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Traum oder Alptraum?

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Wenn wir damals als Kinder… … mit „wir” meine ich meine eigene Generation, also die der jetzt ungefähr 50- bis 65jährigen, eine Generation, die ungewöhnlich viel Geschichte zu leiden und zu leisten gehabt hat: denn wer kurz vor oder nach 1920 geboren wurde, ist während eines latenten Bürgerkrieges aufgewachsen, hat den Einmarsch Hitlers erlebt und die Auslöschung Österreichs, dann den Krieg mit seinen ungeheuren und nicht nur materiellen Zerstörungen, dessen Ende, eine neuerliche Besetzung, und schließlich einen Wiederaufbau; und dann, als endlich Ruhe hätte eintreten sollen, kam die Hochkonjunktur mit ihrem dschungel- gleich wuchernden Wirtschaftswachstum und ließ wie aus der Büchse der Pandora reihenweise jene scheinbar oder anscheinend völlig neuartigen Krisen, Komplikationen und Problemsyndrome entwachsen, mit denen wir uns jetzt herumzuraufen haben…

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Wenn wir damals als Kinder… … mit „wir” meine ich meine eigene Generation, also die der jetzt ungefähr 50- bis 65jährigen, eine Generation, die ungewöhnlich viel Geschichte zu leiden und zu leisten gehabt hat: denn wer kurz vor oder nach 1920 geboren wurde, ist während eines latenten Bürgerkrieges aufgewachsen, hat den Einmarsch Hitlers erlebt und die Auslöschung Österreichs, dann den Krieg mit seinen ungeheuren und nicht nur materiellen Zerstörungen, dessen Ende, eine neuerliche Besetzung, und schließlich einen Wiederaufbau; und dann, als endlich Ruhe hätte eintreten sollen, kam die Hochkonjunktur mit ihrem dschungel- gleich wuchernden Wirtschaftswachstum und ließ wie aus der Büchse der Pandora reihenweise jene scheinbar oder anscheinend völlig neuartigen Krisen, Komplikationen und Problemsyndrome entwachsen, mit denen wir uns jetzt herumzuraufen haben…

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… wenn wir damals, als Kinder der dreißiger Jahre, in der Zeichenstunde den Auftrag erhielten, eine Stadt zu zeichnen, zeichneten wir - mit Begeisterung! - riesige Wolkenkratzer und bunte Leuchtreklamen, dazwischen Eisenkonstruktionen, auf denen stromlinienartige Schnellbahnen oder Stadtbahnen dahinflitzten, strichelten wir Straßen voller Automobile, und auf die paar Stük- kerln Himmel, die uns auf den Zei- chenblättem noch frei blieben, setzten wir Flugzeuge und die damals noch aktuellen Zeppeline.

So ungefähr stellten wir 10- und 15jährigen uns damals die Stadt, die typische, die utopische Stadt der Zukunft vor: als eine faszinierende, dynamische, technische Metro- oder Megalopolis, einen äußerst künstlichen Gegensatz zu edlem, was Natur ist. Und wir zeichneten es so, weil gerade dieser Traum von einer urbanen Zukunft sozusagen in der Luft lag.

Die Literaten, und auf ihren Spuren die Trivialliteraten und die Filmindustrie, hatten diesen Traum längst schon geträumt und sich, wenngleich vielfach mit einer Art apokalyptischen Behagens, seiner Faszination hingegeben (man denke an Expressionisten wie Georg Kaiser und Bert Brecht, an Döblins „Alexanderplatz”, aber auch an Filme wie Fritz Langs „Metropolis” und die Dominik-Schinken jener Zeit). Damals entwarfen ja auch seriöse Architekten solche Stadt-Phantasien bis zur Projektreife, wie denn überhaupt diese Megalopolis-Idee alle Gehirne beherrschte - auch die Diktatoren,

Mussolini und Hitler, träumten von gewaltigen, nie dagewesenen Stadtgebilden; solche Visionen lagen einfach in der Luft.

Dann aber, als wir keine Kinder mehr waren, sondern als Erwachsene vor der Tabula rasa standen, die der Krieg hinterlassen hatte, machten wir uns daran, genau diese unsere Kinderträume zu verwirklichen und unsere Zeichenblattphantasien ins Dreidimensionale zu übersetzen.

Und jetzt, 40 oder 35 Jahre später, stehen wir davor: vor den Hochhäu- ser-Gebirgen, die wir damals gezeichnet hatten, vor diesen Silos mit den Tausenden von Fenstern, die genau so schematisch gleichförmig übereinander und untereinander stehen, wie wir sie damals mit viel Mühe auf die Zeichenblätter liniert hatten; wir haben jene Hoch- und Stelzenstraßen, die knapp vor den Fenstern vorbeiführen, wirklich auch gebaut; und am Himmel sehen wir viel größere Flugzeuge, als wir damals zu zeichnen gewagt hatten - und in den Straßen natürlich die Automobile, viel mehr, als wir uns seinerzeit vorstellen hätten können…

Der Mensch ist ein Wesen, das nicht nur träumt, sondern offenbar davon besessen ist, seine Träume auch wahr zu machen. Das Exempel beweist, daß er dazu unter Umständen (und mit Hilfe der Technik) nur die halbe Lebenszeit einer Generation benötigt. Das ist, wenn man Entwicklungszeitmaße nimmt, wie sie vordem jahrtausendelang gegolten hatten, ein fast zeitraf- ferhaftes Tempo; und wie es Zeitrafferaufnahmen eigentümlich ist - wir alle sind ja vom Film und vom Fernsehen an diese zappelnden Bewegungen gewöhnt, sie gehören zu unseren Arten des Sehens -, wecken sie Gefühle des Lächerlichen und des Alptraumhaften in uns.

Beides, das Gefühl der Lächerlichkeit, das so nahe an das Gefühl der Traurigkeit grenzt, und das andere, das Gefühl des Alptraumhaften, stellt sich bei uns angesichts unserer neuen Megalo- oder Metropolen ein. Es ist alles so, wie wir es damals geträumt hatten… … aber es ist ganz anders. Die Wolkenkratzergebüde sind nicht nur imposant, sie sind auch abstoßend geworden, „abstoßend” nicht nur im übertragenen, sondern auch im eigentlichen Sinn des Wortes, denn die Materialien, aus denen sie gefertigt wurden - Stahl, Beton, Aluminium, Glas -, sind ja eben darum gewählt, weil sie abstoßen. Leider’stoßen sie nicht nur Wind, Regen, Frost und sonstige Korrosionen ab, sondern auch die Augen, den Gleichgewichtssinn und das taktile Gefühl Sie sind, obwohl von uns gebaut, von uns nicht mehr begreifbar.

Und die Motorisierung? Dieser kindlich-große Traum von der Freiheit? Die zeigt Konsequenzen, an die kein Mensch je gedacht hatte. Überflüssig, sie hier aufzuzählen, jedermann weiß, daß die Luftvergiftung in manchen Städten exorbitante Werte erreicht (wobei man sich vorstellen muß,daß es das früher nicht einmal gedanklich gegeben hat, eine „vergiftete Luft”!), jeder weiß, daß unser ganzes Handels- und Bilanzsystem vom Auto abhängig ist, daß wir uns da in eine geradezu bizarre Monokultur verwickelt haben, daß das Energieproblem nicht zuletzt ein Autoproblem ist - und so fort in alptraumhafter Weise bis hin zur großen traurigen Lächerlichkeit der Stadtflucht am Wochenende.

Die Lage der Städte ist schlimm geworden, da hilft keine Beschönigung. Wir sind in eine große Verwirrung geraten: wir haben irgendwo und irgendwann, während wir diese neuen Städte bauten, verlernt, in ihnen auch zu leben.

Wir wissen nicht mehr, wohin mit lins zwischen diesen Maschinen und diesen Maschinen-Architekturen. Da wir nicht wissen, was wir in dieser Welt mit unseren Kindern tun sollen, bauen wir ihnen diese schrecklichen und seltsamen Käfige, in denen sie ein wenig Ballspiel betreiben können - wundem wir uns noch, wenn jedes dritte Schulkind Beruhigungstabletten schluckt oder wenn jedes zweite Kind femsehsüchtig ist (was ich für eine noch schlimmere Sache halte, denn dies schlägt sich nicht nur auf die Physis, sondern auch auf die Intelligenz und die Aktivitätsbereitschaft)?

Wir wissen schließlich nicht, wohin mit den Alten in unseren Städten, wir wissen nicht mehr, wie und in welcher Sprache wir miteinander umgehen sollen, und da wir nicht mehr wissen, wie man in den Städten eigentlich leben soll, wissen wir auch nicht mehr, wie man in ihnen stirbt - also schickt man in unseren Spitälern die Sterbenden weg wie eine Verpackung, deren Inhalt konsumiert wurde.

Es mag jeder aus seinen eigenen Erfahrungen in diesem Alptraumbild Ergänzungen oder Retuschen vornehmen. Grundsätzlich wird keiner an ihnen viel ändern; es gibt ja diesbezüglich bereits weithin schon einen Konsens.

Diese Kritik oder Klage gilt dem Zustand unserer Städte, sie gilt nicht der Stadt selbst. Mag sie auch voll babylonischen Unheils sein, so ist doch keine Frage, daß auch alles Heil nur von ihr kommen kann; auch das Himmlische Jerusalem wurde ja bekanntlich als Stadt vorgestellt. Aristoteles sagte: „Die Stadt ist geschaffen um des Überlebens willen. Aber sie besteht um des guten Lebens willen.”

Was je an Kultur, an Humanität entstanden ist, das wurde in Städten erdacht. Auf der Agora, dem Marktplatz, der Piazza, dem Forum, dem BaSar entstanden die Philosophien, die großen Dichtungen, die Theologien, die Kultur und was sonst das Leben lebenswert macht.’

Sinnlos, daran rütteln zu wollen. Nie mehr wird die Menschheit zum Status des wandernden Viehzüchters, des schweifenden Jägers, des selbstzufriedenen Bauern zurückfinden. Wir werden weiter in Städten leben und leben müssen. Die Frage ist heute nur - und das ist keine theoretische, keine philosophische, sondern eine Hic-et-nunc-Frage, wie wir das anstellen und woher wir jenes Maß an Hoffnung nehmen sollen, das wir dazu brauchen. Denn ohne Hoffnung war’s halt hoffnungslos.

Die Antwort ist schwierig, weil die Frage noch nicht alt ist, und weil’s nun einmal nicht leichtfällt, sich aus dem Labyrinth eines Alptraums zu lösen- die scheinbare Unentrinnbarkeit ist ja eines der Merkmale von Alpträumen.

Anderes kommt hinzu: jene Generation der Fünfziger, der ich wohl oder übel selbst zugehöre, die Generation der Träumer von damals, der Macher und neuerlich auch der Alpträumer, ist von der Geschichte allzugründlich in Anspruch genommen worden, also verlangt sie mit Recht nach Ruhe, obwohl ihr die offensichtlich nicht bewilligt wird.

Die nachfolgenden Jahrgänge aber, die, die das alles übernehmen und zum Besseren wenden sollten, zeigen offenbar wenig Lust, diese Last zu übernehmen. Sie verweigern sich, entziehen sich, neigen vielfach auch zu extremen Flucht- oder, noch schlimmer, zu Destruktionsreaktionen. Übel kann man es ihnen nicht nehmen, denn offenbar ist es uns nicht gelungen - oder konnte das der Zeitgeist nicht? -, sie zu lehren, das Instrumentarium zu gebrauchen, mit dem sie die riesige Interdependenzmaschinerie unserer Städte wieder in den Griff kriegen könnten.

Was bleibt uns an Hoffnung? Es bleibt uns - sonderbar es zu sagen - der Traum. Der Traum von einer anderen, von einer menschlicheren Stadt. Von einer Stadt, in der man nicht nur funktionieren, sondern auch wieder leben, gut leben und, das gehört dazu, gut sterben kann. Von einer Stadt, in der das Funktionelle nicht mehr Selbstwert hat, sondern eben Funktion bleibt, untergeordnet dem Lebendigen, aber auch (ich schäme mich fast, diese Worte auszusprechen, sie sind so unmodern, so unfunktionell) untergeordnet also auch dem Schönen und Guten und Liebevollen, und sogar - auch dieses Wort ist schwierig - dem Gemütlichen, dem Brüderlichen auch.

Es bleibt uns nichts anderes übrig; wir müssen träumen, von einer Gemeinde, in der sich’s brüderlich leben läßt.

Wenn ich es richtig sehe, wird schon an diesem Traum gesponnen. Wenn ich es richtig sehe, sind die Politiker, etwas verwirrt und verwun- dert noch, bereits im Begriff, diesen noch vagen Träumen der Leute nachzuspüren.

Die Daten der Meinungsforscher deuten gleichfalls darauf hin, daß wieder, aber anders als in meiner Kindheit, geträumt wird, nämlich von einer anderen Stadt: von einer, in der die Häuser nicht mehr höher als große Bäume sind, in der sich auf den Straßen und Plätzen mehr Menschen als Autos bewegen, und die Leute in einer Sprache, die noch nicht erfunden worden ist, wieder miteinander sprechen und einander fabelhafte Geschichten erzählen.

Ich weiß nicht, ob ich die Realisierung auch dieses Traums noch erleben werde, obwohl ich es sehr hoffe. Aber ich weiß, daß die Kinder heute, wenn sie in der Schule auf ihre Zeichenblätter eine Wunschstadt setzen sollen, keine grauen Wolkenkratzer, keine Schnellbahnen und Autos und Flugzeuge mehr malen, sondern bunte Häuser mit Blumenfenstern, Springbrunnen und Bäumen, die nicht höher sind als die Häuser ringsum.

Also denke ich, daß Hoffnung erlaubt ist.

(Aus einem Vortrag bei der Tagung des „Evangelischen Arbeitskreises in der ÖVP”.)

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