6541898-1946_45_06.jpg
Digital In Arbeit

Der Arbeiterbürger

Werbung
Werbung
Werbung

Österreich ist gottlob kein Land, in dem die industriellen Riesenbetriebe das Bild beherrschen: unser Wirtschaftsleben zieht im Gewerbe den Kleinbetrieb, in der Industrie den Mittelbetrieb vor. Dennoch hat auch bei uns die Saugkraft des städtisch-industriellen Lobens jahrzehntelang viele hunderttausende Menschen aus gefestigter Umgebung herausgerissen und in völlig veränderte Verhältnisse hineingeworfen. Wenn auch abgeschwächt, ist dieser Prozeß noch im Gang und nicht einmal die arge Verschlechterung der Wohn-und Ernährungszustände in der Gegenwart vermochte diesen Sog gänzlich auszuschalten. Wenn also die Binnenwanderung in Stadt und Industrie nicht mehr den Massen-umfang aufweist, der einst beängstigend wirkte, so sind doch die Gefahren geblieben, denen, ohne Schaden zu begegnen, die Zu-wanderer selten gerüstet sind. Der Verlust der gewohnten Umwelt und traditionellen Ordnung macht sie sehr empfänglich für das Neue, dem sie fast kritiklos gegenüberstehen. In ihrer Unsicherheit und Anpassungssucht nehmen sie fast gierig in sich auf, was Reklame, Presse, Film, Schlagworte und Reden der neuen Umgebung in sie hinein-schreien, sie merken kaum, wie rasch sie in einer formlosen grauen Masse unterzugehen drohen. Viele der eingesessenen Arbeiter haben bereits einen Abstand zu den verwirrenden Dingen gewonnen und lassen sich nicht mehr so leicht überrumpeln, zahlreiche ihrer Schicksalsgefährten jedoch, vor allem die ungelernten neueren Zuwanderer, verfügen noch zu wenig über die inneren Ab-wehrkräfte, deren Besitz eine Voraussetzung der geistigen Freiheit ist. Wir alle kennen die unglücklichen Typen, die das Produkt der Proletarisierung sind, dieser sozialen Heimsuchung im Zeitalter der Industrie, und niemand von uns darf sich der Gewissensfrage entziehen, wie dieses gefährliche Übel überwunden werden kann.

Der Krieg hat große Teile der Industrieanlagen zerstört. Ihr Wiederaufbau, beziehungsweise Umbau muß jenen Forderungen entsprechen, die eine Entproletarisierung des Industriemenschen ermöglichen. Auch der arbeitende Mensch sehnt sich nach Heimat-boden, in dem er neue Wurzeln schlagen kann. Das gelingt nicht dem Bewohner freudloser Mietkasernen, nicht dem Kostgänger und Bettgeher einer der üblen Lichthofwohnungen, wohl aber dem Besitzer eines freundlichen Heims, das ihn wieder mit dem stillen Glück des Feierabends beschenken kann, in dessen Garten er — als letzten Rest unserer gemeinsamen Urtätigkeit — anbaut und erntet, seien es auch nur anspruchslose Gemüsepflanzen und bescheidene Blumen. In ihnen spürt er den Rhythmus des natürlichen Lebens, das Wachsen und das Vergehen. Hier umfängt ihn entspannende Ruhe nach den Stunden mühevoller Arbeit im harten Takt der Maschinen. Reicht aber der Raum unserer Städte aus, um Ein- und Mehrfamilienwohnheime mit Garten zu planen?

Der Krieg hat mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt, wohin die Anhäufung von Menschenmassen führen kann. Eine der Folgerungen ist die Auflockerung der Stadt und Industrie. Bedenken wirtschaftlicher Art dürften sich nur für die Schwerindustrie mit dem notwendigen Umschlag von Massengütern ergeben. Diese Industriegruppe ist bei uns nur schwach vertreten. Die Struktur der heimischen Wirtschaft wird sich zufolge der Rohstoffknappheit wesentlich in der Richtung lohnintensiver Veredelungsprozesse entwickeln müssen. Die gebotene Ausnützung der Wasserkräfte gibt der elektrischen Energie einen Vorsprung gegenüber der kohlenabhängigen Dampfkraft. Die mit elektrischer Fremdenergie ausgerüsteten Werke sind in der Wahl ihres Standortes beweglicher. Selbst der für die Schwerindustrie unentbehrliche Gleisanschluß kann in vielen anderen Fällen durch Stichanschluß an Autostraßen ersetzt werden. Zogen einst die Menschen zur Industrie, so vollzieht sich jetzt der entgegengesetzte Vorgang, die Industrie wählte ihren Standort nach dem Angebot von Arbeitskräften. Betriebswirtschaftliche Untersuchungen haben für viele Industriegruppen die ÜberlegenheitdesMittelbetrie-b e s gegenüber dem Großbetrieb ergeben. Vieles deutet darauf hin, daß Betriebe mit 500 Mann ein Optimum bedeuten und daß es zweckmäßig ist, Betriebe, die im Hinblick auf ihren Fertigungsvorgang dieser Beschränkung nicht unterworfen werden können, in Teile entsprechender Größenordnung aufzugliedern. Aber auch von der städtebaulichen und gemeindewirtschaftlichen Seite ist die Tendenz zur Mittelstadt mit etwa 50.000 Einwohnern unverkennbar, eine Tatsache, die auch bei der Neuplanung von Städten in England beobachtet werden kann.

Die fremden Menschen müssen die neue Umwelt als ihre Heimat kennen lernen. Vieles ist anders als auf dem Lande, manches Abstoßende kann auch nicht sobald geändert werden. Doch hat auch die Industrielandschaft ihre offenen und verborgenen Schönheiten. Sie zu suchen und aufzuzeigen ist wichtige Aufgabe der Heimatkunde und Heimatpflege. Noch gibt es zwischen den Werken und Wohnungen blumige Wiesen und grüne Raine, noch schaukeln die bunten Falter von Blüte zu Blüte, hier in der dämmrigen Halle fließt glühendes Eisen sprühend in seine Form, dort eilt das Schiffchen rastlos webend durch die Kette, befehlen schwache Menschen durch leisen Fingerdruck den schwersten Maschinen sich zu bewegen und Arbeit zu leisten, Bilder ungestörter Natur, gebändigter Kraft, Bilder des Menschen als Beherrscher der Materie und der Maschine. Wenn dafür der Sinn der Menschen erschlossen ist, dann beginnt er auch diesen Flecken Erde im Schlagschatten der Werkshallen zu lieben, dann wird er ihm Heimat.

Außer der räumlichen Sicherung seiner Existenz muß der Industriearbeiter auch für das geistige Leben der Stadt gewonnen werden. Wissenshunger und Streben nach Fortbildung werden durch den starken Besuch von Kursen und Vorträgen aller Art durch die werktätige Bevölkerung bezeugt. Mag auch der Glaube an die Macht des Wissens und Könnens und das Streben nach gehobeneren Stellungen die stärkste Triebfeder für die Nutzung der gebotenen Fortbildungsmöglichkeiten sein, so bietet dieses im allgemeinen nach der Breite gerichtete Wollen doch auch Ansatzpunkte für T i e-fenwirkung. Presse, Buch, Rundfunk und vor allem Filme sind auch heute noch von nachhaltigstem Einfluß. Der fühlbare Mangel an hochwertigen Filmen stellt eine bedauerliche Lücke insbesondere in der Erziehung des jugendlichen Arbeiters dar. Erst in größerem Abstände folgen Theater und Konzert als Quelle von Entspannung und Anregung, doch hat die Hausmusik auch schon vielfach in die jüngeren Kreise der Werktätigen Eingang gefunden. Es würde nicht hinreichen, bei der Erziehung zum Genuß der Kulturgüter stehen zu bleiben, darüber hinaus müssen die schlummernden schöpferischen Kräfte geweckt und zu eigenem Kunstschaffen angeregt werden.

Jede tiefere Teilnahme am Kulturleben setzt eine bestimmte wirtschaftliche Daseinssicherung voraus. Der Mensch, der täglich in der Sorge um das Notwendigste lebt, kann nur in den seltensten Fällen Kräfte freimachen für Dinge, die darüber hinausgehen. Die gerechte Entlohnung deckt sich nicht mit dem Existenzminimum. Durch den Leistungslohn sind die Einsatzbereitschaft und das Können des Mannes berücksichtigt, durch den Familienlohn muß auch die Möglichkeit einer entsprechenden Kindererziehung gegeben sein. Immer klarer ringt sich auch in Unternehmerkreisen die Auffassung durch, daß die Gewinnbeteiligung der Arbeiterschaft berechtigt und erfüllbar ist. Nicht nur das bereitgestellte Kapital, auch die eingesetzte Arbeiskraft ist Teilursache des geschäftlichen Erfolges, insbesondere soweit es sich um betriebswirtschaftliche Gewinne handelt. Dadurch wird es dem sparsamen und eifrigen Arbeiter möglich werden, sein Heim als Eigentum zu erwerben, die Unsicherheit der Wohnung zu bannen und die Familie vor Rückschlägen zu schützen, wie sie in jeder Wirtschaft unausbleiblich sind. Mögen auch die sozialen Gesetze kaum den ganzen

Spielraum verschuldeter und unverschuldeter Rückschläge umfassen können, das Grundgerippe müssen sie abgeben. Darüber bleibt noch ein weites Feld für die Akte persönlicher Hilfsbereitschaft, für die Karitas.

Bis zu einem bestimmten Grad mag es möglich erscheinen, durch die Werke der Kunst und Kultur auch für das Religiöse Verständnis zu wecken, am wirksamsten aber bleibt das gelebte Beispiel. Mehr als jeder andere Mensch ist der Industriearbeiter geneigt, die Richtigkeit einer Lehre oder Behauptung durch scharfe Beobachtung zu überprüfen. Das hängt mit der Technik zusammen, aus deren Gedankenwelt er täglich schafft, die es gewohnt ist, die Güte ihres Erzeugnisses durch die Probe zu beweisen. Es ist naheliegend, daß der Industriemensch diesen Gedanken auch auf das Geistige und Religiöse überträgt, sich wie ein sachlicher Beobachter seitwärts stellt und nun genau registriert, was jene tun, diesich Christen nennen. Ob cu gestalten, oder ob sie weiterhin neben dem Räuber Mensch nur die Maske eines Christen zur Schau tragen. Die gewaltige Not nach dem blutigsten Ringen der Ge-ichichte wirkt nach, die Welt steht ratlos, -nanches Wahngebilde ist zerfallen. Auch das arbeitende Volk merkt, daß viele der :inst vorgesetzten Schlagworte leer geworden sind. Drängend steht die Frage nach der Zukunft und nach der Kraft, die dieses

Chaos zu ordnen vermag. Wiederholt kommt auch aus dem . Munde führender Männer der Arbeiterbewegung, besonders des Auslandes, das Wort von der gestaltenden Kraft des Christentums. Die Frohbotschaft der Liebe erscheint auch schon für weite Kreise der Arbeiterschaft als das letztmögliche Ordnungsprinzip dieser Welt.

So steht vor uns das Bild eines Arbeiters, der sich vom Proletenwesentlich unterscheidet. Jener Menschentyp, der nach einer oft genug stürmisch verlaufenen Gährungsperiode unserem städtischen Leben sein Gepräge aufdrücken wird. Wenn er Arbeiterbürger genannt wird, dann mag der Klangleib des Wortes dem Inhalt nicht gerecht werden. Der Arbeiterbürger ist keine Zwitterstellung zwischen Arbeiter und Bürger, er ist etwas Neues, wie die Industrie etwas Neues und anderes ist als das Gewerbe, dieser Hort des alten Bürgertums. Vielleicht prägt einmal einer unserer Sprachgewaltigen das neue Wort, das jenen Menschen umreißt, der uns als Hochbild des Werktätigen unserer Zeit vor Augen schwebt, jenes Menschen, der sich der Industrie mit ihrem Licht und Schatten verpflichtet fühlt, der Wurzel geschlagen hat in diesem neuen, oft genug steinigen Boden, der aber emporstrebt in rastlosem Bemühen um die kulturellen Werte seines Volkes, der in begnadeten Fällen selbst zum Kulturschöpfer wird, der hineinwächst in die Welt des Übernatürlichen und der Gnade. Dieser Mensch ist keine abstrakte Gedankenkonstruktion, kein Traumbild mehr, e r lebt mitten unter uns, noch spärlich verteilt auf Hunderttausende, aber schon als leuchtendes Beispiel für den neuen Stand. Wir sahen ihn als Herrn der Maschinen, nicht als deren Sklaven, wir erkannten ihn als den hilfsbereiten Arbeitskameraden wieder, wir freuten uns mit ihm im kreise seiner trauten Familie, er verdemütigte uns mit seiner Lebensweisheit und er überwand diese Welt in der Innigkeit seines Glaubens.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung