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Tradition und Gegenwart in Holland

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Die nationale Unabhängigkeit Hollands ist aus dem Kampf um die Gewissensfreiheit der Calvinisten geboren. Daß dann der Religionsfriede zwischen Katholiken und Protestanten, von dem Vater des Vaterlandes, Wilhelm von Oranien, so heiß ersehnt, nicht zustande kam, ist nicht zuletzt aus dem geographisch-militärischen Zufall zu verstehen, der das Land während des Freiheitskrieges in zwei Hälften teilte: den Süden und das Land jenseits der großen Flüsse. Wer aber auf Grund des Schlagwortes „Pro-testantse Natie“ das Land und seine Bevölkerung studiert, kommt bald zu der Erkenntnis, daß sich die Zustände schon lange geändert haben. Wohl wird der Kenner noch immer gewisse calvlnistische Züge in Literatur und Volkscharakter finden können. Der Spaziergänger in den Kleinstädten des Nordens und Westens wird an Sonntagen aus den Häusern oft Harmoniumklänge und Psalmen dringen hören, er wird in den Dörfern an der Nordseeküste die Fischer feierlich gekleidet, in tiefem Ernst, zu ihrer call-vinistischen Kirche gehen sehen, aber sobald er mit dem katholischen Leben Hollands in Berührung gekommen ist, wird vor ihm eine neue reiche Welt erstehen, von der er sich nichts träumen ließ.

Das öffentliche Leben der Katholiken hier ist noch kein Jahrhundert alt. Über 200

Jahre hatten sie keinen Zutritt zu den Ämtern. Die Religionsausübung (papse superstitie) war verboten und die Priester irrten verkleidet im ganzen Land umher. Erst nach der französischen Revolution und den napo-„ leonischen Kriegen begann die mühselige Emanzipation der Katholiken. 1855 erlebte Alberdingk Thjjm die Bekrönung seiner Arbeit, die Wiedererrichtung der bischöflichen Hierarchie. Die Tatsache, daß drei der fünf Bistümer, nämlich Hertogenbosch, Breda und Roermond, in den zwei Südprovinzen Branbant und Limburg liegen, und die beiden anderen, Haarlem und Utrecht, die übrigen neun Provinzen zu betreuen haben, spricht für sich selbst.

Brabant und Limburg sind fast ganz katholisch, sie grenzen an Belgien und bilden den Übergang nach Flandern. Die Einwohner Brabants und Limburgs fühlen sich zwar niederländisch, aber nicht holländisch. „Hollands“ bedeutet für sie Protestantismus. Brabant war in der Republik der sieben Vereinten Niederlande das Stiefkind, und auch jetzt kann man noch ab und zu erleben, daß Rebellen nächtlich an die Mauern malen: „Wir leben im Protektorat Brabant und Limburg.“ Die unumstößliche Abneigung gegen den Norden wird noch dadurch genährt, daß das Land von der Invasion schwer heimgesucht ist und auf

Materialfkferungnen gewartet werden maß,

die aus dem Haag anscheinend nicht ohne ärgerlich verzögernden Bürokratismus kommen können.

Wie Flandern, ist auch Brabant das Land der Wallfahrtsorte. Oft begegnet man auf einem Streifzug in einem Flecken einer alten Kirche, in der eine Eiche wächst, behängt mit Krücken und silbernen Herzen. Dicke Kerzen brennen da, vielleicht noch umfangreicher als die Frömmigkeit ihrer Stifter, oder man sieht auf einem Marktplatz kleine Bud cn, in denen Bilder und Devotionalien ganz unbekannter Heiliger verkauft werden.

Ungefähr ein Drittel Hollands ist katholisch und in einigen Jahren wird sich dieser Prozentsatz noch erhöht haben, weil in dem kinderreichen Holland die Katholiken einen bedeutend höheren Geburtenüberschuß habend Sie sind stark organisiert. Es gibt kein Gebiet des öffentlichen Lebens, auf dem sie nicht ihre eigene Organisation hätten. Der Außenstehende sieht in den katholischen Billardklubs und Ziegenzuchtvereinen Übertreibungen, aber in Wirklichkeit entspricht das dem Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie zu einer großen Familie macht. Sie haben e“ne eigene Presse, Universität, eigene staatlich anerkannte Schulen, einen eigenen Rundfunk. Dieses Studio haben die Katholiken aus kleinen freiwilligen Spenden aufgebaut. Sie beginnen die Sendung mit einem Morgengebet und schließen mit dem priesterlichen Segen. An den Samstagabenden hält Pater Henri de Greeve eine kurze, kernige Betrachtung über aktuelle Ereignisse. Man kann ruhig sagen, daß Samstag ganz Holland auf diese kräftige Stimme hört. Wenn er zum Beispiel in seinem satirisch-humorvollen Stil etwa über die moralischen Mißstände in der holländischen Wehrmacht spricht, ist am Montag die ganze öffentliche Meinung in Aufruhr. De Greeve wird auf das Kriegsministerium gerufen. De Greeve schlägt mit seinen Fäusten auf den Tisch und die Mißstände werden aus dem Wege geräumt.) Wenn er beim Einfall des Winters drohend ruft, daß für die kalten Höhlen und Kellerwohnungen der zerstörten Städte Glas hetiangeschafft werden muß, dann geht einige Tage später die ganze Jugend, katholisch oder nicht katholisch, von Haus zu Haus, um Glas zu sammeln und kein Mensch entzieht sich dem Beitrag. Kurz vor dem Kriege stiftete er einen „Bond Zonder Naam“, eine Liga der Nächstenliebe, und begann einen F e 1 d z u g gegenj Klatsch, Verleumdung und Zwietracht unter der einfachen Parole „Verbessere die Welt, beginne mit r i r selbst!“ Als Hitler den Krieg vorbereitete, schickte er ihm ein Telegramm: „Lieber Hitler, mache keinen Krieg!“

Politisch sind die Katholiken die stärkste Partei. Der anfänglich groß aufgezogene Versuch Jer Christofoorgruppe, die alte Tradition, daß Katholiken auch katholisch wählen müßten, zu durchbrechen, ist gescheitert. In der Delegation Hollands bei der UNO befindet sidi auch ein Priester, der jetzige Ministerpräsident ist ein Katholik. Von einer gewissen Verschwisterung von religiösem und politischem Leben kann man sprechen, doch ist dies ein „Klenkalis-mus“, der keine geistige Schreckensherrschaft ausübt, sondern eine allgemein anerkannte und vertraute Führung darstellt. Man ist eben nicht nur katholisch zwischen den Mauern der Kirche, wo es bequem und angenehm ist auf die ermahnende Stimme der Priester zu hören, sondern auch außerhalb, •wo die Katholiken einen jahrelangen, schweren Kampf haben führen müssen, um als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt zu werden. Holland hat keinen Mangel an Priestern. Das Gemeindeleben ist viel aktiver als in den rein katholischen Ländern.

Es gibt einen lateinischen Ausspruch: Frisia non cantat — „Holland singt nicht“. Das klingt '•ielleicht unwahrscheinlich, weil es doch das Land ist, aus dem früher die berühmten Komponisten der Kirchenmusik stammten. Wenn auch von den“ Schulen her eine neue liturgische Bewegung einsetzt, so behält doch der Volksgesang in den Kirchen

eine untergeordnete Stellung. Eine deursdie

Singmesse lehnt man deshalb ab, weil sk nicht mit der Liturgie übereinstimmt. Im Gegensatz au den Protestanten, merkwürdig

genug, weil diese jede äußerliche Gottesverherrlichung als überflüssig empfinden, singen die Katholiken nicht spontan. Die großen Kirdien jedoch haben ausgezeichnete Chöre, die regelmäßig neue und klassische Werke der Kirchenmusik aufführen. Instrumentalmessen kommen in Holland praktisch nie vor.

Die Protestanten haben heute die größten Schwierigkeiten, um den Charakter des Landes durch ihre Mehrheit zu behaupten. Das Königshaus ist protestantisch. Die Verfassung von 1814 wies noch einen Paragraphen auf, daß der regierende König Protestant sein müsse, und bis vor einem halben Jahrhundert bedeutete katholisch dumm, „beschränkt“, der Katholik war ein Bürger zweiten Ranges.. Die meisten Protestanten gehören der „Hervormde Kerk“ an, die die geradlinige Fortsetzung der ersten Nachfolger Calvins ist. Luther hatte in den Niederlanden wenig Anhänger gehabt. Waren bei dem Volke schon dadurch die Voraussetzungen für die kompromißlose strenge Prädestinationslehre Calvins geschaffen worden, daß es in dauerndem Kampf dem Meere neues Land abzuringen hatte? Diese Einstellung drückt Toorop treffend in seiner Zeichnung der Fischer von Katwijk aus, die auf den Dünen sitzen und mit hohlen, brennenden Augen in die vorgestellte Hölle und Ver-damnis starren. Hart, aber ehrlich ist der Calvinismus. Bei der Trockenlegung der überschwemmten Insel Wakheren mußte der Dichter Den Doolaard den Deicharbeitern mit der Bibel in der Hand beweisen, daß sie den Sabbath nicht entheiligen würden, wenn sie auch sonntags die Arbeit zur Rettung der Ins! fortsetzten. Der Calvinist kennt keine Aussdimückung seiner Kirchen, wie seine Lehre sind sie durch ihre Nüchternheit ganz auf innerliche Sammlung Neredinet. Für sie ist Gottes Wort das Höchste. . Von Seiß-Inquart wird erzählt, daß er seiner Verärgerung darüber Ausdruck ;ab, daß die Holländer Hitlers Wort keinen Glauben schenken wollten. Ein Theologie-Professor gab ihm darauf die Antwort, daß lie Holländer schon über 300 Jahre über Gottes Wort streiten, wie sollten sie dann Jen Worten eines gewöhnlichen Sterblichen glauben?

Das Sektenwesen hat ein großes Ausmaß angenommen. Im vorigen ' Jahrhundert

trennte sich eine große Gruppe von der

Hervormde Kerk ab, die sogenannte Gere-formeerde Kerk Ihr Ziel war die Herausarbeitung iener nodi strengeren und reineren

Auffassung der Lehre Calvins. Jetzt haben

sie''eine“straff“organisierte Kifche undeine eigene Universität in Amsterdam. Vor zwei Jahren spaltete sich von dieser Kirche wieder eine neue Sekte ab. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Kirchen. Nicht selten geschah es, daß ein Dominee

(protestantisAer Pfarrer) der neuen Richtung einige Stunden vor dem Gottesdienst die Kanzel besetzte, damit er dann die Gemeinde mit seinen Ideen bekanntmachen konnte.

Politisch sind die Protestanten nicht so einheitlich und umfassend organisiert wie die Katholiken. Sie haben drei Parteien, deren verbreiteste die „Antirevolutionaire Partij“, im Parlament ungefähr 13 Prozent, ist. Auch sie haben eigene Schulen, Presse und eigenen Rundfunk und verfügen, brüderlich vereint mit den Katholiken, über eine Sendestation.

Die Sonntagsheiligung hat für sie eine hohe Bedeutung. Tanzen, Theater, Kino, das alles verschmäht der wahre Calvinist grundsätzlich. Die Jugend aber hat eine Neigung zu größerer Freiheit, und mit blutendem Herzen müssen die Älteren sehen, wie sie sich der Genußsucht des modernen Lebens mehr und mehr hingibt. Welch Aufsehen erregte vor kurzem das Erscheinen Königin Wilhelminas bei einem internationalen Fußballmatch im Amsterdamer Stadion an einem Sonntag. Die protestantische Presse, die sonst keine Gelegenheit vorübergehen läßt, um neues über die königliche Familie zu bringen, schwieg sich darüber aus.

Zweifellos war der Kampf um die Gewissensfreiheit der Calvinisten ein Hauptmotiv der Gründung der sieben Vereinten Niederlande. Mit ihrer Entschlossenheit und Unerschütterlichkeit haben sie die Fundamente der staatlichen Freiheit des Landes gelegt. Andererseits hat diese Haltung die natürliche Lebensbejahung des Volkes gehemmt und die freie Entwicklung der bildenden Künste verhindert. Die politischen Phantasten, die vor dem Krieg Parolen propagierten, daß Flandern aus dem belgischen Staatsverband zu den Niederlanden kommen müßte, konnten auf rücksichtslose Ablehnung durch die Protestanten rechnen, die sich begreiflicherweise wehrten, so zu einer Minderheit gemacht zu werden, wie dies sdion einmal während der kurzen Vereinigung Hollands und Belgiens 1815 bis 1830 der Fall war.

Während der Besatzungszeit schlössen sich Katholiken und Protestanten zusammen, um den diristüchen Charakter Hollands zu bewahren. Ich erinnere mich nodi, daß mir ein Dominee in dieser Zeit sagte: „Jetzt sitzt Rom noch mit uns an einem Tisch, sofort nadi Kriegsende aber wird es sich von uns abwenden.“ Doch diese Prophezeiung hat sich nicht verwirklicht. -Es-i-arbeitt •..) heute Katholiken und Protestanten auf mancherlei Gebieten zusammen. Gegenseitige Toleranz und Verständnis sind in der Gegenwart Früchte eines Bodens, der einmal einen Erasmus und Grotius hervorbrachte.

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