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Digital In Arbeit

Im Lichte der Nordrose

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Manche Entwicklungen scheinen nach kurzer Zeit eine Eigengesetzlichkeit zu gewinnen, der entgegenzutreten immer schwerer wird: umso hartnäckiger sollte man dies aber tun. Wir befinden uns nun in einer Verdichtung apokalyptischer Gefühle, deren Herkunft so verständlich und gerade deshalb auf alarmierende Weise verhängnisvoll ist. Es geht dabei nicht allein um den Schreckenseffekt der Atombombe, sondern um die unübersehbare Vielfalt von Folgeerscheinungen, deren man sich kaum bewußt wird.

Das Eindringen der apokalyptischen Stimmung verändert das Verhalten der Menschen bis in die

Einzelheiten des Alltags, darüber sollte man sich klar sein. Das Gefühl des sicheren Untergangs vergiftet den, der sich ihm ergibt. Und wer kennt die Zukunft so genau? „No future" ist eine oft genannte Haltung der jüngeren Generation, eines kleinen Teils nur, doch das Schlagwort ist präsent. Nun, darüber spreche ich aus Erfahrung: ich war einmal von „no future" tief durchdrungen, nur nannte man das damals nicht englisch. Ich war vollkommen überzeugt, das Jahr 1945 nicht zu überleben. Und jene Jugend, die heute sagt: vierzig, fünfzig, achtzig werde ich nicht, der kann Erstaunliches passieren — sie kann es nämlich werden. Und dann hat sie zu leben, weitgehend jedenfalls, wie sie einst entschieden hat.

Oft stand ich vor Werken, die eine Haltung zeigen, deren Wesen einzuprägen ich mich bemühe. Ich nenne eines dieser Werke, das man heute der Kunst zurechnet, das aber nicht als Kunst, sondern als Lebensnotwendigkeit geschaffen wurde: die Nordrose von Notre-Dame de Paris. Man kann andere anführen und soll dies auch tun, denn unzählbar viele sind in solcher Haltung entstanden. Fast überall gibt es sie noch, man kann vor sie hintreten, auch Abbildungen von ihnen studieren und versuchen, ihre Sprache zu verstehen.

Die Nordrose von Notre-Dame besteht aus mehr als fünfzigtausend Glaspartikeln. Der Schmelzvorgang für jede einzelne Partikel war äußerst kompliziert: zwei Teile Buchenholzasche wurden mit einem Teil Flußsand kombiniert. Während der Schmelzung kam Metallstaub dazu, wodurch die gewünschte Farbe entstand. Manchmal goß man flache Stük-ke, dann wieder blies man Zylinder, die aufgeschnitten und zu einem Blatt geglättet wurden. Mit einem rotglühenden Eisen schnitt man jedes Blatt und paßte es in seine Position, nach unzähligen fehlgehenden Bemühungen, nach sorgsamer Auswahl aus vielen Versuchen. Mitunter wurden Edelsteine unmerkbar in das Glas eingesetzt, und manche Werkstätten mischten Saphire in die Schmelzmischung. Gemeinsam mit den Unregelmäßigkeiten, Sprüngen, Blasen, Sandkörnern, Streifen ergab sich die übernatürlich scheinende Intensität von Farben und Licht.

Woran dachten die Auftraggeber, Baumeister, Handwerker bei dieser Arbeit? Das Mittelalter war geschüttelt von apokalyptischer Erwartung. Man hatte allerdings eine Gegenkraft in sich, von der heute kaum mehr die Rede ist. Tausende Kathedralen und Kirchen wurden gebaut, und zwar Werke, die aus dem gleichen Geist wie das Nordfenster von Notre-Dame hervorgingen, man hat gedacht, gehandelt, gelebt in einer Haltung, die jegliche Furcht vor Untergang und Tod überschritt.

Ich weiche nicht in die Vergangenheit aus, im Gegenteil, die Realität von damals soll unsere Situation deutlicher erkennen lassen: kürzlich war ein Schweizer Verleger bei mir, ein wohlhabender, äußerst erfolgreicher Mann, ein harter Manager, der

sich auf dem Markt durchzusetzen weiß. Was er mir sagte, überraschte mich. Nach konkreten Themen sagte er mir plötzlich: „Wissen Sie, mein Hauptproblem ist, daß heute vor allem die Liebe fehlt." Dem Buch, der Arbeit, dem Menschen, eigentlich allem gegenüber.

Der Verleger meinte die schlichte Tatsache, daß das große Management in den Details keinerlei Liebe mehr aufkommen ließ. Die Apparate wuchsen gewaltig, absorbieren die gesamte Nervenkraft aller Beteiligten, die Magazine müssen erscheinen, Auflagen machen, Anzeigen anlocken, fast um jeden Preis, soweit das Gesetz es eben zuläßt und oft über diese Grenze hinaus, denn was schaden schon ein paar Prozesse. Auch sie können den Umsatz steigern, jeder kennt die Beispiele.

Vorerst riskiere ich einmal, den zynischen Vorwurf auszulösen, ich trauere vor dem Nordfenster von Notre-Dame über die veränderte Zeit, die doch heute sozialen Wohlstand in unsere Gegenden gebracht hätte wie nie zuvor. Damit habe sich eben manches geändert, was unwiederbringlich dahin sei. Der Zynismus liegt in dem Wort „unwiederbringlich". Die Adepten kollektiver Entwicklungen, die Darsteller eines kollektiven Zeitgeistes mögen meinen, die Gegenwart zu durchschauen und die Zukunft zu kennen. Auch wenn sie keineswegs Marxisten sind, so haben sie doch von Marx und Hegel meist die Uberzeugung geerbt, man könne nicht nur die Kräfte der Zeit, sondern die Zukunft, auf die sie zuführen, ermitteln. Zuletzt hat Karl Popper gegen den Hochmut solcher Prophezeiungen immer wieder geschrieben.

Wieder stehe ich vor dem Nordfenster und stelle fest: die Leute, die an diesen fünfzigtausend Elementen arbeiteten, dachten bestenfalls in zweiter Linie an jene, die sie von unten sahen. In der Rose von dreizehn Meter Durchmesser sind die Einzelheiten nicht erkennbar. Man sagt, auf den Glasfenstern sind auch die Wimpern der Heiligen und Engel dargestellt - ich habe sie nicht gesehen. Sie wurden für ein ganz anderes Wissen geschaffen als das menschliche. Man denke an die Hunderten Figuren weit oben in den Kathedralen, im Dunkel, wo nie natürliches Licht oder Kerzenschein hinkamen, oder auf den Dächern der Dome, unsichtbar für den menschlichen Betrachter. Für wen wurden sie geschaffen?

Natürlich kann man mit Sicherheit sagen, für Gott, der eben auch sieht, was die Menschen niemals wahrnehmen. Ich wage aber die Behauptung, der Bildhauer, der Glasgießer, der Maler — damals waren sie alle gewöhnliche Handwerker — hat sie in diesem Glauben ebenso für sich geschaffen. Sie waren sein Dialog mit ganz oben. Er hielt sich für einen Partner, er war tief davon durchdrungen, daß das Werk, dem er sich widmete, von oben gesehen würde, er schuf in sich selbst diese Partnerschaft. Der Vorgang und das Werk, das daraus entstand, waren für ihn von überhaupt nicht hoch genug einschätzbarer Bedeutung.

AA/arum ich gerade das Nord-T Y fenster ausgesucht habe? Nun, dieses Fenster hat am wenigsten Licht. Nie habe ich die Sonne darauf gesehen. Die Farben sind dunkel, das Rot dominiert. Die Handwerker mußten ihr stärkste Intelligenz, ihr bestes Wissen, ihre größte Erfahrung aufbringen, durch ihre Gelassenheit das Licht aufzufangen, in

Farben aufzubrechen, zum Leuchten zu bringen. Eine dreizehn Meter hohe Scheibe, nur von dünnem steinernem Netzwerk gestützt, muß dem Nordwind standhalten. Das Südfenster machte es den Handwerkern leichter mit dem Uberfluß an Licht. Dort war die Arbeit dankbarer: die Farben wachten von selbst auf.

Die Nordrose zeigt in ihrem Zentrum Christus als Kind auf den Knien Marias. Achtzig Propheten, Könige und Hohepriester umgeben den kleinen inneren Kreis in drei weiteren Kreisen, es sind fast siebenhundert Felder. Die inneren Beziehungen der einzelnen Figuren und Felder sind mehrfach zu deuten. Merkwürdigerweise ist außerhalb der Rose links unten der Tod des Antichrist dargestellt, der mit dem Kind Christus antithetisch verbunden erscheint. Das Südfenster ist eine Verherrlichung von Maria als Himmelskönigin. Das Nordfenster beginnt die Zukunft Christi mit all den Inhalten, die wir kennen. Sie sind nicht im einzelnen gezeigt, aber wir wissen, was kam, und die Farben der Rose sind dessen Widerschein.

Der Kontrast zur Gegenwart scheint groß. Doch ist er nicht so schroff, wie man vorerst feststellen zu müssen meint. Nur das von Massenmedien, Schulen, Universitäten und deren meisten heutigen Machern und Lehrern bestimmte sogenannte öffentliche Bewußtsein steht zum Ausdruck und Wesen dieser Fenster in krassem Gegensatz.

Während eines noch nicht sehr lange zurückliegenden Symposions, bei dem über Tradition und Revolution in der Literatur geredet wurde, meldete sich Wystan Hugh Auden und erklärte nach komplizierten Argumenten anderer Schriftsteller recht erregt, er verstehe von diesen Gedanken wenig, bei ihm sei das anders und viel einfacher, denn, und dies nun ein wörtliches Zitat: „Ich schreibe für den lieben Gott." Auden sprach dies deutsch im Wiener Redoutensaal vor vielen hundert Leuten, irgendwo verwittert das Tonband mit diesen seinen Worten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Bernanos, Claudel, Mauri-ac, T. S. Eliot wichtig, und sie wären dies heute sogar mehr als damals, gäbe es nicht - vor allem im deutschen Sprachraum - die Barriere des Schweigens, nach der das Vergessen beginnt. Die Einseitigkeit des heutigen Kunstbewußtseins ist verblüffend und nur

mit Freudschen Begründungen zu erklären. Allerdings scheint sich nach einer geradezu panischen Flucht aus der Metaphysik, nach einem Verdrängungsprozeß von gewaltigen Ausmaßen, an dem die ungemein wirksam gewordenen Massenmedien kräftig teilgenommen haben, langsam eine Änderung anzukündigen. Wittgenstein etwa wird aus der erschrek-kenden Deformation positivistischer und wissenschaftstheoretischer Auslegungen befreit. Man besinnt sich darauf, daß es bei ihm recht unerwartete Gedanken gibt, so heißt es im Tagebuch 1914-1916: „Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens." Und: „An Gott glauben, heißt sehen, daß das Leben einen Sinn hat."

Auch bei Kafka, den viele als anarchischen Destrukteur, als Verkünder der Sinnlosigkeit mißverstanden haben, entdecken manche ganz anderes. In den Oktavheften findet man die erstaunlichen Worte:,Alle Leiden um uns müssen auch wir leiden. Christus hat für die Menscheit gelitten, aber die Menschheit muß für Christus leiden." Geschrieben am 19. Februar 1918. In „Fragmenten aus Heften und losen Blättern" notierte er: „Schreiben als Form des Gebetes." Ich bin überzeugt, man wird später die geradezu manische Einseitigkeit der Kunstbeachtung und Interpretationen von der Mitte der sechziger Jahre bis heute als ein hochinteressantes psychisches Phänomen untersuchen. Spätfolgen von Marx, das Wiederaufkommen positivistischer Antireligiosität, vermischt mit einem rabiaten Aufstand gegen die Väter, das alles, so heterogen es auch sein mag, effektvoll zusammengemischt und aktuell dramatisiert durch Fernsehen, Magazine und Massenblätter, in Schulen und Universitäten vorgetragen — das ergibt einen wütenden Fanatismus politischer Herkunft als Religionsersatz für die abgelehnte, aber niemals ganz zu vernichtende Religiosität. Uber die subjektive Verfassung jener zu urteilen, die einst an den fünfzigtaüsend Elementen des Nordfensters gearbeitet haben, ist reine Spekulation. Ich kann mir aber vorstellen, daß sie in dieser Arbeit sehr konzentriert, sehr herausgefordert und -solange sie daran arbeiteten — ziemlich glücklich waren. Nun wieder einer der unbeleuchteten Sätze von Wittgenstein: „Ethik und Ästhetik sind eins", dem ich in fruchtbarer Distanz zum Nach-

denken einen aus den „Tagebüchern" anfüge: „Das Leben der Erkenntnis ist das Leben, welches glücklich ist, der Not der Welt zum Trotz."

Damit ist die Grenze der Realität überschritten, die Schau dieser Erkenntnis richtet sich über sie hinaus. Die Freudenbotschaften im Neuen Testament sind von einer Kraft, die nur dann überzeugt, wenn sie weit mehr als die Realität betreffen. Man suche einmal die zahlreichen Stellen über die Hoffnung. „Darum verlieren wir nicht den Mut; mag auch unser äußerer Mensch aufgerieben werden, so wird doch der innere von Tag zu Tag neu" (2 Kor 4,16) und über Abraham: „Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung geglaubt" (Rom 4,18). Wie sich das auch konkret verhalten haben mag; bei Wittgenstein, bei sehr vielen anderen oft einseitig gedeuteten oder verdrängten Denkern, Schriftstellern, Künstlern und möglicherweise bei der leider allzu schweigenden Mehrheit finden sich Zeichen eines Widerscheins.

Man könnte aus Handkes späterer Phase, die viele seiner früheren Anhänger ungern oder gar nicht zur Kenntnis nehmen, seitenlang zitieren. Ein paar Worte aus dem Stück „Uber die Dörfer" sollen genannt sein: „Unsere Schultern sind für den Himmel da, und der Zug zwischen der Erde und diesem läuft nur durch uns!" Und: „Laßt euch nicht mehr einreden, wir wären die Lebensunfähigen und Fruchtlosen einer End-und Spätzeit... Wir sind so nah am Ursprung wie je." Literatur, könnte man sagen. Geschriebene, gesprochene Worte. Sie entspringen aber einer Haltung und versuchen, solche Haltung zu wecken. Die Öffentlichkeit, sogar die Massenmedien bestehen aus dem Apparat und aus einzelnen. An diesen einzelnen liegt es, dem Apparat zu widerstehen, sich seiner menschenwürdig zu bedienen. Wenn man sich das erst einmal einprägt. Das Tun bleibt schwer genug.

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