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Die große Sorge

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Die Sorge um genügenden Priestexnachwuchs gehört im geistigen Wiederaufbau nach 1945 in der Wiener Erzdiözese zu den bedrückendsten Sorgen. Denn ein akuter Priestermangel droht wesentliche Aufgaben des kirchlichen Lebens zu lähmen.

Eine Untersuchung des „Internationalen katholischen Instituts für kirchliche Sozial-forsohurag“ reiht Österreich unter die priesterärmsten Länder Europas, gefolgt mir noch von Portugal. In Irland etwa kommt ein Priester auf 917 Katholiken, in Holland auf 987, in Österreich auf 1439. Dieser Durchschnittssatz verschlechtert sich in der Erzdiözese Wien auf 2070 und in der Großstadt Wien auf 3131 Katholiken.

Nun ist dieser Tatbestand in der Erzdiözese Wien nicht erst seit 1945 aufgetreten. Seit dem ungeheuren Anwachsen der Großstadt konnte der Priesternachwuchs aus dem eigenen Bereich nicht mitkommen. Freilich wurde das Manko durch den Zuzug aus anderen Teilen der Monarchie, vor allem dem Sudetengebiet, ausgeglichen. In den Jahren 1850 bis 1869 stammten mehr als 43 Prozent der in der Erzdiözese geweihten Priester aus fremden Diözesen. Im Durchschnitt der Jahre 1901 bis 1918 waren es nur noch 25 Prozent. 1918 hörte dieser Zuzug auf. Inzwischen war die Zahl der Berufungen aus Wien selbst systematisch im Ansteigen, so daß der Ausfall nun aus dem eigenen Bereich gedeckt werden konnte. Ein Vergleich mit dem gegenwärtigen Stand der territorialen Herkunft der Priesterstudenten mag lehrreich sein: Von den im vorigen Studienjahr im Wiener Priesterseminar befindlichen Theologen stammten 7,5 Prozent aus fremden Diözesen, 44,3 Prozent aus Wien, 48,2 Prozent aus Niederösterreich.

Der Ausfall, den der erste Weltkrieg verursachte, konnte bald aufgeholt werden. Der Durchschnitt durch die Jahre 1921 bis 1935 ergibt eine jährliche Anzahl von 28 Priesterweihen. Damit schien der Bedarf gedeckt, das heißt es waren alle systemisierten Posten besetzt. Genaueres Hinsehen aber zeigt, daß bereits damals ein akuter, wenn auch-nicht'als solcher empfundener Mangel vorhanden war. Der „Personalstand“ der Erzdiözese Wien aus dem Jahr 1920 meldet Pfarren mit 76.000, 64.000, 48.000 Seelen, die von fünf oder sechs Priestern betreut werden mußten, das heißt, daß oft auf einen Seelsorgepriester 10.000 Seelen kamen. Gemessen an den Aufgaben einer richtigen Pastoration also ein krasser Mangel an Seelsorgern. Noch dazu in Jahren, die durch Frei-denkerbewegunig, massenhafte Kirchenaustritte, immer stärkere atheistische Erziehung der Kinder ganz neue Forderungen an die Seelsorge stellten. Die Jahre unter Kardinal Innitzer brachten dann in großem Ausmaß die so notwendige Teilung und Vermehrung der Pfarren und eine immer ausgebautere Seelsorge, damit aber auch einen neuen Bedarf an Priestern.

In diesen ohnehin zu geringen Bestand rissen die Jahre 193 8 bis 1945 noch gewaltige Lük-ken. Zu den ideellen Schäden gerade in der Jugend kamen die äußeren Behinderungen, die Schließung der geistlichen Anstalten, Ordensschulen, Knabenseminare. Das Knabenseminar in Hollabrunn mußte 1938 seinen Betrieb einstellen, gerade als es durch einen Höchststand an Seminaristen große Hoffnungen für die Zukunft bot. Die Kriegsjahre hindurch war so gut wie keine Priesterweihe. Von den 92 aus dem Priesterseminar einberufenen Theologen sind nach dem Kriegsdienst nur etwa 30 zum Prie-stertum gekommen. Neueintritte ins Seminar waren Jahre hindurch fast völlig abgestoppt. Von den bereits geweihten Priestern der Diözese sind etwa 40 gefallen.

So beginnt das Jahr 1945 mit einem großen Defizit, das gerade in diesem Augenblick besonders schmerzlich ist. Denn nach den Verheerungen durch die NS-Zeit steht die Kirche vor vermehrten Aufgaben. Ein geistiger Wiederaufbau, eine missionarische, spezialisierte Seelsorge fordert vermehrte Kräfte. Neue Pfarren müssen errichtet werden, um die neuerstehenden Wohnbezirke nicht dem Heidentum preiszugeben. Der Religionsunterricht in den Pflicht-und Mittelschulen muß wieder aufgebaut werden, was bei der großen Anzahl an Schulen in Wien ein Heer von Religionslehrern nötig macht. Trotz Einsatz von Laienkatecheten bleibt die Zahl der benötigten geistlichen Religionslehrer noch sehr beträchtlich.

Im Augenblick aber vergrößert sich dieses Defizit noch weiter. Die Zahl der Priesterweihen hat noch immer nicht das Vorkriegsausmaß erreicht. Wohl ist für die nächsten Jahre bereits eine deutliche Steigerung zu erwarten. Aber die dur£h die Dezimierung der mittleren und jüngeren Jahre bedingte Überalterung des Klerus bringt es mit sich, daß jährlich Tod und Arbeitsunfähigkeit größere Lücken reißen, als durch die Weihen geschlossen werden können. Eine freudig begrüßte Hilfe durch eine Anzahl heimatvertriebener Priester konnte die Ausfälle bei weitem nicht ersetzen. So wird sich in den kommenden Jahren trotz der steigenden Zahl der Neupriester der Priestermangel noch verschärfen.

Die obigen Tatbestände bauen vor allem auf die Situation im Weltklerus auf. Nun hat gerade die Erzdiözese Wien eine sehr beträchtliche Zahl von Pfarren, die durch Ordensangehörige betreut werden (zirka 28 Prozent der Pfarren). Aber die Gesamtlage beim Regularklerus ist nicht viel anders als beim Weltklerus, wenn auch die Nachwuchsverhältnisse nicht bei allen Orden gleich liegen. Aber sie alle standen 1945 vor der Notwendigkeit des Neubaues ihrer Häuser, Noviziate und vor allem ihrer Schulen, aus denen sie zum Großteil ihren Nachwuchs finden. Und die geistigen Schäden in der jungen Generation, die vor allem Hindernis für zahlreichere Berufe bilden, treffen sie vielleicht noch stärker, da der Ordensstand eher noch mehr an Selbstlosigkeit und Opferkraft verlangt.

Man kann also, was die Priesterfrage betrifft, wohl mit Recht von einem Notstand sprechen, dessen Überwindung zu den drängendsten Sorgen des Bischofs, ja aller lebendigen Katholiken der Diözese gehört. Er muß zuerst von innen her überwunden werden. So hat unser hochwürdigster Herr Kardinal in den letzten Jahren sich bei allen gegebenen Gelegenheiten und in einer Reihe von Hirtenworten an die Katholiken der Diözese gewandt und gebeten, dieses große Anliegen zu dem ihren zu machen.

Ein ganz wichtiges Anliegen unserer Bischöfe war es, durch den Ausbau der Knabenseminare möglichst vielen Berufen einen ungestörten Weg zum Priestertum zti ermöglichen. Das Seminar in Hollabrunn konnte bereits 1945 seine Tätigkeit wiederaufnehmen; es hat heute mit etwa 240 Seminaristen seine volle Kapazität erreicht. Die steigende Zahl der Priesterweihen in diesen Jahren geht zu einem wesentlichen Teil darauf zurück.

Nun konnte im vergangenen Herbst im südlichen Teil der Diözese (in Sachsenbrunn bei Kirchberg am Wechsel) ein zweites Knabenseminar eröffnet werden und im ersten fertiggestellten Bauabschnitt zwei Klassen mit mehr als 50 Buben aufnehmen. Nach Vollendung soll das Haus für etwa 200 Seminaristen Platz bieten Zweifellos wurde damit das Problem des Priesternachwuchses an der rechten Stelle angepackt.

In den letzten Jahren ist die Zahl der Spätberufenen relativ groß geworden. Es gibt in Österreich eine Reihe von Institutionen, die diesen Kandidaten den oft sehr beschwerlichen Weg zu einer verspäteten Matura und damit zum Theologiestudium ermöglichen. Nun konnte im vergangenen Herbst das „Canisiuswerk“ ein neuerbautes Spätberufenenseininar in Horn (Niederösterreich) mit mehr als hundert Schülern aus ganz Österreich eröffnen. Auch dadurch wird mancher Priesterberuf gerettet werden. Es sei auch dankbar vermerkt, daß das Canisiuswerk in den Jahren seit dem Krieg seine Tätigkeit wieder so ausbauen konnte, daß auch dusch seine

Hilfe kein Priesterberuf an finanziellen Schwierigkeiten scheitern muß.

Im gegenwärtigen Notstand ist auch Hilfevon auswärts willkommen. Es gibt Länder (vor allem Holland), die Priester abgeben können. So wirken auch in Wien seit einigen Jahren eine Reihe solcher Priester ausländischer Herkunft äußerst segensreich.

Die 1958 in Wien abgehaltene internationale Enquete über die europäische Priesterfrage hat auch konkrete Vorschläge gemacht, wie eine Hilfe aus Ländern mit Priesterüberschuß an andere Diözesen in größerem Ausmaß durchgeführt werden könnte. Inzwischen sind manche Maßnahmen eingeleitet worden, eine solche Aktion zu verwirklichen. Auch von dieser Seite darf also Hilfe erwartet werden.

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