7008761-1987_51_25.jpg
Digital In Arbeit

Die Botschaft der Stille

Werbung
Werbung
Werbung

In den letzten Jahren ist die Sehnsucht nach der Stille stärker geworden. Die zumeist jungen Leute, die Wälder und Felder durchwandern, Wasserfälle und Auwälder schützen, sehen sich als Bewahrer von Naturkräften, wollen sich aber auch dem Lärm der Großstadt entziehen. Wie zu Zeiten des Horaz ist das Leben in ländlicher Abgeschiedenheit zur Mode, zuweilen zum kultischen Akt geworden. Die Warenhäuser locken mit naturbelassener Nahrung; die Trauminseln der Prospekte der Reisebüros zeigen menschenleere Sandstrände. Einfachheit lautet die Parole. An einem Höhepunkt der technischen Zivilisation angelangt, von Segnungen des Wohlstands umgeben, tritt der moderne Mensch den Rückzug an.

Die Ursachen der Regung sind mannigfaltig, ihre zugespitzten Erscheinungsformen zuweilen grotesk. Dennoch sind das Streben nach geistiger Vertiefung, auch die Bereitschaft zu einem Neubeginn im Zeichen der Innerlichkeit nicht zu verkennen. Die Hoffnung, allein durch die perfekt geregelten Funktionen der materiellen Welt könnte, .gleichsam automatisch, menschliches Glück entstehen, ist zerronnen; die Erwartung richtet sich auf ein Erlebnis spiritueller Art.

In der säkularisierten Gesellschaft wird der Zusammenhang zwischen solcher persönlicher Heilserwartung und der Botschaft des Weihnachtsgeschehens von den meisten nicht begriffen. Die Geburt Jesu gibt dem Gläubigen die Gewißheit, daß die Menschheit durch die Erlösung neu geboren wird, daß sie sich, auf das Heil zustrebend, durch Christus in einem ständigen Prozeß der Läuterung befindet, daß der einzelne, in seinem Ringen um Gnade, jenen Zustand inneren Friedens erreichen kann, den die Ungläubigen in ihren Landhäusern und auf ihren Trauminseln vergeblich suchen. Die Sehnsucht nach Stille, das Streben nach einfachem Leben, die Hoffnung auf das Wiederfinden der eigenen verschollenen Seele sind allerdings Zeichen eines dumpfen Dranges nach Religiosität.

Das Weltbild des totalen Materialismus trübt vorerst die Sicht. Die meisten Menschen der säkularisierten Gesellschaft müssen, ihrem einseitig gewordenen Bewußtsein gemäß, zur Uberzeugung gelangen, ihre Unruhe könnte allein durch die Anwendung materieller Mittel beseitigt werden. Sie sind es gewohnt, sich bei Fernweh auf das Automobil und bei Kopfweh auf die Chemie zu verlassen. Sie sind nicht mehr in der Lage, im seelischen Wohlbefinden eine mit dem körperlichen Zustand zwar verbundene, aber doch eigenständige Qualität zu erkennen, sehen nicht den Weg, sondern geraten auf einen Irrweg, der nicht ans Ziel führen kann, allerdings exotische Erlebnisse bietet. Nicht die seelische Existenz selbst wird erneuert, sondern bloß die Szenerie gewechselt in der Hoffnung, eine zeitweilige Verlagerung des Lebensbereiches würde den Seelenzustand nachhaltig verändern. „Wir wollen über uns hinaus, weil wir nicht begreifen, was in uns ist, doch wir mögen noch so sehr auf Stelzen steigen, auch auf Stelzen müssen wir mit unseren Beinen gehen, und auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir doch nur auf un-serm Hintern“, notierte dazu um 1580 der weise Michel de Montaigne.

Unter den Ursachen, die den modernen Menschen in seiner Suche hach der Neuen Einfachheit bewegen, ist die Angst nicht die minderste. Noch lagern die Nuklearwaffen in ihren unterirdischen Silos, und die Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki ist nicht erloschen. Die Katastrophe von Tschernobyl hat das Gefühl der Bedrohung noch gesteigert. Die Mechanismen der Technik und der Geldwirtschaft sind unbegreiflich geworden; die Neuentdeckungen der Biochemie rufen zwar Erstaunen hervor, können aber, was die Abläufe betrifft, von den allermeisten nicht verstanden werden; selbst die Funktionsweise einer kleinen Rechenmaschine oder eines Fernsehgerätes bleibt undurchschaubar. Täglich werden Apparate betätigt, deren Nützlichkeit wohl erfahren, deren Wesen aber nicht erfaßt werden kann.

Der moderne Mensch ist von Geheimnissen umgeben. Er fühlt sich ununterbrochen Kräften ausgesetzt, die seinen Alltag formen und zum Teil sein Schicksal bestimmen, doch bleiben all die technischen Hilfsmittel ebenso rätselhaft wie die komplizierten soziologischen Wechselwirkungen der Arbeitsteilung, die die hochentwickelte Industriegesellschaft am Leben erhalten. Das wirkt beängstigend.

Ein weiterer Grund für die Sehnsucht nach Stille und Natürlichkeit liegt in der Naturferne städtischen Lebens und im Wohlstand selbst. Er führt zu Ubersättigung und Überdruß. Geistige Strömungen dieser Art haben die Europäer immer wieder in Unruhe versetzt. Auf dem ersten Höhepunkt der Blüte städtischer Renaissancekultur im 14. Jahrhundert fühlte sich Petrarca von der Natur so sehr angezogen, daß er lange Fußwanderungen unternahm. Staunend wird berichtet, daß er einen Berg bestieg, nur um den Anblick der Landschaft zu genießen. Zweihundert Jahre später, während des ersten Aufbruches in die Industriegesellschaft und der Entstehung der großen Städte, versuchte Jean-Jacques Rousseau die Verderblichkeit der Bildung nachzuweisen und seine Zeitgenossen zur „natürlichen Empfindung“ zurückzuführen. Nicht nur Marie Antoinette, sondern auch der Freund Kaiser Josephs IL, der Graf Franz Moritz Lacy, errichteten in diesem Geiste ihre Hame-aus, künstliche Dörfer, in denen sie „nach bäuerlicher Art“ naturnah verweilen konnten. Von der gleichen Leidenschaft wurden gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in Rußland die Jünger Tolstois erfaßt. Die zu Mystizismus neigenden, um die Rückkehr zur Einfachheit ringenden Ideen des großen Romanciers ließen eine Sekte entstehen, deren schwärmerisches Lebensgefühl mit der Zeit auch in der revolutionären Tat ein festes Programm fand.

Nicht nur im Falle der Tolstoia-ner macht sich ein politisch wirksames Element bemerkbar. In der Nachbarschaft des Wohlstandsbürgers, der im ländlichen Milieu seinen Zweitwohnsitz errichtet, lassen sich Menschen nieder, die die Wohlstandsgesellschaft verlassen wollen. Ihr Rückzug ist ein verschleierter Akt der Auflehnung. Kein Wunder, wenn im politischen Leben Naturschützer und

Anhänger des radikalen Umsturzes zuweilen seltsame Allianzen bilden.

Gemeinsam all diesen Regungen ist die Sehnsucht nach einem Neubeginn. Sie versuchen, die Wurzeln der persönlichen Existenz freizulegen, zum Urwüchsigen zurückzufinden, das Bewußtsein von den allzu festen Pflichten und bedrängenden Ängsten des Alltags zu befreien, wirkliche oder vermeintliche Bedrohungen abzuwenden. Das Widersprüchliche, ja Lächerliche, das manchen dieser Versuche anhaftet, wird im Hochgefühl des neuen Aufbruchs verdrängt.

Das mit allen Finessen der Technik ausgestattete Landhaus soll durch alte bäuerliche Gerätschaft, die als Wandschmuck verwendet wird, eine rustikale Atmosphäre erhalten; der Tourist, der mit dem Düsenflugzeug seine einsame Küste erreicht hat, stärkt sich an naturnaher Kost; Naturschützer, die gegen die schädlichen Auswirkungen der Abgase demonstrieren wollen, fahren mit dem Auto zur Sammelstelle ihres Aufmarsches. Die Hybris könnte größer nicht sein; dennoch tritt in all den sonderbaren, zuweilen verschrobenen Erscheinungen, in all den windschiefen Debatten und theatralischen Selbstinszenierungen, in all den klugen öder törichten Modellen einer angestrebten neuen Lebensform ein elementares menschliches Gefühl zutage: die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies.

Die Stimme, die hier ertönt, ist unüberhörbar. Der moderne Mensch hat bisher alles unternommen, um ihr zu entfliehen. Mit Hilfe der Tonbänder und der Schallplatten, des Radios und des Fernsehers erzeugt er ununterbrochen Musik, Monologe, Dialoge, Geräusche verschiedenster Art, begibt sich in einen akustischen Urwald, dessen ständiges Dröhnen, Knarren und Rauschen das Bewußtsein vernebelt. Aber die erhoffte Wirkung bleibt aus. In den seltenen Augenblicken der Selbstbesinnung macht sich ein Gefühl des Unbehagens bemerkbar. Die Selbsttäuschung erreicht ihre Grenzen; mit einem Mal verliert sich die Sicherheit einer aus falschem Stückwerk errichteten materiellen Ordnung; was sich nun dem Empfinden mitteüt, ist ein jähes Erkennen: Jenseits des Lärms, der flüchtigen Freuden der Sinne, jenseits der Sorgen der Armut oder des Wohlstands muß es noch etwas anderes geben.

Die Wahrnehmung ist stark, die Botschaft unmißverständlich. Sie betrifft einen Zustand der inneren Freiheit, die im Gleichklang der Dinge endlosen Raum findet und zugleich sichere Verbundenheit mit einem größeren Ganzen. In solchen Sekunden setzt die Sehnsucht nach Stille ein.

Diese Stille ist nicht einfach der akustische Zustand, der eintritt, sobald uns kein Ton und kein Geräusch mehr erreichen. Das Schweigen der äußeren Welt läßt die Sprache der inneren vernehmen. Stille gibt uns Gelegenheit, uns selbst zu begegnen. Wer nach innen lauscht, vernimmt im Rhythmus der Herzschläge auch jenes andere, ferne Pulsieren, das den eigenen Blutkreislauf mit einem größeren Kreislauf verbindet.

Die Wahrnehmung rührt am Gefühl, setzt den Geist in Bewegung. Seine Suche richtet sich auf die Harmonie zwischen Kosmos und Individuum. Die innere Stimme, die in solchen Minuten ertönt, kennt keine Worte. Bilder, Empfindungen, Schatten von Gedanken streifen das Bewußtsein, doch bilden sie gemeinsam ein Ganzes, dem es an Eindeutigkeit nicht fehlt. Die Selbstprüfung, die nun einsetzt, ist sanft und unerbittlich, ihr Ergebnis entscheidend: Des Menschen Verbindung zum Göttlichen ist selbstverständlich.

Das haben bereits die ersten Kulturen erkannt. „Nur in Umkehr und Ruhe liegt eure Rettung, nur Stille und Vertrauen verleihen euch Kraft“, dieser Satz des Propheten Jesaja aus dem 8. Jahrhundert vor Christi war Ausdruck alter Gotteserfahrung.

Die Suche nach dem verlorenen Paradies ist der menschliche Versuch, auf die Botschaft der inneren Stimme eine Antwort zu finden. Deshalb wurde das Experiment immer wieder gewagt. Die Geschichte erinnert in dieser Hinsicht an ein einziges grandioses Laboratorium, in dem Heilige und Scharlatane, Genies und Verbrecher, oft auch mittelmäßige Menschen und kleine Tagediebe am Werk sind. Immer wieder ist der Augenblick der ursprünglichen Inspiration, jener Zustand der sprechenden Stille vergessen worden, und man ging daran, das Stoffliche vom Geist zu trennen und allein durch Neuordnung von Gesellschaft und Materie weltliche Paradiese zu errichten.

Doch die Sehnsucht danach, was wir sein könnten, was wir in der Tiefe der Seele sind, erwacht immer wieder. Mißlungene Experimente hindern den Menschen nicht, nach dem Anteil, der an ihm göttlich ist, rastlos zu suchen. Der Weg führt in die Welt und zugleich nach innen: zu den Augenblicken der Stille, in denen wortlos die Botschaft ertönt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung