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Wieder eine Mesner-Kirche?

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Die Absetzung des ungarischen Primas, Kardinal Mindszenty, durch Papst Paul VI. hat in der christlichen Welt einen tiefen Schock ausgelöst. Insbesondere waren es die nicht-progressiven Kreise der Kirche, die über diesen Schritt bestürzt waren. Kardinäle wie Alfrink oder Suenens, die in den vergangenen Jahrzehnten durch ihre Haltung so manche Verwirrung in der Kirche anrichteten, hatten kein ähnliches Schicksal wie Kardinal Mindszenty erfahren, der seine Treue zu Kirche und Papst mit vielen Verfolgungen, Folterungen und langjähriger Haft bezahlen mußte. „Ist die Kirche überhaupt noch glaubwürdig?“, fragte in einem scharfen Artikel, der mit den Worten „Nein, Herr Papst!“ überschrieben war, der „Rheinische Merkur“.

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Die Absetzung des ungarischen Primas, Kardinal Mindszenty, durch Papst Paul VI. hat in der christlichen Welt einen tiefen Schock ausgelöst. Insbesondere waren es die nicht-progressiven Kreise der Kirche, die über diesen Schritt bestürzt waren. Kardinäle wie Alfrink oder Suenens, die in den vergangenen Jahrzehnten durch ihre Haltung so manche Verwirrung in der Kirche anrichteten, hatten kein ähnliches Schicksal wie Kardinal Mindszenty erfahren, der seine Treue zu Kirche und Papst mit vielen Verfolgungen, Folterungen und langjähriger Haft bezahlen mußte. „Ist die Kirche überhaupt noch glaubwürdig?“, fragte in einem scharfen Artikel, der mit den Worten „Nein, Herr Papst!“ überschrieben war, der „Rheinische Merkur“.

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Gewiß, die Vorgangsweise des Vatikans war für viele schmerzlich. Und vor drei, vier oder fünf Jahrzehnten wäre in ähnlichen Fällen sogar ein so hart regierender Papst wie Pius XI. wahrscheinlich noch anders verfahren. Er härte wahrscheinlich den ungarischen Primas zum „Erz-priester von San Pietro“ ernannt, eine Beförderung, die auch die Kardinäle Mery de Val oder Rampolla erfahren haben, welche Beförderung in dem oft so bissigen Rom als ein Luxusbegräbnis für Kardinäle bezeichnet wird. Aber vor drei, vier Jahrzehnten hätte sich auch noch ein Primas einem so eindeutigen Wunsch des Papstes, wenn auch noch so schweren Herzens, aber ohne Flucht an die Öffentlichkeit gebeugt. Aber so schmerzlich die Maßnahme des Vatikans für den ungarischen Primas und für viele Christen auch ist, alle jene, die dem Vatikan vorwerfen, er hätte mit dieser Handlung seine alte Linie aufgegeben und die Getreuesten der Treuen geopfert, irren sich.

Sie übersehen eines: Durch die unerschütterliche Treue, die in den vergangenen Jahrzehnten Kardinäle wie Mindszenty, Stepinac, Trochta, Wyszinski und Hunderte von Bischöfen und. Priestern der Kirche in den Ostblockstaaten bewiesen haben, hat sich die Haltung der östlichen Regime gegenüber der Kirche in ihren Ländern gewandelt. Nicht daß sich diese Regime gewandelt hätten, aber sie sind mehr oder minder zu der Überzeugung gekommen, daß mit brutaler Gewalt allein die Kirche nicht bezwungen werden kann. Ihr Einfluß kann nur zurückgedrängt werden, wenn man sie langsam aushungert und darüber hinaus sie soweit wie möglich in den Griff des eigenen Apparates bekommt.

Wie eine Kirche ausgehungert werden kann, zeigt das Beispiel, welches die katholische Kirche während der Türkenzeit in Ungarn erlitt. Während der 150 Jahre, in denen mit Ausnahme eines kleinen Streifens in Westungarn und in der Slowakei das gesamte Ungarn durch die Türken besetzt war, sank die katholische Kirche zu einer Mesner-Kirche herab. In der damaligen Zeit wurden die ungarischen Bischöfe (wie auch die österreichischen und böhmischen) nicht durch den apostolischen Stuhl in Rom, sondern durch den apostolischen Herrscher in Wien ernannt. Der Vatikan hatte nur das Recht, der Ernennung zuzustimmen oder sie aus wichtigen Gründen zu verweigern. Die Habsburger ernannten während der ganzen Zeit der türkischen Besetzung Bischöfe für die ungarischen Diözesen, die aber nicht in den besetzten Gebieten, sondern vielfach in Wien lebten. Der Vatikan bestätigte die Ernennung, wenn irgendwie der Lebensunterhalt dieser Bischöfe gesichert war. Da diese Bischöfe nicht in den besetzten Gebieten lebten, konnten sie auch keine Priester in diesen Gebieten weihen. Innerhalb kürzester Zeit — und einige Jahrzehnte sind historisch eine kurze Zeit — gab es im türkischen Ungarn keine Priester mehr. Mesner traten, so weit es ging, an ihre Stelle. Sie tauften die Kinder und begruben die Toten. Sie hielten am Sonntag einen Art Wort-Gottesdienst ab und assistierten bei den Hochzeiten. Sogar eine Art Lossprechung, natürlich nicht sakramentaler Art, gaben sie bei Bußandachten. Von den sieben Sakramenten der Kirche konnten nur zwei gespendet werden: die Taufe und die Ehe. Nur einige heroische Franziskaner durchzogen von Zeit zu Zeit mit Bewilligung der türkischen Behörden das Land, feierten die Messe, hörten Beichte und spendeten die letzte Ölung. Sie waren bei der Bevölkerung sehr beliebt und nicht minder bei — den türkischen Behörden. Auch diesen Franziskanern muß dieses Leben viel Freude gemacht haben, denn als die türkische Besatzungsmacht infolge der Siege der kaiserlichen Waffen abzog, gingen diese Franziskaner mit ihnen mit.

So bewundernswert das Wirken dieser der Kirche treu ergebenen Menschen war, so war der Zustand der Kirche in Ungarn zu dieser Zeit doch mehr als dürr. Hätte die türkische Besatzung angedauert, so hätten sich die Reste des Christentums, ähnlich wie in Japan, gewiß durch Jahrhunderte erhalten, aber ein echtes christliches Leben wäre kaum möglich gewesen. Denn die Kirche kann nur dann funktionieren, wenn es Bischöfe und Priester gibt. *

Im heutigen Ungarn gibt es so viele Bischöfe wie es sie vielleicht nicht einmal zur Zeit des heiligen Stephan gegeben hat. Sämtliche zehn Diözesen sind entweder mit echten regierenden Bischöfen oder mit Administratoren, die größtenteils flie Bischofswürde besitzen, besetzt. Daneben gibt es eine Reihe von Weihbischöfen, so daß die Zahl der Epi-skopi zwanzig übersteigt. Diese zehn Diözesen besitzen fünf Priesterseminare, die unbeschränkt Kandidaten aufnehmen können. Zum Unterschied von der Tschechoslowakei, wo für sechs große böhmische Diözesen jährlich nur zwanzig Priester geweiht werden dürfen, gibt es einen derartigen Numerus clausus in Ungarn nicht. Sogar vier Orden dürfen noch in Ungarn wirken, drei männliche und ein weiblicher, die zusammen acht geistliche Gymnasien unterhalten können, an denen zum Unterschied von Österreich nur Patres beziehungsweise nur Schwestern unterrichten. Die Orden dürfen allerdings nur zwei Kandidaten pro Jahr aufnehmen, wodurch ihr Aussterben zumindest verhindert ist. Und die Gymnasien umfassen nur die oberen vier Klassen, in denen außerdem ein Unterricht über die marxistischleninistische Lehre erteilt werden muß.So erfreulich äußerlich dieser Zustand der Kirche in Ungarn erscheint, darf nicht übersehen werden, daß der tatsächliche Zustand alles andere als zufriedenstellend ist. Die Kirche befindet sich nahezu vollständig in den Händen des Staates. Es ist die Wiederkehr des Josephinismus auf kommunistischer Basis. Bischöfe können nur mit Zustimmung des Staates ernannt werden. Und der Staat, der über die Kirche durch sein Kirchenamt regiert, weiß jeweils seine Kandidaten durchzudrücken. Es ist oft ein nicht schöner Handel, der hier getrieben wird: füjl&ijm dffD;VaÄan_geneh-men Kandidaten muß er der Ernennung von drei bis vier Kandidaten des Staates zustimmen. Aber so betrüblich dies ist, wird es durch die Tatsache gemildert, daß die Bischöfe eigentlich nicht die wahren Regenten ihrer Diözese sind. Sie müssen ein ziemlich tatenloses Leben führen, denn die eigentlichen Regenten der Diözesen sind die Generalvikare, die das Regime eisern in ihren Händen halten. Dank irgendwelcher Vorkommnisse in ihrem früheren Leben, die dem Staat bekannt sind.

Die einst so reiche Kirche Ungarns hat allen Besitz verloren. Die Bischöfe und Priester leben von staatlichen Gehältern, freiwilligen Gaben der Gläubigen, Kirchensteuern, die eingehoben werden dürfen und auch Zuschüssen aus dem Ausland, die die Caritas vermittelt. Ein reicher Strom von Büchern und Zeitschriften ergießt sich ebenfalls durch Vermittlung der internationalen Caritas aus dem Ausland zu den Priestern in Ungarn. Aber der geistige Zustand des Klerus sackt immer mehr ab. Die Trostlosigkeit des täglichen Lebens, die Unmöglichkeit,mehr zu tun, als die Messe zu zelebrieren, die Kinder zu taufen und die Sterbenden zu versehen, die Toten zu begraben, am Sonntag eine Predigt zu halten und in den Dörfern den Kindern der Volksschule einen dünnen Religionsunterricht zu ge-bert, läßt sie ein immer geistloseres Leben führen. Ihr Interesse gilt vielmals dem Kartenspiel, dem Fernsehen, der Erlangung eines kleinen Autos, und wenn es viel ist, Blumen und Bienen in dem kleinen Garten zu züchten, den sie betreuen dürfen. Das Ganze erinnert in vielem an die Zeit der Mesner-Kirche unter der türkischen Herrschaft, nur mit dem Unterschied, daß ein volles sakramentales Leben der Kirche in Ungarn möglich ist.

Welche Chance hat somit die Kirche in Ungarn? Die gleiche, die sie in allen östlichen Ländern hat. Ich möchte hier zwei Beispiele anführen, die ich persönlich erlebt habe: das eine im zweigeteilten Berlin. Im westlichen freien Berlin waren die Kirchen leer. Im “östlichen Berlin mußte man sich am Sonntag um neun Uhr in die Hedwigs-Kathedrale begeben, um für die 10-Uhr-Messe noch einen Sitzplatz zu bekommen. Um 9.30 Uhr mußte der Dom bereits wegen Uberfüllung gesperrt werden. Und das andere Beispiel aus Ungarn: Vor einiger Zeit verschlug es mich in ein kleines ungarisches Dorf. Durch Zufall lernte ich den Pfarrer kennen, der schon 40 Jahre bei seiner Gemeinde war. Sein Pfarrhaus war so arm wie das Haus des Pfar-res von Ars. Mit Stolz zeigte er mir die Kirche, die die ganze Gemeinde freiwillig durch Samstag- und Sonntagarbeiten hergerichtet hatte. „Alle?“ fragte ich mit etwas böhmischer Verschlagenheit. Er hatte sofort verstanden und bestätigte meine Frage. Beim Gang durch das Dorf grüßte ihn jeder, der ihm begegnete mit „Gelobt sei Jesus Christus“. Das Postfräulein und der Bürgermeister erstarben vor Ehrfurcht, als sie ihn sahen. Er war ein wahrer Heiliger.Und dies ist die goße Chance, die die Kirche in diesen Ländern hat: den täglichen kleinen Weg zur Heiligkeit zu gehen. Und diesen kann der Mensch im allgemeinen nur gehen, wenn er die Hilfe aller Sakramente erhält. Denn auch die Gnade ist eine geschichtswirkende Kraft. Eine Tatsache, die allerdings Nicht-christen nicht verstehen werden. *

Der berühmte Schriftsteller Raffalt, Verfasser des Theaterstückes „Der Stellvertreter“, hat vor kurzem in einem Buch, das er herausgab, die Ostpolitik des Vatikans sehr negativ beurteilt. Er hat allerdings' auf eines vergessen hinzuweisen: auf die Aufweichung der freien Welt durch die eigenen Bürger. 27 Prozent der Wähler Italiens, in dessen Gebiet der Vatikan liegt, geben ihre Stimme der kommunistischen Partei. Weitgehend ist Europa links geworden. Die Verteidigungsbereitschaft des Kontinents ist gesunken. Vor den Erpressungen eines Scheichs von Kuweit und anderer ölfürsten fiel dieses angeblich so mächtige Europa um wie die Figuren eines Kegelspiels. Eine Haltung, die auf die USA sehr bestürzend wirkte. Immer mehr Bürger der USA fragen sich, warum denn 200 Millionen Amerikaner 250 Millionen Europäer vor 240 Millionen Sowjetrussen schützen sollen, wenn die freien Europäer sich selbst nicht verteidigen wollen? Schon kursieren in den Außenministerien Europas Gerüchte, die besagen, die USA habe Sowjetrußland ein weitgehendes Desinteressement an Europa mitgeteilt, im Gegengeschäft zum Desinteressement der Russen an Asien. Die Welt kann nur hoffen, daß dieses Gerücht nicht wahr ist. Aber sicherlich ist es auch dem Vatikan bekannt, wie ihm ja auch die ganze Situation der Welt und in den Ostländern bekannt ist. Und ihn zwingt, alles mögliche zu tun, um ein Mindestleben der Kirche in jeder Situation zu ermöglichen.

Da sind wahrscheinlich die Hintergründe, die die Absetzung Mind-szentys — nochmals sei betont, daß die Form gar nicht schön war — bewirkten. Ungarn hat sicherlich unmißverständlich dem Vatikan er^ klärt, daß eine Aufrechterhaltüng des Mindestlebens der Kirche in Ungarn nicht gewährleistet sein werde, solange Mindszenty formalrechtlich Primas bleibt.

Der große Gewinner dieses Spiels für sich wie auch für Ungarn ist der ehemalige Primas. Er ist jetzt aller Fesseln ledig. Denn durch seine Absetzung fällt auch die Zusicherung, daß er sich in keiner Weise „politisch“ betätigen werde, weg. Er kann nun der große Künder und Herold des anderen Ungarn werden. Sein Leibarzt versicherte ihm, daß er noch mindestens 25 Jahre leben werde. 25 Jahre in Freiheit gegenüber 25 Jahren der Gefangenschaft, in denen er schweigen mußte. In diesen 25 Jahren, die vor ihm liegen, kann er eine Rolle spielen, die ihm weit über die an sich problematischen Rollen eines Räkoczy und Kossuth hinausheben und sogar das Genie eines Szechenyi in den Schatten stellen. Die scheinbaren Verlierer sind oft die wahren Sieger.

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