Leben fortgesetzt.

Wenn wir also alljährlich nach den grofjen Ferien, in denen Parteipolitiker mit guten Wünschen und Versprechungen (wie etwa hinsichtlich der Rundfunk- und Fernsehreform) auseinandergehen, uns wiederfinden, dann entsprechen die Wiederholungen der alten Taten, der alten Finten, der alten Listen, der alten Taktiken, entspricht der „neue Beginn“ des politischen Lebens dem „neuen Beginn“ des täglichen Lebens der Millionen von Steuerzahlern, die sich eben die ihrem ewig alten Leben entsprechende Erholung geleistet haben — und sich Ihren Nationalrai leisten: gebildet aus Lebensgenossen ihrer Art.

5.

Regeneration: das wäre schon viel, Wer wagt es heute noch im Ernst, von Reform oder Reformation, von Wiedergeburt, neuem Anfang zu sprechen? Die „Gesinnungsreform', die „Sanierung der Seelen*, von der “man einst gesprochen hat, findet nicht statt,

Regeneration: das wäre schon viel. Sie würde eine Lebenspolitik der „kleinen Schritte“ bedeuten. Und würde praktisch etwa so aussehen: das Gros unserer Politiker, die es mit dem alten Hindenburg halten, der stolz bekannte, seit seiner Kadettenzeit kein Buch (aufjer dem preußischen Exerzierreglement) mehr in die Hand genommen zu hoben, würden sich im Urlaub die, zugegebenermaßen, etwas strapaziöse Erholung gönnen, ein (ein einziges!) Buch zu lesen, zu studieren, das dem Erfahrungsbereich eines politischen, weltanschaulichen Gegners zugehört. Junge Frauen oller Altersklassen würden sich einen der großen klassischen Liebesromane der Weltliteratur vornehmen — die ja alle von der schönen und großen Kunst der Erziehung, der Erziehung des Mannes durch die Liebeskraft der Frau, handeln. Für Frauen und Männer, die im öffentlichen Leben stehen oder in der Industrie oder in Berufen, die starke mitmenschlichs Engagements erfordern (Lehr- und Führungsberufe aller Art) würde sich, im Sinne dieser Lebenspolitik der kleinen Schritte, empfehlen, zur Pflege der seelischen Hygiene, im Urlaub, sich allein die Zeit zu nehmen, sich innerlich mit diesem und jenem Menschen auseinanderzusetzen, der eben, als Konkurrent, Vorgesetzter, Mitarbeiter, Untergebener uns im Alltag ein besonderes Maß von Anstrengung abverlangt. Vielleicht würde ein so in der eigenen Brust, am Strand des Meeres, am Gestade eines Sees, im freundlich verregneten Gebirgsort, vorgeleistetes Gespräch im Herbst oder später, doch vor dem Winter unseres Lebens, sogar zu einer persönlichen Begegnung führen ...

Nicht auszudenken Ist dies, wenn man sich das konkret vorstellt: die Realisierung einer Lebenspolifik der kleinen Schritte, vollzogen in der bewußt geleisteten Stille, in jener Sprachlosigkeit, in der allein Worte und Werte des Lebens der Tiefe abgerungen werden — vollzogen in einigen Tausenden, in Millionen Menschen inmitten der Menschenwelle dieser Urloubssaison,

In diesem Sinne wünsche ich den Lesern der „Furche' erholsame Ferien, Ferien nicht vom Ich, sondern Ferien, die zum Ich führen. Die Leser der „Furche' und die anderen natürlich auch.

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