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Die Dinge sind in Fluß

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Wie sieht es heute mit der Religiosität des russischen Volkes aus? Das ist eine Frage, die uns sehr interessiert. Denn die Russen waren bis zur Revolution im Jahre 1917 als religiöses Volk bekannt, und jener Teil der Intelligenz, der sich zum christlichen Glauben bekannte, war in seinen Bekenntnissen und Werken (wir brauchen nur an die ganz Großen, wie Dosto- jewskij, Tolstoj, Berdjajew und Solowjew, denken) in der ganzen Welt geachtet.

Wie steht die Religion heute, nach mehr als vierzig Jahren Verfolgung, Verspottung, Bekämpfung und neuerlicher Duldung, da? Wir meinen nicht die staatspolitische Stellung der Kirche in Rußland, sondern die Gläubigkeit dės Volkes. Was ist an Religion geblieben?

Es gibt darüber eine umfangreiche Literatur. Am besten informiert und am glaubhaftesten ist wohl Klaus M e h n e r t, der zahlreiche Reisen nach Rußland gemacht hat, Russisch wie seine Muttersprache spricht (er hat es auch von seiner Mutter gelernt) und einer der ersten Rußlandexperten ist. Wenn wir aber in seinem Buch „Der Sowjetmensch” das Kapitel über Religion gelesen haben, dann sind wir eigentlich so gescheit wie zuvor. Er getraut sich nicht, eindeutig und sicher zu urteilen. Er meint, das Ganze sei noch im Fluß, und über das religiöse Leben in Rußland könne man ebensowenig Voraussagen wie über die Wandlung des russischen Menschen überhaupt. Aber nach seiner Darstellung sind doch bedeutende Reste und Neuansätze für die Religion vorhanden.

Wie schwierig ein Urteil über diese Frage ist, sehen wir, wenn wir von einem Ausländer gefragt werden, wie stark die Religion in unserer westlichen Heimat sei. Es kann sein, daß wir mehr von den positiven Seiten beeindruckt sind, es kann uns aber auch der ständige Substanzverlust beeindrucken. Darnach wird auch unser Urteil ausfallen. Immerhin können wir aber auf starke Bekundungen des Glaubens hinweisen, wenn wir uns etwa nur den Kirchenbesuch landauf, landab vor Augen halten.

Wie sieht es ntin mit dem Kirchenbesuch in Rußland aus? Der Kirchenbesuch ist so schlecht, daß man es gar nicht aus- drücken kann. Es ist geradezu kindisch, wenn man jedes Jahr nach den OsterfHertagen in den westlichen Zeitungen liest, daß die russischen Kirchen überfüllt waren. Vergleichsweise wäre das so, als wenn bei uns in jedem Stadtteil eine kleine Klosterkirche zu Ostern bei einem einzigen Gottesdienst überfüllt wäre.

Wenn wir einmal bei uns soweit sind, dann wollen wir ruhig von einem Zusammenbruch der katholischen Kirche reden.

Eine so große Anzahl von Kirchen wie bei uns hat es in Rußland nie gegeben. Was heute aber für den Gottesdienst zur Verfügung steht, ist nicht der Rede wert. Wohl sieht man jetzt überall, zumal in Moskau, Gerüste an den Kirchen und Kapellen, und es wird geputzt, und die Kuppeln werden frisch gestrichen, aber deswegen wird dort auch noch nicht Gottesdienst gehalten. Die großen historischen Kathedralen sind Museen. Ich sah unter den Tausenden von Besuchern keinen einzigen religiös beeindruckt. Man geht in Massen durch, ohne sich dafür wirklich zu interessieren. Die riesigen Ikonen, von Rubljew etwa in der herrlichne Kreml- Kathedrale, werden nur kunstgeschichtlich betrachtet und erklärt, soweit man überhaupt Interesse dafür hat.

In dem berühmten Tretjakoff-Museum in Moskau ist ein Saal mit den schönsten und berühmtesten Ikonen. Dort hängt etwa die göttliche Wladimirskaja, die Heilige Dreifaltigkeit von Rubljew und der große Elias. Vor dem sentimentalen Kitsch der anderen Säle stauen sich die Massen, dieser Saal aber bleibt immer leer. Neben der Wladimirskaja, vor der ich mit Tränen in den Augen verweilte, steht eine Bank; auf ihr saßen zwei Burschen, die tratschen wollten. Was ich an dem Bilde fand, verstanden sie nicht. Wenn sonst jemand kam, so sah man sein Befremden. In dieser veralteten Welt fühlte er sich nicht wohl.

In der Kathedrale auf der Peter-Paul-Insel in Petersburg, die wie eine unserer Barockkirchen aussieht, stehen die Sarkophage der russischen Zaren, angefangen von Peter dem Großen. (Auf seinem Sarkophag liegt immer ein Blumenstrauß. Er und sein Werk werden vom System anerkannt.) Die Russen gehen nach dem Besuch des’Gefängnisses der Festung, wo die Zellen der Revolutionäre gezeigt werden, auch in die Kirche, um die Zarengräber zu sehen. Ich staunte darüber, wie wenige von den Männern in der Kirche den Hut abnahmen. Sie zeigten überhaupt keine Pietät, weder vor der Kirche noch vor den Gräbern. Das Wohn- und Sterbehaus Lenins in Gorkij darf man dagegen, wie eine Moschee, nicht mit Schuhen betreten, obwohl es nur einfachen Gummiboden hat. Auch darf man nur flüsternd sprechen, das Stiegengeländer, das Lenin benutzt hat, nicht berühren, sondern nur ein zweites, das daneben angebracht wurde.

Man hat aber nicht das Empfinden, daß das Volk zu dieser Pietät gezwungen werden muß; keiner hat eine Hemmung, mitzutun. Aehnliches sieht man vor und in dem berühmten Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau, wo die einbalsamierten Leichen von Lenin und Stalin tief unter der Erde in Glassärgen ruhen. Das Mausoleum ist nur zu gewissen Zeiten offen. Man muß oft stundenlang in der Reihe stehen, bis man hineinkommt. Schweigend stehen die Russen und warten. Unter atemloser Stille betreten sie den kostbaren Granitbau, der von Soldaten bewacht wird. Eine Ausländerin, die ein halblautes Wort sprach, wurde von den Wachen sofort zur Ruhe gemahnt. Wenn die Tore geschlossen sind, stehen immer Gruppen schweigend vor dem Grabmal. Sie beten nicht, aber sie sind von Ehrfurcht erfüllt, und ihre Haltung erscheint mir als echt. Macht, äußerste Macht, hat im östlichen Menschen immer religiöse Schauer erweckt. Und das Mausoleum ist für sie Repräsentanz höchster Macht.

Der russische Mensch hat sich in diesen vierzig Jahren gewandelt. Die Religion ist für ihn etwas Vergangenes, Gestriges.

In einem evangelisch-theologischen Kolleg in Deutschland wurde versucht, die Hörer über den Weg der Verzweiflung zum Glauben zu führen. Die Kurve abwärts haben alle mitgemacht, den Weg aufwärts nur wenige. Aehnliches kann man vom russischen Menschen sagen. Es ist der bolschewistischen Führung gelungen, den alten Glauben in Mißkredit zu bringen und in den Herzen auszurotten. Die Masse der Russen hat gar keine Möglichkeit, das Christentum kennenzulernen. Ich wiederhole das oben Gesagte über den zur Verfügung stehenden Gottesdienstraum und weise auf die Unmöglichkeit jeder religiösen Propaganda hin.

Gibt es also gar keine Bekundung christlichen Glaubens in Rußland?

Natürlich gibt es auch das. Aber es ist so schwach und unbedeutend, daß es, aufs Ganze gesehen, nichts mehr aussagt.

In Moskau sah ich mehrere Kirchen, in denen Gottesdienst gehalten wird. Ich nahm an einem solchen teil. Ich sah einen alten Blinden beim Tor hereintappen. Er ging von Ikone zu Ikone, beugte sich, küßte unzählige Male den Boden und bekreuzigte sich ebensooft. Vor mir stand eine junge Frau. Sie folgte gespannt dem Gottesdienst und bekreuzigte sich und beugte sich ohne Ende zur Erde. Die Priester waren nicht einmal so alt. Sie verrichteten den heiligen Dienst mit Hingabe, aber es war mir, als lauschten sie dabei woanders hin, als wären sie doch nicht g-inz bei der Sache…

Sie waren müde und mußten viel Schweres (ich sage gar nicht Verfolgung oder ähnliches) hinter sich haben. Man sah, zum Unterschied vom Russen der Straße, Gesichter mit individuellem Ausdruck, Russen alter Art, aber ich hatte den Eindruck, dieser kleine Rest ist nicht einmal eine Sekte. Sie sind sp unbedeutend und so ungefährlich, daß man sie ruhig lassen kann, denn sie können jederzeit mit einem Handstrich weggelöscht werden. Gewiß kann aus dem kleinsten Funken noch ein Weltbrand entstehen, aber wir haben es in der Geschichte zu oft erlebt, daß ganze christliche Kulturen starben, so daß wir zumindest an die Möglichkeit der Vernichtung der christlichen Religion in Rußland glauben müssen.

Mancher wird sich erinnern, wie russische Soldaten im Krieg heilige Bilder und Stätten bei uns ehrten und ähnliches. Auf dem Land mag es etwas besser sein, im ganzen aber ist die Lage ziemlich hoffnungslos, und wir sollten aufhören, unsere Hoffnungen auf vage Berichte von religiösen Bewegungen im Untergrund zu setzen. Das ist genau so fragwürdig, wie auf eine politische Restauration in Rußland zu hoffen. Der Weg zurück ist vorläufig verschüttet. Wir können nur sagen: „Was bei den Menschen unmöglich erscheint, das ist Gott möglich.” Aber Gott hat auch schon den Tod des Christentums etwa in Kleinasien oder Nordafrika zugelassen, so daß ähnliches auch in Rußland geschehen kann. Ich glaube, es ist nicht richtig, wenn wir die Schuld am ganzen dem Kommunismus allein zuschieben. Es sieht nicht so aus, als hielte man das Volk heute mit Gewalt vom Glauben ab. Man ist liberaler.

Max Scheler lehrt, daß es keinen Menschen ohne Glauben gibt. Jeder hat einen Altar, auf dem ein Gott oder Gottersatz steht, den er anbetet. Das gilt auch für den Russen. Ein Russe hat zwar den Ausdruck Nihilist aufgebracht, aber dieses Nichts ist bloß die Verneinung des Vergangenen und Aussage über einen neuen Zustand, der sich noch schwer umreißen läßt. Im Grunde ist es derselbe Gott oder Götze, den auch der Westen, wenn auch heuchlerischer, anbetet: der technische Fortschritt, die neue materielle Weltkultur. Die Moskauer Universität ist wie- eine moderne Kathedrale mit einem riesigen Turm gebaut. Symbol eines neuen Weltgefühles, eines neuen Mythos, eines neuen Glaubens. Der Sputnik hat das einfache Volk wieder einmal von der Genialität, dem Vorrang, der Auserwählung und Macht Rußlands überzeugt. Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Russen fühlten sich wie hinter einem Eisernen Vorhang, also hinter Gittern, in einem riesigen Konzentrationslager. Sie kennen nichts anderes.- Wenn auch, an westlichen Verhältnissen gemessen, das Leben des Russen armselig und eingeengt ist, er empfindet das nicht, weil es ihm doch jetzt in vielerlei Hinsicht besser geht. Und er ist dankbarer für Besserungen als wir, denen es viel zu gut geht. Nach Stalin ist das Leben etwas freier geworden, wenn die Aenderung uns auch geringfügig erscheint. Die Russen fühlen sich in einem Schiff sitzend und schicksalsmäßig verbunden. Der Bolschewismus ist heute ihr Schicksal, so wie früher einmal die Mongolen oder die Zaren. Dostojewskij hat Rußland ein großes Schiff genannt und hinzugefügt, ein großes Schiff habe eine weite Fahrt. Dieses beinahe mystische Gefühl ist geblieben.

Ich glaube nicht, daß das russische Volk dort anknüpfen kann, wo es einmal unter Zar und Popen stand. Wir aber sollen uns vor allem Pharisäismus hüten, als wären wir die Besseren, Gescheiteren, Glücklicheren und Christlicheren.

Wir leben in einer großen Weltkrise, die Dinge sind im Fluß. Auch die Religionen werden davon berührt. Was etwa Jaspers meint, wenn er davon spricht, daß sich die biblischen Religionen wandeln müssen, was der Papst meint mit dem Ausdruck: Alles (also auch die Kirche) in Christo zu erneuern!

Sind in der Orthodoxie, so wie sie in winzigen Resten in Rußland lebt, Ansätze zu dieser Erneuerung da? Es scheint zu früh, darnach zu fragen. Der Sturz, der sie getroffen hat, war zu tief, die Katastrophe nach der vorhergehenden Ahnungslosigkeit zu groß.

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