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Der Leutpriester von Marseille

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Marseille ist eine große, glänzende Stadt, wenn man auf der Prachtstraße der Canabiere steht. Sie scheint katholisch zu sein, da einem überall, wo man steht, zu Wasser oder zu Lande, die riesige Marienstatue von der Kirche Notre-Dame de la Garde von ihrer beherrschenden Höhe herab grüßt. Die künstlerisch wertlose Kathedrale ist ein Riesenbau von 140 Meter Länge, aber wenn man drinnen steht, hat man den Eindruck, sie wird nie voll und ist mehr ein Dekorationsstück als eine wohlbesuchte Kultstätte.

Wenn man von der Kathedrale mit dem Autobus eine Viertelstunde weiterfährt in die Vorstadt, dann verändert sich das Bild. Die Häuser werden niedrig, schmutzig und alt. Riesige Fabriken liegen dazwischen. Am Morgen, da ich hinausfuhr, eilten die Arbeiter eben an ihre Arbeitsstätten. Als ich mit einigen ins Gespräch kam, sah ich, sie hatten die gleichen Probleme wie unsere: steigende Preise bei gleichbleibenden Löhnen, die umstrittene fragwürdige Haltung der Regierung und änderet Als ich nach der Kirche von St. Louis fragte, sahen sie mich verwundert an. Die Kirche, die Religion überhaupt, erscheint als etwas Fremdes in ihrer geschlossenen Welt. Weiter draußen allerdings kennt sie jeder, was dort geschieht, ist so außergewöhnlich, daß es nicht übersehen werden kann. Die neue Kirche von St. Louis steht ein kleines Stüde abseits von der Hauptstraße. Sie ist ein moderner Zentralbau und wurde erst vor zwei Jahren eingeweiht. Einige Leute knieten in den Bänken, Priester sah ich keinen. Ich ging in die Sakristei und in die unverschlossenen Nebenräume, bis ich vor einem noch nicht dreißig Jahre alten, sympathischen Mann stand. Er trug ein Hose mit Gürtel, ein kurzärmeliges Hemd und Sandalen. Ich fragte, ob er von der Kirche sei. Ja. Vielleicht der Küster? Nein, er sei Priester. Pardon! Ob der Pfarrer in der Nähe sei? Er lächelte: Hier gibt es keinen Pfarrer! Was denn? Wir sind eine Arbeitsgemeinschaft. Der andere Priester sei eben in der Arbeit. Wo? In einer Zuckerfabrik. Er selber habe Nachmittagschicht. Was machen Sie in der Fabrik? Er zeigte, wie er mit einer Hand einen Hebel immer hin und her zu bewegen hat.

Ich bat ihn, mir von ihrer Arbeit in der Pfarre zu erzählen. Er führte mich auf das flache Dach der Kirche und sagte: „Dieses ganze Viertel ist unsere Pfarre. Etliche Zehntausende gehören dazu. Als wir sie übernahmen, trafen wir fünfzig praktizierende Katholiken an.“ (Ich ließ mir die Zahl wiederholen, weil ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben.) „Die anderen lassen wohl zum Teil ihre Kinder taufen, manche kommen zur Trauung, und zum Begräbnis ruft man auch gerne die Priester, aber das ganze übrige Leben ist rein heidnisch. Sie haben kein religiöses Bedürfnis. Sie gehen uns nicht mehr zu. Unsere ganze Arbeitsmethode besteht darin, daß wir sagen, wenn die Lejite nicht au ns kommen, dann gehen wir zu ihnen.“

„Wie machen Sie das?"

„Erstens wohnen wir nicht in einem Pfarrhaus. Das gibt es hier nicht. An der Kirche wohnt nur der Küster mit seiner Familie. Ich wohne dort hinten in Untermiete. Dort drüben wohnt mein Kollege. Wir sind nicht mehr Hausherren wie die früheren Pfarrer, sondern wohnen in Zinskasernen und sind Proleten wie unsere Pfarrkinder. Wir haben keine geheimen Zuschüsse und leben nicht nur zum Schein wie Arbeiter, sondern wir sind es wirklich,

wenn auch nicht der Abstammung nach. Wir gehen in die Fabriken und arbeiten wie die ändern. Wir haben keine Schein- arbeitsplätze etwa als Liebkinder der Fabriksherrn, sondern Laufen mit der Herde.“

Ich brachte die bekannten Bedenken gegen diese seelsorgliche Arbeitsmethode vor. Er antwortete darauf: „Wir sagen nicht, daß es alle so machen müssen. Auch in unsern Gruppen gibt es Priester, die sich nur dem Evangelium widmen. Erinnern Sie sich aber an Paulus, der mit Vorliebe, wenn er in eine neue Stadt kam, sich um eine Arbeit bei einem Zeltweber umsah, obwohl man ihn mit Unterstützungen nie im Stich ließ. Aber diese verwendete er lieber für andere Zwecke. Ich sage auch nicht, daß wir es immer so tun werden. Aber daß es sinnvoll und wichtig ist, für uns und die anderen, daß augenblicklich das geschieht, was wir tun, das läßt sich bei gutem Willen, wenn es auch manchen Mitbrüdern ein Ärgernis ist, nicht mehr leugnen. Wir wollen uns nicht besser machen als die ändern, aber ich glaube, in aller Demut sagen zu können, daß wir Vorarbeiter sind, auch für unsere Mitbrüder. Es muß sich ein neuer Typ von Leutpriestern bilden, er ist längst fällig.“

Ich erinnerte mich an eine große Stadt an der Riviera, an deren Pfarrkirche monatelang überhaupt nie gepredigt wird und wo sich der Klerus nur bei der Kollekte anstrengt. Ecclesia dormiens — schlafende Kirche! Auch in Frankreich gehen auf einen Mann von St. Louis tausend des alten Typus, wobei nicht gesagt werden soll, daß dieser durchaus abfällt. Der französische Katholizismus ist voll der Gegensätze: hier fortschrittliches Denken und Arbeiten und dort überlebt und tot. Was sie voraus haben, ist ihre herrliche Elite im hohen und niedern Klerus, ebenso wie bei den Laien.

„Wir wollen die Wiederbegegnting von Kirche und moderner Welt herbeiführen. Wir wollen dafür ein Klima schaffen. Wir müssen bescheiden sein mit unsern Erfolgen. Wir arbeiten auf lange Sicht. Es heißt sich mühen und geduldig warten.“ Ich erinnerte mich an ein ähnliches Wort des Grazer Historikers Karl Eder, wo er sagt: „Nach einer Periode des unerhörten Aktivismus kommt die Zeit der passiven Tugenden. Es heißt warten, abwarten, zuwarten." Wobei zu beachten ist, daß die passiven Tugenden nur denen gepredigt werden, die durch das Feuer eines unerhörten Aktivismus gegangen sind. Für die ändern, die schon immer dazu geneigt haben, gilt es nicht. Der Aktivismus und das Warten auf das Kommende, die Berührung mit der Welt wird uns umwandeln. Der wirklich moderne, das heißt zeitgemäße Katholizismus zeigt sich wahrscheinlich erst in den Anfängen. Dieses Geschlecht wird auch kaum seine Ausgestaltung mehr sehen. Vieles wird sich von selber auflösen, was allzu fest geworden, wer Augen bat zu sehen, sieht das Einschmelzen überall, auch wenn nicht viel darüber geredet wird. Das Klima verändert sich zusehends. Neues wird in Fluß kommen. Der ganz Prozeß bedeutet neues Leben.

Der Priester erzählte, wie sie in den Wohnungen der Arbeiter Gottesdienste feiern, freilich kein byzantinischen Pontifikalämter mit Riesenpomp, sondern einfach und schlicht, wie es der armen Welt dieser Menschen entspricht und wie es am Anfang auch Jesus getan hat, da er in die Häuser ging und das Brot brach.

„Was sagen die Mitbrüder dazu?" fragte ich.

„Der Bischof ist für uns, er hilft Und schützt. Einige Kanoniker mögen uns nicht und sehen furchtbare Gefahren."

Ich fragte, ob er auch zum Studieren komme. „Wir müssen viel studieren", sagte er eifrig. „Jetzt, wenn Sie fortgehen, werde ich mir gleich meine Bücher hernehmen. Wenn ich nur ein wenig Zeit habe, lese ich.“ Wahrscheinlich mehr, dachte ich, als so mancher, der gegen dich ein Krösus an Zeit ist und auf einer gemütlichen Pfründe sitzt.

„Was sagen die Arbeiter über eudi?“

„Sie rufen uns beim Vornamen und sagen das brüderliche Du zu uns. Sie sehen nur das Menschliche vorerst. Die Kommunisten nennen uns Spione des Vatikans.“

Großen Eindruck machte auf mich sein Realismus. Er gab sich keiner Täuschung über die äußeren und inneren Schwierigkeiten hin. Er war jedem naiven Optimismus fern. So sagte er: „Selbst wenn man die fünfzig Getreuen betrachtet, so muß man sagen, daß das nicht die künftige Kirche ist, der Typ von Christen, der sie tragen und repräsentieren wird. Aufs Ganze gesehen, verlieren wir weiter ..

„Ecclesia moritura meinen Sie?“ „Nein“, rief er leidenschaftlich: „Ecclesia resurrectura Auferstehende Kirche!“

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