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Gilbert Keith Chesterton

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Durch eine seltsame Fügung starben vor zehn Jahren zwei wortgewaltige Literaten, Chesterton und Karl Kraus, im gleichen Alter und an der gleidien Todesursache, einer Embolie, an fast dem gleichen Tage. Mit Chesterton ging der liebenswürdigste und gesündeste unter den „Großen Vier“ der englischen Literatur seiner Zeit; obzwar an Auslandsruf hinter Shaw, Galsworthy und H. G. Wells zurückstehend, hat er in seiner Heimat tiefer gewirkt als die anderen und eine entschiedenere Stellungnahme des Lesers hervorgerufen.

Gilbert Keith Chesterton ' wurde am 29. Mai 1874 in Kensingtori geboren, wuchs in einem kultivierten Haus des englischen Mittelstandes auf, gewann schon als Schüler der St.-Pauls-Schule D*ichterprcise und war der anerkannte Leiter in den Debatten seiner Schulkameraden. Eine stark künstlerische Ader verriet er in seinen Zeichnungen. Mit 22 Jahren konnte er bereits beachtliche Erfolge mit Gedichten und Essays verzeichnen.

Zeit seines Lebens blieb er ein „free-lanoe Journalist“, der seine Meinung nicht an eine Partei oder eine bestimmte Richtung vergab. Wie Franz Blei es richtig kennzeichnete, brachte Chesterton, als Essayist an die „Daily News“ verpflichtet, es fertig, die Auflage der Zeitung zu verdoppeln, obwohl er den friedlichen, nonkonformistischen und abstinenzlerischen Lesern anpries, was ihnen als die Hölle erschien: Krieg, Katholizismus und Weintrinken. Als aber dieser vom Krieg so Begeisterte gegen den Burenkrieg als einem kapitalistischen Übergriff energisdi Stellung nimmt, gewinnt er die Freundschaft seines Lebens, des um vier Jahre alteren Hilaire Belloc, eines in England naturalisierten Franzosen, eine Freundschaft, die Shaw bald nach dem klassischen Zwillingspaar Kastor und Pollux mit „Chester-Bellac“ verulkt.

Seine ersten Studien gelten literarischen Erscheinungen, der Rezensent wird selbst Autor, mit Büchern über R. Browning (1903), Dickens (1906), das bereits • die kämpferische Tiefe der späteren Bücher zeigt, seine geistvolle Auseinandersetzung mit Shaw (1907) mit dem lakonischen Vorwort: „Die meisten Leute sagen entweder, daß sie mit Bernard Shaw einer Meinung seien oder daß sie ihn nicht verstehen. Ich bin der einzige Mensch, der ihn versteht und nicht seiner Meinung ist. G. K. C.“ In diesem Buch tritt einer der Grundpfeiler des Chestertonschen Denkens hervor, das „common-sence“ — mit „gesundem Menschenverstand“ nur unzureichend verdeutsdit —, weiter die Wertschätzung aller der kleinen und menschlichen Dinge, denen er später einen eigenen Essayband widmet, die Lust am vollen, frohen und feierlidien Leben. Diese Haltung bewahrt ihn vor dekadentem Ästhetisieren — der Gefahr der „Nur-Literaten“ —, vor müder Resignation, rationaler Utopie oder bloß beißendem Spott, wie sie manche seiner großen Zeitgenossen kennzeichnet.

- In dieser überschwänglichen, aber unkitschigen Haltung entsteht auch sein erster größerer Roman, „Der Napoleon von Nottingham-Hill“, eine aus Utopie, romantischer Schwärmerei für das Mittelalter und seine Gesellschaftsverfassung, für Romantik und kalter Abschätzung kommender Entwicklung gemischte Gattung von Erzählungen, die kaum Parallelen im Schrifttum haben. Man muß sie lesen, um einen Begriff davon zu haben. Es ist typisch für ihn, daß man aus dem Zusammenhang herausgerissene. Sätze aus seinen Werken schwerlich zitieren kann. Nicht einzelne Geistesblitze machen ihn unterhaltsam und lesenswert, sondern die gehäufte Folge einer Gedankenentwicklung.

Wenige Jahre später, 1908, | bringt er eines seiner Hauptwerke heraus, „Der Mann, der Donnerstag war“, eine erste Auseinandersetzung mit Gott, Anarchie und Planung, die. viel später dramatisiert, eine technisch reizvolle Inszenierung auf einer Moskauer Bühne erlebt. Der lärmende Höhepunkt seines Romanschaffens ist das „Fliegende Wirtshaus“ (1914), eine Anklage des Puritanismus als „Mörder des lustigen old England“, Kritik eines allzu vernünftigen Staates, dem das menschliche Herz fehlt und dessen Konstruktion zu wirtschaftlicher Korruption und seelischer Bedrängnis führen muß, dargestellt am Problem der Prohibition, ein prophetische Vorschau auf einen gut gemeinten Versuch.

Grundgelegt ist diese Haltung m seinem Buch „Häretiker“ (1905), die ein allzu vernünftig erscheinendes Heidentum angreift. In der „Orthodoxie“ (1908) nimmt Chesterton die Partei der guten alten, christlichen und romantischen Religion. Als eine Art Autobiographie von ihm bezeichnet, ähnlich dem Erlebnis eines Seefahrers, der ausfährt, das Land seiner Träume zu suchen und an Strand gegangen, seine gute, alte Heimat findet, sprengt dieses, man kann sagen, philosophisch-theologische Grundwerk erstmalig den Rahmen einer bloß literarischen Auseinandersetzung mit dem Schrifttum. Ihr Grundzug ist, daß einzig-die christliche Lehre von der Erbsünde die Gesundheit des Denkens verbürgt, sie ist die vernünftige Grundlage der Religion, sie ist „common-sense“.

Die Grundhaltung dieses außerordentlich fruchtbaren Essayisten und Dichters scheint damit notdürftig bestimmt. Daß er hinter allen den leicht hingeworfenen Äußerungen ein tief ringender Mensch ist, zeigt schon allein die vielen seiner Zeitgenossen so verblüffende Zurückhaltung gegenüber der hierarchischen tjktholischen Kirche, zu der er sich erst 1922 öffentlich bekennt, darin seinem gegen Ende des ersten Weltkrieges gefallenen Bruder Cetil nachfolgend. Es entspricht durchaus diesem außerordentlichen Charakter, daß er erst öffentlich Rechenschaft gibt, ehe er diesen Schritt wagt.

In dieser Zeit ist er ein auch äußerlich ungeheuer wirkender, großer Mensdi geworden: imponierend und überragend schildern ihn Gegner und Freunde. Es liegt in seiner Natur, daß er einen der bemerkenswertesten Angriffe gegen die ungläubige Öffentlichkeit unternimmt. Während sein Freund Belloc durch geschichtliche Studien, für deren Schlagkraft etwa das auch ins Deutsche übertragene Buch über Cromwell zeugt, seinen „Gegenangriff durch Geschichte“ unternimmt, bietet der in allen Fächern des Literaten bewanderte Chesterton den schriftstellernden Zeitgenossen in allen Fächern die Stirne, wie erwähnt im Essay und Roman, dann im Drama — „Magic“ war ein Londoner Serienerfolg j—, im Gedicht — „Die Ballade vom weißen Roß“ und „Lepanto“ werden zu den größten Gegenwartsdichtungen gezählt —, in der Biographie und in der Detektivgeschichte.

Es ist, nach dem Urteil Dawsons, eine Tatsache, daß die meisten unserer fähigen Schriftsteller und einige Wissenschaftler in Europa und Amerika einer starken, antireligiösen Bewegung angehören. Chesterton ist sich dieser Tatsache durchaus bewußt. Selbst zunächst aus dieser Schicht stammend, hat er ihre Methoden von der Schülerzeit an in sich aufgenommen und kämpft nun mit gleichen Waffen. Ein Kennzeichen dieser Art von Schriftstellern ist, daß sie etwa in einem mit durchaus menschlichen Problemen angefüllten Roman plötzlich eine wegwerfende Bemerkung über irgend etwas Religiöses machen, oder etwa ganz wie zufällig unter lauter edlen Heiden einen etwas anrüchigen Geistlichen schildern, einen kalten, jeder menschlichen Reguiig baren Zölibatären, oder da Gegenteil davon, einen, der , heimlich die Frauen liebt; Chesterton ist es, der immer wieder darauf aufmerksam macht, daß man, der Kirche einmal ankreidet, sie sei allzu menschlich, und dann wieder, sie sei geradezu unmenschlich. Um die Figur des Pater Brown hat er eine Unzahl von Detektivgeschichten geschrieben, die zu dem Besten zählen, die sich in dieser Art von Literatur finden. Bezeichnend für die Art, Unangenehmes zu verheimlichen ist es wenn etwa im letzten Sammelband der Pater-Brown-Geschichten die Widmung an den hochwürdigen John O'Connor in der deutschen Ausgabe f e h 11, in der er sich dem Lehrer

„der Wahrheit, die unerhörter als Phantasie ist“, zum größten Dank verpflichtet fühlt, oder wenn in einem anderen dieser Sammelbände gerade jene zwei Geschichten nicht mitübertragen worden sind, die eine deutliche prokatholische Tendenz haben und aus denen erst die übrigen Geschichten in ihrem Gehalt erhellt werden. Welches immer die Beweggründe dafür waren — dies ist eine glatte Verfälschung. Es bedeutet Schwäche, einen Autor nicht zu nehmen, wie er ist. .

Als mit dem Ende des ersten Weltkrieges die Umwä'zung aller gesellschaftlichen Auffassungen offen zutage tritt, übernimmt Chesterton die Leitung der von seinem Bruder Cecil begründeten Wochenschrift als dessen Vermächtnis und macht aus ihr unter dem neuen Titel „G. K.s Weekly“ die führende kulturpolitische Zeitschrift Englands. Nicht nur in öffentlichen Diskussionen, von denen die rnit Shaw Berühmtheit erlangen, betritt er die Arena der Politik. Seinem Anfang getreu, bleibt er auch hier ein „free-lance“, ein vollkommener Unabhängiger. Er geht nicht einmal, wie es sein Freund Belloc vor dem Weltkrieg getan hat, ins Parlament. Dieser Rahmen wäre für sein Wirken zu eng gewesen. Leidenschaftlich verficht er die Thesen der jedem das Seine zuteilenden Gerechtig-_ keit. Er will, daß das Eigentum wieder Eigentum wird, nicht, daß es überhaupt abgeschafft wird, indem es der Staat oder — der Großkapitalist übernimmt. „Jedem Mann drei Acker und eine Kuh“, wird der poetische Schlachtruf seiner Romane, von denen eine Anzahl noch der Übersetzung ins Deutsche harren.

Es ist schwer zu beurteilen, inwieweit die in England sich immer mehr ausbreitende Eigenheimbewegung nur zufällig mit den von Chesterton verkündeten Idealen zusammenhängt. Manche Beobachter des Chesterton scrien Einflusses schreien diesen mit

Schwung vorgetragenen Schlachtruien die entscheidende Bedeutung zu und schätzen dies wesentlich höher ein, als die sozialistische Tendenzwirkung der „Fabian-Society“ mit Shaw an der Spitze. Während Shaw damit der Arbeitspartei nahegestanden hat, ist Chesterton jedoch in seiner Wirkung auf alle Parteien und Volksschichten eingedrungen. Der Ausgangspunkt war wohl Bellocs Buch „Der Sklavenstaat“ gewesen, dessen Grundlehre gelautet hatte: „Wenn wir nicht das Institut des Eigentums wiederherstellen, können wir nicht umhin, das Institut der Sklaverei wieder herzustellen; es gibt keinen dritten Weg.“ Eine überspitzte Formulierung, deren Wahrheitskern dennoch beachtlich bleibt.

Parallel mit der Vertiefung politischer Ideen geht eine Entwicklung des kulturell und religiös in seiner Heimat England — und vor allem seines keltischen Teiles — tief verwurzelten Dichters vor sich. In Reisen nach Amerika und dem Nahen Osten erwächst eine Art von religiöser Anthropologie, die dennoch, trotz aller Weltweite, wesentlich aus der Heimat wächst. Er ist kein puritanischer Sozialist wie Shaw,* keiner, der dem sterbenden Kapitalismus den Schwanengesang singt wie Galsworty, keiner, der wie H. G. Wells den Nationalismus angreift, weil er die Einheit Europas zerstört hat und dafür den Internationalismus predigt, keiner, der wie D. H. Lawrence das Christentum angreift, weil er in Wirklichkeit den nachchristlichen ethischen Kompromiß angreift, der nur das illegitime und untergeschobene Kind der christlichen Moral ist (Dawson), vielmehr sieht er alle diese Dinge — und schüttet doch nicht das Kind mit dem Bade aus. Was immer diese anderen Autoren bekämpfen oder resigniert betrauern, si kämpfen in seiner Auffassung zwar gegen Mißstände, aber auch wieder für Mißstände.

Chesterton versucht im „Unsterblichen Menschen“ das Bild dieses wesenhaft religiösen Menschen philosophisch zu erfassen. Zugänglicher sind seine Heiligenbiographien. Die merkwürdige Tatsache, daß der Heilige ein zwar meist körperlich kranker Mensch ist, der aber erst durch den „Pfahl im Fleisch“ die Sehnsucht nach Gesundheit so lebendig verspürt, daß er dort, wo er Gesundheit wirklich erc'.chen kann, nämlich in seiner Seele, dies auch mit der größten Anstrengung erstrebt, hat den Anstoß gegeben zu Büchern wie das über den heiligen Franziskus, den er als den Minnesänger unter den Heiligen auffaßt, oder Thomas von Aquin. Das letzte Buch über das Thema Mensch ist jedoch seine „Autobiography“, knapp vor seinem Tode vollendet, ein Bekenntnisbuch ungewöhnlichen Formats, ein Rechenschaftsbericht über ein Leben, das von der schmalen Basis eines Schriftstellers zuinem Menschen geführt hat, der sich in den Worten, die er über den Tod eines seiner Romanhelden geschrieben hat, sein eigenes Gedenken geprägt hat: „Und der Mann, der zuviel wußte, wußte, was wert ist, gewußt zu werden.“* Er starb am 14. Juni 1936.

Das umfangreiche literarische Werk harrt seiner Sichtung, die professoralen Urteile wie das Leon Kellners, er hätte den paradoxen Witz Wildes gemeinsam mit Max Beerbohm auf die Spitze und damit aus der Mode gebracht, wird revidiert werden müssen; von kleineren Aufsätzen abgesehen, ist in Kontinentaleuropa nur das französische Buch Tonquedecs bisher dem Dichter gerecht geworden.

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