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Torbogen zur lazarenischen Existenz

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Masken und Metimorphoien des Nihilismus. Der Nihilismus des 20. Jahrhundert. Von Hermann Rauschning. Humboldt-Verlag, Frankfurt am Main-Wien. 223 Seiten. Preis 52.80 S.

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Masken und Metimorphoien des Nihilismus. Der Nihilismus des 20. Jahrhundert. Von Hermann Rauschning. Humboldt-Verlag, Frankfurt am Main-Wien. 223 Seiten. Preis 52.80 S.

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Der Prophet Jeremias scheint es zu seinen Tagen mit der Verkündigung immer noch einfacher gehabt zu haben als er es heute hätte. Denn. alle seine Mahn- und Bußworte trafen wohl ein gottloses, frevlerisches und ehebrecherisches Geschlecht, immer aber — wenn wir annehmen, daß seine Worte wenn schon nicht befolgt, so doch wenigstens noch verstanden wurden — ein Volk, das von seinem König angefangen bis zum letzten Straßenmädchen, noch Ohren hatte, Organe der Aufnahme besaß, seine Situation wahrzunehmen. In unseren Tagen aber hat sich jenes dem gläubigen Menschen für immer schaudererregend bleibende Mysterium der Bosheit erfüllt, das . der Herr selbst „die Verstockung“. nennt, jener schauervolle Fluch, den Paulus, am Ende seiner qualvollen Auseinandersetzungen dem eigenen, einst ausenvählt.;n Volk entgcgenschleudert. Pascal hat dies mit seiner Definition vom „größten Elend, das darin besteht, sein Elend gar nicht mehr zu erkennen“, mit unheimlicher Genauigkeit vor drei Jahrhunderten schon prophezeit.

Rauschnings Buch, das wir zu den gerade in seiner Kürze und Prägnanz eindruckvollsten Selbstdarstellungen unserer Zeit zählen möchten, setzt mit seiner Situationsanalyse genau an jenem Punkt ein, der die Erfüllung des Pascalschen Wortes markiert. Schon die ersten Kapitel machen es unerbittlich klar, warum soviel echte jeremianische Prophetie in unserer Zeit von Haecker und Bernanos bis zu Reinhold Schneider und Albert Schweitzer in leeren Räumen verhallt, warum sich nicht einmal mehr Fäuste zum Aufheben der Steine finden, die einst die Propheten des Alten Bundes mit unerbittlichem Hagel töteten, warum im Nihilismus unserer Tage, den Rauschning die „Vegetation des vollendeten Haß- und Hochmutsklimas“ nennt, die Menschen nicht einmal mehr die Angriffe gegen ihr eigenes Leben parieren, warum sie bestenfalls nur noch „blinzeln“ können, wie dies Nietzsche von den Letzten, dieses Geschlechts voraussagte.

Der heute“ in Amerika lebende Autor hat diesen europäischen Zerfalls- und Aufspaltungsprozeß als ein Verhängnis wahrscheinlich schon in jenen Jahren erlebt, da er üble Erlösung und verzweifelte Rettung im heraufkommenden Faschismus suchte, der ja i nicht nur die Streicher und, Himmler, sondern zu Anfang auch die Maurras und Jünger, Sorel und Fmind unter seinen Fahnen versammeln wollte. Sehr bald hat Rauschning, dem wir die früheste und neben Konrad Heidens ausgezeichneter Analyse auch hellsichtigste Hitler-Darstellung verdanken, auch den scheinbaren Retter Nationalsozialismus als Maske des alles unterwandernden Nihilismus erkannt. Seither sucht er, auf sich allein gestellt, den Ausweg, das „Rettende, das aus der Gefahr wachsen muß“.

Ueber die „bösen Zeiten, den Verfall der Sitten und die Ehrfurchtlosigkeit der jungen Generation“ haben seit den Tagen des greisen Cato in jedem Jahrhundert Menschen mehr oder weniger originelle Betrachtungen angestellt. Rauschning- aber gelang es, das im verzweifelt bösen Sinn Einmalige unserer Zeit, deren Nihilismus das Nein zum Quadrat, ja zum Kubus darstellt, sehr scharf konturiert zu haben.

h sondert den Nihilismus unserer Tage in sehr einleuchtender Weise von dessen erster Stufe, der romantisch bestimmten, mißverständlichen Nietzsche-Anbetung der Jahrhundertwende, aber auch vom Lebensgefühl der „zweiten Generation“, als deren Repräsentanten Jünger und der (hier leider nicht erwähnte) frühe Beim stehen mögen. Was hier und heute erreicht wurde, ist die Paraphrase über das „Was ist Wahrheit“ des Pilatus, wobei jeder letzte Rest gequälten Suchens der dem römischen Landpfleger von einst vielleicht noch angehaftet haben mochte, weggedacht werden muß. Für die Nihilisten unserer Tage, die keine eigene Gruppe, keine Verschwörung und keine Schule mehr bilden, sondern wie ein Pilzgeflecht den gesamten Bau der Gesellschaft wie auch fast jedes Menschenherz durchwuchert haben, lohnt es sich genau so wenig, revolutionär und zynisch zu sein, wie sich für das „Alte Wahre“ auch nur mit einem einzigen Atemzug zu echauffieren. Die völlige Wandlung des Daseins in die reine Funktion, die Preisgabe der Person an das nackte Ich oder das ihm korrespondierende Kollektiv“ ist das Zeichen dieser Gesellschaft. Es ist eine denkerische Erquickung, wenn auch sehr schmerzlicher, weil ununterbtochen zur Selbst-dcnias-kierung zwingendei Art, Rauschning bei der Durchführung- dieses Grundthemas in allen Lebensbereichen zu folgen. Auch das, was über die Metaphysik des Nihilismus gesagt ist, kann kaum angefochten werden, vielleicht auch deshalb, weil es nicht unbedingt neu ist. Ernste Bedenken müssen nur für jene Teile angemeldet werden, in denen Rauschning sich um eine Ahnenreihe des Nihilismus bemüht und hier reichlich summarisch mit der Renaissance den durch nichts beweisbaren Anfang macht. Hier müßte gerade vom Stand der heutigen Forschung aus zumindest das Feld für tiefere Grabungen abgesteckt werden. Man kann von Renaissance im geistesgeschichtlichen Sinn nicht sprechen, ohne den ungleich bedeutsameren Nominalismus zu erwähnen, ja ohne den Universalienstreit und den schuldhaft-unschuldigen Weg des abendländischen Piatonismus, an dessen Beginn sich wahrhaftig Recht und Unrecht verwirrt, mit einem sicheren Scheinwerfer anzuleuchten.

Wir hätten dies nicht bemängelt, wenn sich Rauschning nicht im höchst beachtlichen Scblußtei] seines Werkes in wohltuender Weise gerade von jenen trüben, abendländischen Gesellen unterschieden und abgesetzt hätte, die als Allheilmittel gegen das seit der Renaissance aufgebrochene „Böse“ einen Gepäckmarsch zurück ins Mittelalter anpreisen. Rauschning weiß sehr genau, daß man auf diese Weis nicht in die „ungedruckte Glaubenszeit, wo noch keine Zeitung erschienen“, gelangt, sondern mitten in das brodelnde Werden jenes ambivalenten Aufgangs Europas (Heer!), der noch viel ungemütlicher war als die so verketzerte Zeit der verhältnismäßig harmlosen Renaissance und Aufklärung. Er verschmäht, gerade weil er ein echter Konservativer ist, die billige Flucht zu den Müttern, als da „patriarchalische Ständeordnung“, und „christliche Haustugend“ heißen, sondern er proklamiert mit Cayrel die „Lazarenische Existenz“, die Seins-form des Lazarus nach seiner Auferweckung, der für immer die lebendige Gegenwart des dunklen Reiches in sich spürt, in dem er vier Tage verweilte, so lange, bis sein Körper sich schon aufzulösen und alle Gestalt zu verlieren begann, eingewickelt in Binden, hoffnungslos verloren gegeben, rätselhaft beweint vom Herrn über Tod und Leben selbst... In diese Existenz, zu der auch der mit den stumpfen Waffen liberaler Weltermahnung wie autoritärer Weltverdunkelung operierende Quacksalber der landläufigen Politik keinen Weg weisen kann, wird, wenn die Hoffnung Gewißheit werden soll, auch der Nihilismus nur ein Torbogen, ein Durchgangsstadium gewesen sein, allerdings eines, dessen Spuren nie mehr zu verleugnen sein werden. Was Rauschning am Ende als die drei Wege zur Ueberwin-dung des Nihilismus aufzählt, ist in den beiden ersten Tunkten, dem der Erkenntnis und dein der Eindämmung durch Abbau der mörderischen Kollektive, schlüssig, in der letzten Mahnung zum gemeinsamen Handeln nur umrißmäßig erkennbar. Wie dies natürlich nicht anders sein kann.

Wollte Rauschning mehr geben als er oder irgendein Zeitgenosse heute hat, wäre er nicht nur ein „Schelm“, sondern zudem einer jener gefährlichsten Nihilisten, die unter der Maske der Perfektion und der Patentlösung die schlimmste Verführung verdecken. Ein dankenswert klares Buch, dem man ob dieser Klarheit manches Summarische und Simplifizierte gut und gern nachsehen mag.

Bcschäftigungspolitik. Von Wilhelm Taucher. Springer-Verlag, Wien. 128 Seiten. Preis 36 S.

Ohne eine zusammenfassende und systematische Theorie der Beschäftigung und etwa eine Einführung in die Politik der Vollbeschäftigung bieten zu wollen, gibt uns Universitätsprofessor Taucher (Graz) mit dem vorliegenden kleinen Werk einen ausgezeichneten Einblick in die Elementarprobleme des Gegenstandes. Dabei geht der Autor in keiner Weise von einer vorgefaßten Meinung aus, wenn er sich auch im Grundsatz zu den Regeln der klassischen Nationalökonomie bekennt, freilich nur so weit, als diese Regeln durch die Erfahrung einigermaßen verifiziert wurden. Eingehende Kenntnisse der wirtschaftspolitisch bedeutsamen Fakten der Zwischenkriegszeit und vor allem der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg setzen den Verfasser in die Lage, seine Darstellungen mit Wirklichkeitsbezug zu versehen. Hinsichtlich der Preispolitik steht Taucher auf dem Standpunkt, daß es eine allgemeine Preispolitik einfach deswegen nicht gebe, weil auch eine allgemeine Theorie des Preises fehle und, angesichts der erkannten Vielschichtigkeit der Märkte und der Monopolformen, fehlen müsse. Gleiches gilt für die Lohnpolitik, hinsichtlich welcher die Klassik von der Annahme flexibler Löhne ausgehe; sie ist offensichtlich zumindest heute, da Kollektivverträge Mindestlöhne weitgehend sichern, eine Fiktion.

Ausgezeichnet in der Klarheit der Darstellung sind die Ausführungen über die Konjunkturzyklen.

Im Prinzip stellt das Buch eine Auseinandersetzung mit den Anhängern von Keynes und der von ihnen vorgeschlagenen beweglichen Finanzpolitik dar. Dabei hat Taucher Gelegenheit, seine außerordentlichen Kenntnisse der angloamerikanischen Literatur unter Beweis zu stellen.

In weiser Begrenzung unterläßt es Taucher nicht, auf die oft unzureichenden Ergebnisse der Forschung für die unmittelbare Praxis hinzuweisen, die, frei von Dogmen, beweglich und an die Erfordernisse der Stunde angepaßt sein muß.

Was einer wirksamen Beschäftigungspolitik not tut, das ist nach Taucher eine Koordination aller Maßnahmen der für die Lenkung der Wirtschaft maßgebenden Instanzen. Darin, in der Abstimmung aller Maßnahmen, insbesondere der mit Wirtschaftslenkung befaßten Ministerien, liegt die Chance, eine Politik der optimalen Beschäftigung zu sichern. Wer sich in Kürze und trotzdem gründlich über die Probleme der Politik der Beschäftigung unterrichten will, dem sei das Buch nachdrücklich empfohlen.

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