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Die Landkarte der Religiosit

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Immer wieder hört man, daß die Religiosität sinke, ja, daß wir in unseren Tagen an einem Tiefpunkte der Glaubensinnigkeit angelangt seien. Stimmt diese Behauptung? Haben wir sichere Elemente aus den vergangenen Jahrhunderten, um Vergleiche anzustellen?

Häufig wird auf die hohe Religiosität des Mittelalters hingewiesen. Als Beweis wird gerne die große Anzahl von Heiligen ins Treffen geführt. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Häufigkeit der Heiligen keineswegs als Index für den durchschnittlichen Stand der Religiosität angesehen werden kann; ansonst müßte der Schluß gezogen werden, daß sich Italien, das bekanntlich mehr Heilige aufweist als alle anderen Länder zusammen, durch eine alles überragende Frömmigkeit auszeichnet, was in diesem Ausmaße wohl angezweifelt werden kann.

Ein eigenartiges Licht auf die angeblich hohe Religiosität des Mittelalters wird durch eine Gegenüberstellung der damaligen Moral mit der heutigen geworfen. Als Beweis für das Nachlas-Sre-Ugiöseifc.dPsBkeflfe w,&4en gmit~Aie heute -geübten. Praktikea zur Geburtenbeschränkung angeführt. Die Geburtenbeschränkung stellt eine Anklage gegen die heutige soziale Ordnung dar, Die alten Bußbücher kennen eine Geburtenbeschränkung nicht. Aus den sehr spärlichen statistischen Daten, die wir aus dem Mittelalter besitzen, wissen wir, daß die Säuglingssterblichkeit in den adeligen Kreisen 80 Prozent, bei Bürgern und Bauern noch mehr betrug. Um den Bestand einer Familie zu sichern, bedurfte es im Durchschnitt einer Anzahl von zehn Kindern. Wenn nun auch die Geburtenbeschränkung damals un-' bekannt war, wird in den Bußbüchern desto lebhafter Klage geführt über Dirnenwesen, Ehebruch, Unzucht, Kindesmord, gewiß keine Beispiele für die Hochhaltung der christlichen Moralgesetze.

Noch ein grelleres Licht auf die Ethik des Mittelalters werfen die Mißachtung fremden Eigentums und fremden Lebens. Diese und andere bedenkliche Erscheinungen lassen ernstlich bezweifeln, daß die Religion tatsächlich das tägliche Leben so durchdrungen hat, wie heute behauptet wird.

Die Zeit der Reformation hat keinen Höhepunkt der Religiosität mit sich gebracht, lediglich den des gegenseitigen Hasses. Die Mitte des 18. Jahrhunderts (Beginn der „Aufklärung“) leitete eine lange Epoche beginnender Religionsfeindlichkeiten und Religionslosigkeit ein; ein Jahrhundert später beginnt die Herrschaft des Liberalismus, der sich, auf wirkliche oder auch angebliche „Errungenschaften“ der Wissenschaft berufend, bald als Vorkämpfer des Atheismus erweist. Der Katholizismus wird als Köhlerglaube, seine Anhänger werden als Finsterlinge verschrien. Der. Schreiber dieser Zeilen hat selbst in seiner Jugend ein im Jahre 1910 erschienenes Buch des P. Brors SJ. gelesen, in dem die Frage, ob wir Katholiken wirklich minderwertig sind, in ziemlich ausführlicher Weise widerlegt werden mußte! Tatsächlich befand sich damals fast die gesamte Intelligenz im liberalen ungläubigen Fahrwasser.

Und heute? Wir dürfen mit Stolz darauf hinweisen, daß noch nie — selbst zur Zeit Gregors VII. — die Kirche ein so hohes Ansehen in der Welt genoß wie heute. Über 40 Staaten unterhalten beim Heiligen Stuhl diplomatische Vertretungen, darunter Staaten, die wie Finnland, Japan, Pakistan, Iran, Ägypten kaum mehr als ein Prozent Katholiken in ihrer Bevölkerung aufweisen. Fünf europäische Staaten werden von praktizierenden Katholiken geleitet, in zwei weiteren Staaten stellen die Katholiken wohl nicht die Regierungspartei, ihre Position ist aber immerhin so stark, daß gegen sie nicht regiert werden kann. (Allerdings darf politisches Bekenntnis nicht mit Religiosität verwechselt werden, wie zum Beispiel viele in den Versammlungen einer christlichen Partei zu finden sind, die wir in der Kirche vergebens suchen werden, und umgekehrt.)

Das Wiedererwachen des Glaubens ist im allgemeinen unter den Katholiken intensiver als unter den Protestanten. In Dänemark nehmen nur fünf Prozent an den Sonntagsgottesdiensten teil; noch schlechter sind die Verhältnisse in Schweden und Norwegen, Finnland aber ist auf dem Wege zur fast vollkommenen Ent-christianisierung. In gemischt-religiösen Ländern sprechen die Ziffern eine besonders deutliche Sprache, da hier gleiche Verhältnisse für alle Konfessionen vorliegen. In England besuchen zwölf Prozent Anglikaner sonntags die Kirche, dagegen 48,5 Prozent der Katholiken. In Australien machen die Katholiken nur 21 Prozent der Bevölkerung aus, stellen aber 57 Prozent der Kirchenbesucher, während die Anglikaner, die 39 Prozent der Bevölkerung stellen, nur elf Prozent Kirchenbesucher aufweisen. In Kanada besuchen 80 Prozent der Katholiken, aber nur 45 Prozent der Protestanten, regelmäßig die Kirche. Ähnlich sind die Verhältnisse in Holland, den Vereinigten Staaten und Deutschland. Immerhin können auch die Protestanten Fortschritte verzeichnen. In den Vereinigten Staaten bekannten sich zum Beispiel im Jahre 1900 noch 65 Prozent der Bevölkerung zu keiner Kirche; im Jahre 1950 war dieser Prozentsatz bereits auf 42 gesunken. Da die Katholiken nur ein Sechstel der Bevölkerung der Vereinigten Staaten ausmachen, muß der Löwenanteil der zu den Kirchen Zurückgekehrten auf die Protestanten entfallen.

Charakteristisch für die heutige Situation ist, daß die günstigsten Ziffern gerade aus den kulturell am weitesten fortgeschrittenen Ländern gemeldet werden. Bei den Ländern, in denen das religiöse Leben eine besondere Intensität erreicht hat (Irland, Kanada, Holland, Vereinigte Staaten) handelt es sich um Gebiete, in denen die Katholiken in nicht allzu ferner Vergangenheit unterdrückt worden sind oder zumindest als Bürger zweiter Kategorie gegolten haben. In Italien besuchen 24 Prozent-der Katholiken (in Rom selbst 30 Prozent) die Sonntagsmesse, 30 Prozent erfüllen die Oster-pflicht; in Frankreich erhöhen sich die Zahlen auf 27 beziehungsweise 30 Prozent (in Paris gehen allerdings nur acht Prozent zur Oster-kommunion, in Marseille und in den Pariser Faubourgs gar nur drei Prozent), in Österreich steigen sie auf 38 und 41 Prozent (in den Wiener Arbeitervierteln erfüllen nur 13 Prozent ihre Osterpflicht), in Deutschland auf 48 und 54 Prozent; in Kanada besuchen 80 Prozent regelmäßig den Sonntagsgottesdienst und in Holland sogar fast 90 Prozent aller Katholiken.

Was die österreichischen Verhältnisse betrifft, verhindert der Priester-mangel noch immer eine intensivere seelsorgliche Betreuung der Bevölkerung. Besonders verringert hat sich der priesterliche Nachwuchs aus dem Bauernstande, der früher das Hauptkontingent gestellt hat.

Einen gewissen Fingerzeig für das religiöse Leben in den verschiedenen Ländern bietet die Zunahme der Konversionen, das Aufblühen des katholischen Pressewesens (allein die Abonnentenzahl der nordamerikanischen katholischen Zeitungen und Zeitschriften erreicht die stattliche Zahl von 23 Millionen), die zunehmende Ausbreitung der Missionen, das segensreiche Wirken der Caritas und das Aufblühen des katholischen Schulwesens, besonders in einigen Ländern: die katholischen Volksschulen in den Vereinigten Staaten werden beispielsweise von über 8 Millionen Schülern, darunter auch Nichtkatholiken, die katholischen Universitäten und Colleges, nach den letzten vorliegenden Ziffern, die aber bereits überholt sein dürften, von über 3000 Hörern besucht. Daß ein relativ hoher Prozentsatz der Akademiker und geistig hochstehender Schichten, die vor einem halben Jahrhundert der Kirche besonders entfremdet waren, heute praktizierende Katholiken geworden sind, läßt vieles hoffen. Gerade unter den geistig Hochstehenden finden wir eine auffallend große Zahl von Konvertiten.

Auch das stärkere Anwachsen der katholischen Bevölkerungsteile im Vergleich zu den Protestanten infolge der höheren Geburtenziffer der Katholiken fällt auf. In den USA weisen die Katholiken eine jährliche Zunahme von

2.8 Prozent, in Kanada von 2,6, in Holland 2,4, in Irland von 2,1 Prozent auf, gegenüber

1.9 Prozent in Norwegen, 1,7 Prozent in Schweden und 1,74 Prozent in England. (Österreich macht bekanntlich auf diesem Gebiete eine wenig rühmliche Ausnahme).

Diesen verschiedenen günstigen Anzeichen stehen leider auch betrübliche Erscheinungen gegenüber. So steht in den meisten Ländern die Arbeiterschaft abseits. Sehr bedenklich muß stimmen, daß das Landvolk, früher die Hauptstütze der Kirche, heute in den meisten Ländern einen erschreckenden Mangel an praktischen Christentum zeigt. In Frankreich sieht ein Großteil der Bauern nur viermal im Leben das Innere einer Kirche: anläßlich der Taufe, der Firmung, der Trauung (und da nicht immer), und beim Begräbnis. Und auch in jenen Ländern, wo der Bauer sonntags noch die Kirche besucht, erfolgt dies zumeist als Frucht der Überlieferung und nicht aus Herzensdrang. Und nicht viel besser steht es mit der Masse der Halbgebildeten, die heute noch vom Schlagworte der angeblichen Unvereinbarkeit der wissenschaftlichen Forschung mit der Religion geblendet werden.

Südamerika ist gewissermaßen das Sorgenkind der Kirche. Nominell wird es von 190.000 Katholiken bewohnt, die Zahl der Praktizierenden ist aber erschreckend gering, weit geringer als in irgend einem anderen Lande. Die Ursache ist im geradezu katastrophalen Mangel an Priestern zu suchen, wozu noch die ungeheuere Ausdehnung der einzelnen Pfarren kommt, so daß die Gläubigen nur alle zwei bis drei Jahre einmal einen Priester zu Gesicht bekommen. In ganz Südamerika wirken kaum mehr Priester als im kleinen Belgien; während in Kanada ein Priester auf je 500, in den Vereinigten Staaten auf je 600 Gläubige kommt, ist das Verhältnis in Südamerika 1:6000! In Guatemala kommt ein Priester sogar auf 30.000, in der Dominikanischen Republik auf 22.000 Gläubige; es gibt Großstadtpfarren mit 25.000, ja mit 30.000 Seelen. Die Folge ist eine erschreckende religiöse Unwissenheit und Gleichgültigkeit, selbst in den gebildeten Schichten.

Immerhin zeigen sich auch auf diesem Kontinente Anzeichen einer Besserung. Wirkungsvoll war die Tätigkeit verschiedener Körperschaften, wie der Katholischen Aktion oder der JOC, besonders auf dem Gebiete des Schulwesens. So besuchen zum Beispiel in Kolumbien und Haiti bereits ein Viertel der Schüler katholische Volksschulen, aber auch in Bolivien, Chile, Mexiko und Uruguay sind vielversprechende Fortschritte erzielt worden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das Bild vom religiösen Leben der heutigen Katholiken nicht ungünstig ist; keineswegs kann von einem Absinken der Glaubensintensität gesprochen werden. Wohl haben wir vorderhand den Verlust ganz Osteuropas zu beklagen, aber diese gewaltsame Abtrennung scheint, wie das Beispiel Polens zeigt, keine tieferen Spuren in der Seele der Völker gelassen zu haben. Und so gelangen wir zur Folgerung, daß der Satz vom Tiefstande der Religiosität in unseren Tagen ein Schlagwort ist, das gottlob nicht den Tatsachen entspricht.

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