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Neuland der Seele

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Der Naturalismus ersetzte seit Zola gerne das seelische Erlebnis durch das Gewehe der physischen Eindrücke und physiologischen Triebe. Nicht nur die materialistische Weltanschauung eines vergehenden Zeitalters brachte das mit sich, sondern die ganze allgemeine Tendenz der Literatur, die immer danach trachtete, sich an die konkrete und sichtbare Körperlichkeit zu heften. Das größte Ereignis der „neuzeitlichen Weltliteratur“ ist vielleicht die unerwartete Ausweitung des Themenbereiches, die die Literatur durch die Entdeckung des seelischen Lebens erfuhr.

Bei der Erschließung dieser verborgenen Welt kam die moderne Psychologie sehr gelegen; sie zeigt auch unter der glatten Oberfläche des ruhigsten Geistes seltsame Untiefen auf. Der Psychiater sieht zwischen dem normalen Geistesleben und dem Irrsinn keinen wesentlichen Unterschied mehr. Heute zählt der Verrückte nicht länger zu einer besonderen Menschengattung, wie das noch in der Welt der romantischen Literatur der Fall wir. Und wie Wahnsinn und Vernunft, Traum und Wirklichkeit ineinanderfließen, weitet sich wieder wunderbar die Möglichkeit des seelischen Lebens. Die neuen Entdeckungen auf dem Gebiete der Psychopathie, ja sogar der Metapsydiologie haben dem Schriftsteller von heute eine neue Welt eröffnet; denken wir etwa an Schriftsteller wie den jungen Julien Green. Die überraschendste Erweiterung aber brachte die Lehre Professor Freuds, die Psychoanalyse. Freud ließ uns auf den dunklen Hintergrund unseres Seelenlebens aufmerksam werden, auf die gefährliche Masse der verdrängten Vorstellungen, auf das verräterische Typische unserer Träume und unserer unbewußten Handlungen. Seine Lehre wirkte vielleicht auf die Schriftsteller noch mehr als auf die Wissenschaftler. Man vermag wohl kaum eine, wenn auch noch so skizzenhafte Abhandlung über die neuzeitliche Weltliteratur zu bringen, ohne den Namen des Wiener Arztes zu erwähnen. Neben ihm muß indessen auch noch der Pariser Professor genannt werden, der unsere Begriffe der Zeit umformte. Bergson, selbst auch ein großartiger Schriftsteller, hatte auf die Literatur einen noch größeren Einfluß als Freud; nicht nur mit seinem gegen die mechanistische Weltanschauung gerichteten Kampf, der die Metaphysik wieder befreite und das philosophische Denken mit dem lebensanbeterischen und mystischen Sehnen des modernen Geistes in Einklang brachte. Er wirkte auch unmittelbar, und zwar auf jene Kunstgattung, die zweifellos die bedeutendste der neuzeitlichen Literatur ist, auf den Roman. Die besondere Relativität der seelischen Zeit, das Verhältnis von Erlebnis und Zeit, wurde seit Bergson Gegenstand der Aufmerksamkeit in der Literatur. Die Schilderung der lebendigen Zeit, die Einbeziehung der Erlebnisse in die Zelt als ein das5 Wesen der Romanliteratur berührendes Problem, trat jetzt ins Bewußtsein. So wurde jene wunderbare Synthese der Erlebnisse eines Menschenlebens möglich, die Prousts großer Roman auf den Spuren der verlorenen Zeit gleich am Anfang des Zeitalters der neuzeitlichen Literatur gab,

Dieser eigenartige Roman von riesigem Ausmaß stellt nicht einfach bloß ein autobiographisches Werk dar. Proust betastet den lebendigen Mechanismus seiner eigenen Vergangenheit und beschwört dessen Schwung herauf. Sein Werk hat eine spezifische Skala, von der Lyrik bis zur Abhandlung. Er schreckt vor nichts zurück, er sieht jedem Erlebnis ins Auge, bis zum allergewöhnlich-sten; aber seine Haltung ist anders. Proust war ein 'kranker Mensch, und nach einer glänzenden, aber kurzen gesellschaftlichen Karriere verbrachte er lange Jahre in seinem korkgepolsterten Zimmer, abgeschlossen von jeder äußeren Wirklichkeit, allein mit der Analyse seiner Erinnerungen. Diese Analyse ist gleichzeitig Rekonstruktion; nicht Geschichtsschreibung, sondern Neuerleben, ein Versuch, die seelische Zeit in ihrer ganzen Kompliziertheit wieder heraufzubeschwören. Das wirkliche Thema und Objekt ist die Zeit selbst, die alles Menschliche flutartig mit sich reißt. Proust zeichnet nicht ein Panorama wie Balzac, sondern schürft in die Tiefe. Er betrachtet mikroskopisch. Aber die innere Wirklichkeit ist ja mikroskopisch. Die Dimensionen der Seele gehen nicht in die Breite oder Länge, sondern in die Tiefe. Der Proust-sche Roman durchquert in dieser Richtung den Menschen und die Gesellschaft und ist vielleicht in seiner monumentalen Geschlossenheit eher als der große enzyklopädische Spiegel der Epoche anzusehen als Balzacs Menschliche Komödie.

Ein derartiger enzyklopädischer Roman ist auch „Der Zauberberg“ von Thomas Mann; auch er wird es durch seine Art, die Relativität der Zeit sinnfällig zu machen. Nur so ist es möglich, ein Leben zu einem einzigen Augenblick zu verdichten, das geistige Wirrsal einer ganzen Epoche auf einen bewegungslosen Punkt zu projizieren. Wo sich die Auffassung über die Zeit so verändert, muß sich auch die

Komposition des Raumes wandeln. Die Zeit Ist nicht mehr starrer Maßstab, sondern lebende, fließende Wirklichkeit. Bewußt suchen die Romanschriftsteller die neue Komposition, die sich dieser Anschauung anpaßt. Der neuzeitliche Roman ist in seiner besten Schöpfung nur Gärung und Experiment; ob-zwar die vielerwähnte Krise dieser Kunstgattung vorläufig nur von den Schriftstellern empfunden wird. Dieses Krisengefühl entsteht vielleicht gerade durch die erwachte Bewußtheit. Die Romane laufen oft in Essays aus und enthalten ihre eigene Ästhetik und Kritik.

Die Engländer, die weniger an kompositionsmäßige Uberlieferungen gebunden sind, experimentieren noch freier. Ihre Literatur ist reine Reaktion gegen die bürgerliche Ruhe der Viktorianischen Epoche, gegen ihre strenge Schamhaftigkeit und ihre hochmütige Vollkommenheit. Sie werfen das indiskrete Licht der neuen Seelenkunde am liebsten in verbotene Heiligtümer, in das Reservat der Sexualität, wie Lawrence, oder in das verfängliche Gebiet der Geschichte, wie Szrachey. Aus dem historischen Roman macht Szrachey eine ironische und illusionsraubende psychologische Biographie, die natürlich als modische Zeitkunstgattung, Leichtkultur, geschichtliche Reportage auf den Kontinent gelangt. Man sieht den englischen Schriftsteller mit der Vergangenheit und Gegenwart förmlich spielen. Virginia Woolf führt einen einzigen Helden durch die Jahrhunderte oder stellt in einem Querschnitt von 24 Stunden ein Menschenleben vor. Huxley gruppiert seine Gesalten und Geschichten entsprechend den Grundsätzen der Dialektik und des Kontrapunktes. Die experimentierende Periode entfesselt auch den vielumstrittenen Ulysses des Iren Joyce. Joyce hält den rohen Gedankengang freimütig in Rabelaisscher Fülle und mit seiner etwas grillenhaften Symbolistik fest ... Noch auffallender wird das Experimentieren und die Gärung der Form in der Kunstgattung des Dramas. Die Krise des Dramas ist viel tiefer als die des Romans. Das ist auch natürlich. Für den Roman war es leichter, über die sichtbare und auf nur einer Ebene liegende Wirklichkeit hinauszugehen. Er konnte seine Aufmerksamkeit den geheimen Tiefen zuwenden: vom Sichtbaren her zum Unsichtbaren und Unbewußten. Aber wie konnte diese tiefe, dunkle und komplizierte innere Welt im Drama Platz finden, das die spezifische Form der sichtbaren und ausgesprochenen Dinge ist? Für die moderne Seelendarstellung ist das Drama ein enges Prokrustesbett. Die Handlungen interessieren nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer im Unbewußten verborgenen Wurzeln, wo ihr Fatum und ihre Tragik wohnen. Auch das Höchstdramatisdie, das der Schriftsteller von heute zu sagen hat, ist von solcher Natur, daß es in der freieren Roman-form mit größerer Vollkommenheit ausgedrückt-werden kann. Der Schriftsteller, der an der dramatischen Form festhält, mußte sich seit jeher der künstlichen Vereinfachung und der erzwungenen Veranschaulichung der un-sichtbarenJinge zuwenden. Das ist schon bei Ibsen und Maeterlinck der Ursprung des Symbolismus, Mit einer derartigen Vereinfachung arbeitete auch das expressionistische Drama. Aber jedes erkünstelte Verfahren dieser Art, bengalisches Feuer oder geometrisches Kurio-sum, war nur Ersatz und nicht das wahre Drama. Die besten Geister der neuzeitlichen Literatur, und gerade die, die das Leben am dramatischesten sehen, scheinen gegen die Bühne eine Abneigung zu haben. Nur jene bilden eine Ausnahme, deren Gedanken nicht die Lebensdarstellung als Mittel fordern, sondern die Dialektik des gesprochenen Wortes, selbst, wie etwa die polemisierenden und logischen Gedanken eines Shaw und Pirandello. Shaw ist der Mann der Paradoxa, der Enthüller der Widersprüche; ihm kommt die Dialogform gelegen. Aber was er schreibt, ist oft eher platonischer Dialog als Drama. Pirandello enthüllt schon die Paradoxa der dramatischen Form selbst, die eigentümlichen Wider-sprüdie im Verhältnis von Bühne und Leben. Beim Theater ist es natürlich anders. Das Theater kann seinem großen Publikum nicht lauter dialektische Ideen und Paradoxa bieten. So ist es gezwungen, sich auf eigene Füße zu stellen und sich von der Literatur, deren devoter Diener es vordem war, möglichst unabhängig zu machen.

Wie jede Dichtung, erwuchs das alte, wirkliche Drama aus lyrischen Wurzeln und befriedigte lyrische Ansprüche. In der Weltliteratur ist aber am auffallendsten, daß gerade die Lyrik abebbt. Diese Literatur schaut sogar nach innen mit nüchternem Blick, mit kaltem Sehnen nach Erlebnis oder analytischer Neugier. „Kalte Romantik“, so könnte sie einmal von der Nachwelt bezeichnet werden.

Nur in England zeigt der Vers größere Lebendigkeit. Hier lebt noch Yeats, der irische Dichter, der die keltischen Ursagen, und Hous-man, der „Junge aus Shropshire“, der das moderne Volkstum mit dem dekadenten Ton in Einklang zu bringen wußte. Yeats hat sich im Alter unerwartet erneuert und ist modern geworden. Dagegen sind die Jüngeren voll von Gärung und Kühnheit; die Reaktion auf das Viktorianische Zeitalter wühlt auch die Lyrik auf. Als neuzeitlicheste lyrische Stimme haben wir auch hier den nüchternen und ein wenig bitteren Ton der neuen Sachlichkeit, der schon in Thomas Hardys Lyrik erklang und durch sie hindurch auch auf die jüngsten Generationen wirkte. Der Hardy-Vers verbirgt hinter den herb und real wirkenden Farben und Worten eben das gleiche tragische Lebensgefühl wie der Hardy-Roman. Es ist die wahre Lyrik des in die Wirklichkeit vertieften Zeitalters: ein extremer, resignierter Pessimismus im grauen Gewand der Nüchternheit. Er lügt nicht mehr von mystischer Hoffnung, trägt aber auch nicht stolz den Schmerz als Diadem. Darin unterscheidet er sich vom Pessimismus des 19. Jahrhunderts. Aber wir müssen nicht glauben, daß die Großen der Weltliteratur in ihrer Mehrheit oder auch nur zu einem bedeutenden Teil einen so trostlosen Pessimismus als ihre innere Lyrik bekennen.

Der neuzeitliche Schriftsteller steht zumeist nicht einsam und individuell dem furchtbaren All kampfbereit gegenüber. Er will nicht oder er wagt es nicht. Lieber verliert er sich in einer Sache, geht in einer Gruppe auf, übernimmt fertige Weltanschauungen, die Zukunft und Trost versprechen. Die kommunistische Weltanschauung spielt bei zahlreichen neuzeitlichen Schriftstellern eine große Rolle. Aber auch der alte heilige Hafen, die weitgeöffnete Zufluchtsstätte der katholischen Kirche, zieht die Seelen der Schriftsteller immer häufiger an. Seit Bourget wurde die katholische Literatur wieder zeitgemäß und gewann an Selbstvertrauen. Sie übernahm die Methoden der alten ungläubigen Schriftsteller. Chesterton ist ebenso geistsprühend wie Shaw, und wer kann aufrichtiger sein als Mauriac, in dem sich die Verhaltenheit Racines und die Grübelei Pascals mit dem Scharfblick Freuds und der Kühnheit Gides verbinden? In der Literatur hat der Katholizismus den Vorteil, daß er weder das Individuum noch die Uberlieferung leugnet. Der Katholizismus ist somit die einzige lebende Gemeinschaft, welche die Welt noch auf dem alten und ewigen Fundament der Moral umfaßt.

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