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Widersprüche und Hoffnung

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Die bekannte österreichische Journalistin Heide Pils hat einen TV-Film über die Kirche in Ungarn gedreht, der vor kurzem im österreichischen Fernsehen ausgestrahlt und rundum als seriöse Dokumentation gepriesen wurde. Wir freuen uns, daß die Autorin nunmehr eine eigene Textfassung für die FURCHE schrieb. I

Im Oratorium der Dominikanerkirche, bei der Samstagabendmesse, sehen wir die Familie D. zum ersten Mal. Der Vater hat den Kleinsten auf dem Schoß, später geht die ganze Familie zur Kommunion. Nach der Messe reden wir Herrn D. an; der Pfarrer dolmetscht. Nach einigem Hin und Her stimmt die Familie D. zu, daß wir sie in ihrer Wohnung aufsuchen und filmen.

Es ist Herbst, in Rom ist der polnische Kardinal Wojtyla gerade zum Papst gewählt worden, und wir sind in Budapest, um einen Film über die katholische Kirche in Ungarn zu machen. Drei Tage später sind wir bei den D. 's in der Wohnung, in Ujpalota, einem Neubauviertel am Rand von Budapest. Das Ehepaar D. - beide sind Maschinenbauingenieure, auch Frau D. ist berufstätig - verdient gemeinsam etwa 8000 Forint im Monat. Das ist etwas über dem ungarischen Durchschnitt - eine Genossenschaftswohnung und ein Auto liegen da bei einiger Sparsamkeit schon im Bereich des Möglichen.

Wir filmen die Familie beim gemeinsamen Abendessen und Tischgebet. Frau D. ist nervös und besorgt, aber Herr D., der seine Frau gelegentlich zärtlich und beruhigend um die Schulter nimmt, sagt: „Ich bin ein freier ungarischer Bürger, warum soll ich mich nicht filmen lassen?!“ Einem Interview vor der Kamera stimmt allerdings auch er nicht zu. Später im Gespräch sagt er einmal, in seinem langsamen Schulbuch-Englisch:

„Ich werde wahrscheinlich nie Abteilungsleiter oder Chefingenieur in meiner Firma werden, aber meine Religion und die christliche Erziehung meiner Kinder sind mir wichtiger ...“

Historische Schuld

Nach Angaben der letzten Volkszählung von 1949 sind etwa 70% der ungarischen Bevölkerung Katholiken. Bis zum Zweiten Weltkrieg war die ungarische Kirche eine „verwöhnte, privilegierte Staatskirche“ (ein Budapester Pfarrer), und der Theologe Thomas Nyiri schreibt von deren schwerer historischer Schuld, die darin besteht, daß die Kirche den Interessen einer schmalen Oberschicht diente, selbst einer der größten Grundbesitzer des Landes war und nichts Entscheidendes dagegen unternahm, daß noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts fast vier

Millionen Menschen in Ungarn unter dem Existenzminimum lebten.

Die Übernahme der Macht durch den Kommunismus hatte für die Kirche allerdings nicht nur den Verlust der Privilegien, sondern auch sämtlicher, durchaus verdienstvoller, Bildungseinrichtungen und karitativer Werke zur Folge. 1948 wurden die katholischen Schulen verstaatlicht, 1950 fast alle Orden aufgehoben. Niemand hatte damals eine Vorstellung, wie die Kirche weiterleben sollte. Angesichts dieser Bedrohung entschloß sich der Episkopat schließlich in den fünfziger Jahren, mit dem Staat Beziehungen anzuknüpfen.

Die eigentliche Wende brachte das Zweite Vatikanische Konzil, wonach die Kirche zu jeder Zeit, im Rahmen jeder gesellschaftlichen Ordnung und politischen Richtung, ihre Sen-

dung zu erfüllen habe. Legitimiert durch diesen Grundsatz und unterstützt durch die vatikanische Ostpolitik, gelang es der Kirche in Ungarn im Lauf der Jahre, dem Staat einige Zugeständnisse zu entreißen und - vor allem - die schwer dezimierte, überalterte, isolierte und entmutigte Hierarchie wieder herzustellen.

Mit der Ernennung des Erzbischofs von Esztergom und Primas von Ungarn, Kardinal Lekai, war diese Entwicklung 1976 abgeschlossen. Offizielle Erklärungen von kirchlichen und staatlichen Stellen bezeichnen das Verhältnis heute als geklärt. Konkret sieht dies allerdings so aus, daß kein kirchliches Amt ohne ausdrückliche Genehmigung der staatlichen Stellen besetzt werden kann und die Autonomie der Kirche in ihrer Gesamtheit durch ein eingespieltes Überwachungs- und Interventionssystem stark beeinträchtigt wird.

Zuviele Konzessionen?

Es mehren sich auch kritische Stimmen, die der ungarischen Hierarchie vorwerfen, gegenüber dem Staat allzu konzessionsbereit zu sein und auf diese Weise in immer größe-ree Abhängigkeit zu geraten.

Wir wollen in Pfarren filmen, wollen wissen, wie die Pastoral an der Basis aussieht. Josef Cserhäti, der temperamentvolle Bischof von Pees (Fünfkirchen) in Südungarn, nennt uns einige Dörfer in seiner Diözese. Einmal kommen wir zur Sonntagnachmittag-Segensandacht zurecht. Rund zwanzig alte Weiblein, ein ältlicher Pfarrer. Ein Lied wird ungarisch gesungen, ein anderes deutsch, denn wir sind in einer Gegend mit starker deutsohsprechender Minderheit.

Nachher im Gespräch bittet der Pfarrer flehentlich, von Dreharbeiten abzusehen; die Angst verschließt ihm den Mund sogar bei so harmlosen Fragen wie: „Gehen auch junge Leute in die Kirche?“ Zwanzig Kilometer weiter ein ganz anderes Bild: der Wallfahrtsort Mariagyüd, lebendig und barock. Im Pfarrhof wurlt es: ein rumänischer Priesterstudent und ein Franziskanerpater sind zu Gast, Gläubige kommen und gehen.

„Sie sind willkommen“, sagt Pfarrer Hopp freundlich zu uns. Mariagyüd erweist sich als hervorragendes Beispiel, um einige Probleme der ungarischen Kirche deutlich zu machen: das uralte Weiblein, das in der Küche des Pfarrhauses Geschirr abtrocknet, entpuppt sich als die ehemalige Nonne und Lehrerin Sr. Dolorosa (Stichwort Ordensaufhebungen).

Den Kaplan erwischen wir gerade noch, als er in sein Auto springt, um in einer der zehn benachbarten, prie-

sterlosen Pfarren Religionsunterricht zu halten (Stichwort Priestermangel), und in Mariagyüd selbst findet gerade eine Hochzeit statt, und das ist natürlich ein hervorragender Anlaß, um über den Versuch sozialistischer Ersatzzeremonien zu referieren.

Natürlich besinnt sich die Mehrheit der ungarischen Katholiken - ähnlich wie bei uns - hauptsächlich an den sogenannten Lebenswendepunkten, also Geburt, Hochzeit, Tod, auf die Religion. Aber der Entschluß, sich beispielsweise kirchlich trauen zu lassen, hat in Ungarn wohl einen bewußteren Hintergrund, denn der Staat scheut keinen Aufwand, um diese kirchlichen Zeremonien durch sogenannte gesellschaftliche Feiern zu ersetzen. Trotzdem werden bei den Katholiken nur 5% der Namensgebungen, 40% der Eheschließungen

und 2% der Beerdigungen im Rahmen von sozialistischen Feiern vorgenommen.

Eines der drückendsten innerkirchlichen Probleme ist auch in Ungarn der Priestermangel. Die Uberalterung ist enorm: 65% der aktiven Priester sind über 50 Jahre alt. Auch die Bilanz der Weihen und Sterbefälle sieht nicht günstig aus: 1973 zum Beispiel kamen auf 104 verstorbene 30 neugeweihte Priester. Und die Zahl jener Geistlichen, die ihr Amt niederlegen, ist auch in Ungarn sehr hoch.

Da und dort wird versucht, ehemalige Ordensangehörige oder pensionierte Priester zu reaktivieren (wie zum Beispiel in Mariagyüd, wo ein pensionierter Pater des ehemaligen Franziskanerklosters in der Pfarre mithilft), aber der Zeitpunkt rückt immer näher, da die Seelsorgetätigkeit vermutlich eingeschränkt werden muß. Denn die Mitverantwortung von Laien befindet sich in Ungarn derzeit noch im Anfangsstadium. Und daran ist nicht nur der staatliche Druck schuld.

Die alte Priestergeneration, die ihre Erziehung noch in einer Zeit genoß, als der Priesterberuf mit Autorität, finanziellem Wohlstand und Prestige verbunden war, hat es nie gelernt, den Laien als gleichberechtigten Partner in der Kirche zu akzeptieren. Die Folge: viele mündige Christen, die mit der alten, autoritär-hierarchischen Ordnung nichts mehr anfangen können, emigrieren aus der Kirche und suchen in kleinen Gruppen, denen manchmal auch fortschrittliche Priester angehören, nach einer neuen Religiosität auf der Basis des Evangeliums.

Die Zahl dieser Spontangemeinschaften oder Basisgruppen ist im Wachsen, und man spricht in Ungarn bereits von einer Untergrundkirche, die nicht nur vom Staat, sondern auch vom Episkopat, der hier Ansätze zu häretischen Abspaltungen befürchtet, mit Mißtrauen verfolgt wird. Stabil und relativ unbedroht ist die Präsenz der Kirche eigentlich nur mehr bei den Randgruppen und den traditionellen Anhängerschichten: den Alten, den Nichterwerbstätigen, den Bauern...

Etwas optimistischer beurteilt man die Zukunft der Pastoral in Ungarn, wenn man sich in den Priesterseminaren umschaut. Hier wächst eine neue Generation von jungen Klerikern heran, realistisch, gebildet, couragiert. Und auch die Zahl der Priesterweihen ist - nach einem absoluten Tiefstand der letzten Jahre - wieder im Ansteigen.

Etwa die Hälfte des Priesternachwuchses kommt aus den wenigen katholischen Privatgymnasien, die der Kirche nach der Aufhebung der Orden und Verstaatlichung der Schulen noch geblieben sind. Eines dieser Gymnasien befindet sich in Pannon-halma, der weltberühmten Benediktinerabtei in der Nähe von Györ (Raab).

Pannonhalma wird ein Aha-Erlebnis für unseren ungarischen „Produktionsleiter“, der uns - freundlich, hilfsbereit und eifrig mitschreibend -während unserer Dreharbeiten begleitet: die Filmerei ist natürlich eine Sensation für die Buben, und Pater Richard, einer der jungen Lehrer (Russisch und Deutsch), hat seine Mühe, die ausgelassene Schar zu bändigen. Jedenfalls „rennt der Schmäh“ zwischen Pater und Buben, und unser Aufpasser steht dabei und kommt aus dem Lachen nicht heraus. „Ich hätte nie gedacht, daß es in katholischen Privatschulen so fröhlich zugeht“, sagt er später zu uns...

Hoffnung auf Jugend

Rund 300 Schüler bevölkern derzeit das Internat und die Schule der ehrwürdigen Erzabtei Pannonhalma. Katholische Privatschulen erhalten keine staatliche Unterstützung, die Eltern müssen das Schulgeld in der Höhe von 700 bis 800 Forint selbst bezahlen, und das ist viel bei einem Durchschnittseinkommen von 3000 bis 4000 Forint.

Das Bildungsniveau dieser Schulen ist auch heute noch hervorragend, trotzdem müssen die Absolventen damit rechnen, gelegentlich Schwierigkeiten bei der Zulassung zum Hochschulstudium zu haben. Das Pädagogikstudium und die Arbeit am staatlichen Schulwesen bleibt ihnen auf alle Fälle verwehrt.

Jedenfalls: die etlichen hundert Absolventen, die Jahr für Jahr aus den katholischen Privatschulen Ungarns kommen, stellen eine lebendige Hoffnung für das Überleben der

Der Theologe Thomas Nyiri (Kath. Akademie Budapest): „Früher eine Kirche der Herrschenden...“

Kirche in Ungarn dar. Aus ihren Reihen kommen die Priester, die katholischen Journalisten und Künstler, die Intellektuellen von der Art der Familie D. oder die Studenten, die wir am Sonntag abend in der Jugendmesse der Dominikanerkirche in Budapest getroffen haben.

Eine Gruppe von jungen Leuten, Mädchen und Burschen mit Gitarren und Querflöten, gestaltet zusammen mit dem Priester die Messe. Der Kirchenraum ist zum Bersten voll, fast zwei Stunden dauert die Liturgiefeier. Aber niemand geht weg, im Gegenteil - es werden immer mehr. Burschen in Jeans und Parkas, langhaarige schöne Mädchen. Beim Friedensgrußfassen sich alle, alle an den Händen und so bleiben sie, bis zum Schluß. Dieses Erlebnis einer überzeugten und überzeugenden Gemeinde von Christen beeindruckt uns sehr, macht uns nachdenklich und eigentlich auch ziemlich froh ...

Man erlebt viel Widersprüchliches beim Versuch einer Bestandsaufnahme der Kirche in Ungarn: einerseits reibt sie sich auf in der Auseinandersetzung mit einem System, das ihr, langfristig gesehen, keine Überlebenschancen einräumt, andererseits muß sie sich um ihre innere Err neuerung bemühen. Und obwohl kompetente Kritiker meinen, daß dies das eigentliche Problem der Kirche in Ungarn sei, mehren sich doch gerade hier die Anzeichen einer hoffnungsvollen Entwicklung.

Die alte Seelsorgergeneration gerät zwar zunehmend in die Isolation und steht der Gegenwart ratlos gegenüber, aber in den Orden und Seminaren wächst eine neue Generation von jungen, engagierten und realistischen Priestern heran. Die Zahl der Taufscheinchristen wird zwar, auch in Ungarn, immer weniger, aber diejenigen, die sich zur Kirche zählen, wissen, warum sie das tun. Die Kirche ist in der Öffentlichkeit zwar nicht präsent, aber eine neue Generation von mündigen und mutigen Katholiken besinnt sich auf das Wesentliche des Christentums, ganz gleich, in welchem System es wirksam wird.

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