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„Es ändert sich nichts“

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Teilnehmer an der Bildungsakademie des ÖCV fuhren nun schon zum drittenmal in“ die Sowjetunion. Erfreulich sind bei solchen Fahrten die stets außergewöhnlich gut organisierten Kontaktprogramme. Bei einer der früheren UdSSR-Reisen hatte man ein langes, Gespräch mit S. H. Waskem I., dem Patriarchen der armenischen Kirche. Einer der Höhepunkte des diesjährigen offiziellen Programms war der Besuch der theologischen Akademie in Sa-gorsk, dem Sitz des russisch-orthodoxen Patriarchen, etwa 70 km östlich von Moskau.

Das riesige Kloster mit dem Grab des in Rußland hochverehrten heiligen Sergej gleicht einer Oase des Friedens. Nur das Lenin-Bild an der Hausfassade eines dem Hauptklostereingang gegenüberliegenden großen Hauses gemahnt daran, daß wir uns in der „anderen“ Hälfte der Welt befinden. Vor einer Kathedrale liegt das Grab des Boris Godunow, das einzige Zarengrab außerhalb Moskaus und Leningrads. Allein das große Ikonenmuseum von Sagorsk ist eine Reise wert. Von Ikonenvorläufern aus Ägypten und Kleinasien aus dem 4. Jahrhundert bis zur Gegenwart wird hier ein lückenloser Überblick über die Entwicklung der Ikonenmalerei geboten. Ein verschmitzter junger Mönch zeigte immer wieder auf den „Christos Pantokrator“. Als die Dolmetscherin, die später erklärte, sie habe in ihrem ganzen Leben noch nicht so viel von Religion gehört wie hier an einem Tage, das Wort „Pantokrator“ nicht verstand und der junge Mönch erkannte, daß wir es verstanden, zeigte er zum Abschied auf eine beliebige Ikone und sagte nur: „Christos Pantokrator!' Dann ließ er die Dolmetscherin übersetzen: „Wir können ja so manches ausdrücken, was wir sonst nicht sagen können.“

Nach dem Empfang mit einem Glas Kwas am Eingang zur Theologischen Akademie trugen wir uns ins Gästebuch ein und wurden dann durch die Wohnung des verstorbenen Patriarchen Alexej geführt, der in Sagorsk studiert hatte. Sein Vater war Kammerdiener am Zarenhof gewesen. Alexej war schon früh Bischof geworden und hat als Patriarch zum Widerstand gegen die Hitler-Armee aufgerufen, weswegen er als einziger Priester der UdSSR viermal mit einem der höchsten Orden ausgezeichnet worden ist Schließlich wurden wir vom Generalmagister der Hochschule empfangen. Er berichtete zunächst, daß von den 248 Millionen Bürgern der UdSSR 50 Millionen Getaufte seien und etwas weniger als 50 Millionen den Glauben auch praktizierten, 42 Bischöfe verwalten die 350 Kirchenkreise. Einzige Einnahmequelle der russisch-orthodoxen Kirche ist der Kerzenverkauf in den Kirchen. Der Staat zahlt keine Kopeke für die Erhaltung der Gotteshäuser, nicht einmal für die Renovierung der Kunstdenkmäler. Wie groß der Opferwille der Gläubigen ist, mag man daraus ersehen, daß bei einem Maximallohn von 140 Rubel für den Arbeiter und 200 Rubel für leitende Ingenieure allein die Renovierung von Sagorsk 10 Millionen Rubel kostete und aus den Mitteln der Kollekten und des Kerzenverkaufs bezahlt wurde. Jede Religionsausübung außerhalb des Gotteshauses ist streng verboten. Seit 1917 wurde keine einzige Kirche gebaut; der Neubau von Kirchen ist verboten. Folglich findet man in Städten wie etwa Wolgograd mit seinen 800.000 Einwohnern auch keine einzige Kirche.

In Sagorsk studieren 150 Theologen, weitere 500 im Fernstudium. Nach Absolvierung der Akademie müssen die jungen Theologen sich entscheiden, ob sie Mönch werden oder heiraten wollen. Ein Zölibat im römischen Sinne gibt es nicht. Da jedoch alle Mönche zölibatär leben müssen und die Bischöfe nur aus dem Kreise der Mönche gewählt werden können, verzichten viele Theologen aus „Karrieregründen“ auf die Ehe. Der Theologe muß vor der Priesterweihe heiraten. Nach der Weihe kann er nicht mehr heiraten. Stirbt die Frau aber, so kann er dann immer noch Bischof werden. Die Theologiestudenten stammen natürlich oft aus Priesterehen. Vom Staat erhalten sie keinerlei Unterstützung und oft genug bereite man ihnen Schwierigkeiten, wenn eine Gemeinde eine „Arbeitskraft nicht entbehren kann“. Ein Parteimitglied der KPdSU ist vom Theologiestunen uns nicht erschüttern. Wir dienen allein Christus und bauen allein auf ihn.“ Am ökumenischen Dialog zeigte sich der Generalmagister sehr interessiert. Er beklagte, daß Rom sich in den letzten 20 Jahren weiter von der Orthodoxie entfernt habe als vorher in Jahrhunderten.

Der Moskauer Patriarch Pimen residiert heute meist im Jungfrauenkloster an der Moskwa, am Stadtrand von Moskau, einem 1524 gegründeten Wehrkloster zum Schutze Moskaus, das heute noch nach dem Kreml der größte Sakralbezirk der russischen Hauptstadt ist. Hier, bei den Gräbern Rubljows, Gogols und Chrustschows, befindet sich noch ein großer Teil der alten Anlagen im Besitz der Kirche. Es war ergreifend, zu erleben, wie in der überfüllten Kirche während des Gottesdienstes mehrere Kinder getauft wurden. An dieser Stelle fiel mir die Argumentation eines Juden ein, der mir in Jerusalem zur Begründung, warum Jerusalem rechtmäßig den Juden gehöre, erklärt hatte: „In Jerusalem hat es immer Juden gegeben. In einer Chronik aus der Zeit der Kreuzfahrer heißt es, daß es damals in Jerusalem nur einen einzigen Juden gab. Solange aber ein einziger Jude in Jerusalem ist, so lange gehört die Stadt uns ...“

Erschütternd ist die Situation der katholischen Kirche. Die 1596 geschlossene Union von Brest mit der ukrainischen Kirche wurde 1945 von Stalin zwangsweise gelöst. Man legte den Priestern ein Ubertrittsformular vom Staat eingesetzte Kirchenbehörde verwaltet die Kirche und öffnet die Opferstöcke ... Der Priester darf das nicht. Kleinere Schikanen sollen zermürben: während der Sowjetbürger für eine Kilowattstunde Strom 4 Kopeken bezahlt, muß die Kirche 25 Kopeken zahlen. Die orthodoxe Kirche besitzt noch fünf Priesterseminare: in Sagorsk mit insgesamt 650 Studenten, in Leningrad mit 150 Studenten, in Kiew, Odessa und in Kasan. Die katholische Kirche hat nur noch zwei Priesterseminare und Diözesen: das Bistum Riga in Lettland mit drei Bischöfen, von denen einer an der Amtsausübung gehindert ist, und 15 Theologiestudenten, und das Bistum Kaunas in Litauen mit 50 Theologistudenten und 60 Gymnasiasten. Infolge des Spitzelwesens ist das Mißtrauen des alten Klerus gegen die Seminaristen so groß, daß Priester das bekannte Sprichwort „Homo homini lupus“ in „Sacerdos sacerdoti lupior“ umgewandelt haben. Spitzel und Agenten kommen zu den Priestern in die Beichte oder geben vor, sie wollten konvertieren. So kann ein Priester niemandem trauen, nicht einmal dem Bischof. Als etwa der letzte Bischof von Riga starb, wurde ein Besetzungsvorschlag gemacht. Die Legierung lehnte ab. Ebenso den nächsten. Und den übernächsten. So ging es weiter: insgesamt 14 Vorschläge wurden abgelehnt. Wie der 15. Kandidat ist, kann man sich leicht vorstellen.

Soll ein Kind getauft werden, so muß der Priester die schriftliche Einverständniserklärung beider Elternteile vorweisen können. Die Taufe wird dann in ein öffentliches Taufregister in der Sakristei eingetragen, so daß die Kirchenverwaltung dies sofort der Partei weitermelden kann. Es versteht sich von selbst, daß Eltern, die ihre Kinder taufen ließen, Repressalien ausgesetzt sind.

dium auageschlossen. Hier gilt die Unvereinbarkeitsklausel: ein Kommunist kann kein Priester oder Theologe sein.

Die Zahl der Gläubigen bezeichnete der Generalmagister als seit Jahrzehnten konstant. Es gebe keinen Priestermangel. Eine Anpassung der Liturgie hielt er nicht für erforderlich. „Wir halten hier die Tradition hoch, was auch geschehen mag. Die Gegenwartsprobleme könzur russisch-orthodoxen Kirche vor: wer nicht unterschrieb, wurde sofort nach Sibirien deportiert. In Litauen gibt es noch 800 Priester, in Lettland 150 und in der Ukraine 40. Dann gibt es noch drei zu französischen Vertretungen gehörende Kirchen in Moskau, Leningrad und in Odessa. Letztere drei Kirchen sollen als „Aushängeschilder“ den Touristen Religionsfreiheit vorspiegeln. Aber auch hier ist alles nur Schein: eine

Der Besucher findet die berühmte These Herbert Marcuses, daß sich die beiden Systeme in Ost und West einander angleichen, auf Schritt und Tritt widerlegt. Es gibt rein gar nichts, das zu der Hoffnung Anlaß gäbe, daß sich hier irgend etwas ändert. Ja, selbst führenden Ideologen und Philosophen ist nach ihrer Auskunft etwa Ernst Bloch völlig unbekannt. Ein Kurswechsel oder eine Erleichterung des Loses der Religion ist nicht zu erwarten. Beschriftung der Photos etwa Pauls VI. im atheistischen Museum von Leningrad zeigen deutlich, daß von einer friedlichen Koexistenz keine Rede sein kann.

Wer die tiefe Frömmigkeit der Russen in den orthodoxen Kirchen sieht, das Sich-ganz-Ergeben in den Willen Gottes, das Auf-sich-Neh-men des von Gott Gegebenen, mag verstehen, wieso die russische Bevölkerung ihr Geschick zuwenig selbst in die Hand genommen hat und wieso die Oktoberrevolution so widerspruchslos Fuß fassen konnte. Anderseits aber spricht die kommunistische These, der Zusammenbruch der Kirche zwischen 1917 und 1920 beweise ihr vorheriges- Versagen, gegen den Kommunismus selbst: denn es könnten heute nicht 30 Millionen Menschen an der orthodoxen Religion festhalten, wenn die Kirche nicht vor 1917 auch über erhebliche Substanz verfügt hätte. Das Los des Glaubens in glaubensloser Umwelt, mit dem Lenin-Kult als totalitaristischer Ersatzreligion, ist hart. Ergreifend und erschütternd ist für uns westliche Christen daher die russische Glaubenstiefe und das russische Gottvertrauen. Ein Priester sagte mir offen: „Wir haben 300 Jahre in den Katakomben gelebt, 70 Jahre dauerte das Schisma von Avignon, wir haben Napoleon und den Faschismus überlebt — nun ja, dann werden wir doch die 50 oder 100 Jahre Kommunismus auch überleben! Wir dürfen die Gegenwart nicht nur negativ sehen. Wir müssen dies alles letztlich als Gnade Gottes erkennen, der die Spreu vom Weizen trennen wollte. Wenn wir die Mitläufer und Opportunisten abziehen: waren wir dann nicht immer schon die Stimme eines Rufenden in der Wüste?“

Hier in Rußland, in der Kirchenverfolgung des 20. Jahrhunderts, versteht man die vatikanische Diplomatie nicht recht. Die Ernennung von Friedenspriestern zu Bischöfen in der CSSR, die Verhandlungen mit Polen und Ostdeutschland werden hier als Ärgernis angesehen. Wird die Geschichte nicht auch eines Tages die Verträge des Erzbischofs Casaroli so bewerten, wie wir es mit dem Konkordat zwischen Hitler und dem Vatikan tun? Eine Reise nach Rußland könnte zur richtigen Akzentuierung der kirchlichen Politik viel beitragen.

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