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Holland zwischen gestern und morgen

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Auch die Niederlande erleben jetzt eine Zeit der Gärung, in der oft nicht die Vernunft oder die christliche Liebe, sondern eher tiefergelegene Triebe sich zum Wort melden. Darüber zu urteilen, wollen wir einer späteren Zeit überlassen, vorläufig ist es unsere Aufgabe, über die heutige Lage zu berichten und deren Ursachen nachzuspüren.

Daß die Holländer in den nächsten Jahrzehnten nicht gerne freundschaftliche Verbindungen mit den Deutschen aufnehmen werden, ist nach den unermeßlichen Zerstörungen, die ihr geliebtes Land erlitten hat, zu verstehen. Was die Hitler-Tyrannei in diesem friedlichen, schönen und gepflegten Land getrieben hat, ist nicht zu beschreiben. Wer in der Lage ist, den 3. Band von Costers Werk „Je Maintiendrai“ (Spruch auf Hollands Wappen) zu lesen, bringt es jedesmal nur fertig, einige Seiten Zu verarbeiten, um dann diesen Band, der die Greueltaten der deutschen Besetzung objektiv beschreibt, voll Abscheu wieder wegzulegen.

Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, Einzelheiten aus diesem Werk hervorzuheben. Es möje genügen festzustellen, daß die deutsche Besatzung es fertiggebracht hat, dieses ruhige und sympathische Volk so weit zu treiben, daß es jetzt rücksichtslos und ohne Kritik oder Vorbehalt einfach alle Deutschen und alles, was deutsch ist, haßt; ja es geht darin so weit — denn der Haß ist ebenso kritiklos und erbarmungslos wie die frühere Besatzung —, daß auch Österreich und die Österreicher in diese Kritik miteinbezogen werden.

Es ist gut, dies zu wissen. Man hatte in Holland . von den Österreichern eine ähnliche Haltung erwartet, wie sie die Holländer selbst seit dem Einmarsch der Hitlerarmee, seit jenem traurigen 10. Mai 1940, eingenommen haben. Daß in Österreich, diesem 1938 von allen Mächtigen verlassenen und diplomatisch schon aufgegebenen Lande andere Voraussetzungen psychologischer, ökonomischer und politischer Natur vorhanden waren, dafür kann man jetzt nach all den schweren Erlebnissen Hollands nicht überall Einsicht erwarten. Man darf sich deshalb nicht wundern, daß viele mit Bitterkeit fragen, wie es denn von Österreichern vergessen werden konnte, wieviel Dank ihr Land diesem gutherzigen, gastfreundlichen Volke srhuldet, das in den ■härtesten Notjahren nach dem Weltkrieg der österreichischen Jugend durch ein denkwürdiges Hilfswerk beigestanden ist und vielen jungen Leben Rettung gebracht hat. — Es muß klar ausgesprochen werden, daß diese momentane anti-österreichische Stimmung vor allem auf all das zurückzuführen ist, was die unglückseligen Seyß-Inquart und Fisch-b ö c k mit ihrem Stab von österreichischen Mitarbeitern der zivilen Verwaltung Hollands angerichtet haben. Sie tragen zum größten Teil die Verantwortung für diese Stimmung. Von Seite Österreichs sollte alles geschehen, um taktvoll und vorsichtig den nicht unbegreiflicherweise angehäuften Groll zu sänftigen. Daß dies, wenn auch erst nach einer Übergangszeit, möglich sein wird, verheißt die Tatsache, daß verschiedene holländische Arbeiter, die gezwungen waren, in Österreich zu arbeiten, jetzt die besten Fürsprecher für Österreich geworden sind.

Verfehmung der NSB. Die Holländer sind in ihrer Erbitterung gegen Deutschland so weit getrieben worden, daß sogar die deutsche Sprache im allgemeinen nicht gehört werden darf, und man die schärfsten Maßnahmen gegen die Mitglieder der holländischen NSB. (Nationaal Socialistische Bond) ergriffen hat. Jeder, der NSB.-Mitglied ist oder auch nur kurze Zeit war, befindet sich jetzt in einem Konzentrationslager, wo die Behandlung zwar nicht unmenschlich, aber sicherlich hart ist. Kein Deutscher, der nach dem 10. Mai 1940 nach Holland gekommen ist, befindet sich noch auf holländischem Boden; und nur die Österreicher, die nachweisbar Opfer der nationalsozialistischen Bewegung waren, dürfen noch bleiben. Aller N S B.- B e s i t z wurde enteignet und ist in die Hände des Staates übergegangen. ' Jeder NSB.er wird als Landesverräter unnachsichtlich behandelt.

Neben dieser Säuberungsaktion steht aber die eigentliche Aufbauarbeit, die in Holland um so schwieriger ist, als die Zerstörungen unvorstellbar groß sind. Aber ein ganz neuer Geist hat sich in diesem Land erhoben. Er beseelt unser ganzes Volk und hat es enger denn je um sein Königshaus geschart. Diese Liebe und Anhänglichkeit an das Königshaus manifestieren sich jetzt eindrucksvoll auch nach außenhin. Der kühle Holländer hat früher seine Königin geschützt und verehrt, jetzt liebt er diese beispiellose Frau, ja er vergöttert sie. Viel bewirkt hat die korrekte und mutige Haltung des Prinzen Bernhard, der das Land seiner Frau und seiner drei Kinder verteidigt und mit Hilfe der Mliierten wieder für das Haus Oranien-Nassau erobert hat. Das ist einer der Gründe, warum die Holländer jetzt noch monarchistischer denken als je. Bei der jetzigen inneren Erhebung des holländischen Volkes spielt die Religion eine wichtige Rolle. Die früheren konfessionellen und auch politischen Gegensätze zwischen Protestanten und Katholiken, die schon während der deutschen Besetzung zusammengeschrumpft waren — da die Tausende und aber Tausende KZ.ler jeder Konfession den Mut und den gleichen Widerstandsgeist bei hunderten katholischen Geistlichen und protestantischen Pastoren kennen lernten —, haben jetzt ihre Schärfe verloren, ^“e Katholiken waren immer königstreu, .'.jer sie haben von den Protestanten, die sich mit dem protestantischen Königshaus inniger verbunden fühlten, jetzt noch besser gelernt, daß in schweren Zeiten nur ein leidenschaftlicher Patriotismus einem Volk seine Haltung geben kann; die Protestanten, die auf so viele Kirchen und Sekten verteilt sind, haben ihrerseits gesehen, wie eine Einheitsfront, so wie sie die Katholiken unter der Führung des mutigen Erzbischofs von Utrecht aufstellen konnten, die beste religiöse und nationale Waffe gegen die nationalsozialistische Zersetzung war.

Ausdruck des Aufbaugeistes ist das neue Kabinett, das in rein demokratischem Sinne Mitglieder aller früheren politischen Parteien umschließt und als ein Kabinett von Fachleuten zu bezeichnen ist. Kennzeichnend ist nicht nur, daß eine Anzahl Universitätsprofessoren, wie zum Beispiel W. Schermerhorn als Ministerpräsident und der bekannte Religionsphilosoph G. vanderLeeuw der neuen Regierung angehören, sondern auch, daß alle früheren Parteien, außer den Kommunisten, die keinen Sitz im Kabinett haben, fast gleichmäßig vertreten sind: 3 Liberale,

3 Protestanten, 3 Katholiken, 3 Sozialdemokraten, 2 Parteilose und ein Mitglied des Nationaal Verband.

Die Ernährungslage, die vor und auch noch nach der Befreiung sehr kritisch war, hat sich durch die UNNRA-Hilfe und durch die schon während des Krieges in England und Amerika angelegten Reserven rasch gebessert. Zum Glück verfügt Holland noch über eine Anzahl Schiffe, die den Transport über See in eigener Regie aufnehmen und beschleunigen.

Weniger günstig aber steht es mit der materiellen Aufbauarbeit. Denn im Gegensatz zu den vielen und regen geistigen Bestrebungen scheinen sich bei der arbeitenden Bevölkerung Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Schuld daran ist vor allem, daß ein Drittel Hollands zerstört würde und daß Aufbaumaterial und Rohstoffe jeder Art vollständig fehlen.

Dabei sind die Arbeiter durch das deutsche Arbeitstempo und die Sauckel-Aktion so vollständig ausgenützt, durch Hunger so geschwächt, durch den Drill so angeekelt, daß sie unter den augenblicklich mangelhaften Umständen nur schwer an die Arbeit gebracht werden können. Dabei scheint ein Teil der Arbeitgeber bedauerlicherweise auch jetzt noch nicht zu verstehen, daß die neue Zeit in Beziehung auf soziale Gerechtigkeit mehr Verständnis und Entgegenkommen von ihnen verlangen muß.

Auch der Hafenstreik in Rotterdam, bei dem die Arbeiter über rechtlich begründete Ansprüche hinaus noch andere, viel höhere stellten, war ein Beweis dafür, daß das psychologische Gleichgewicht nicht sofort gefunden wurde. Die wunderbare Rede aber des Ministerpräsidenten Prof. Ing. Schermerhorn, in der er sich ohne Phrasen, echt holländisch und als Mann zu Männern ' sprechend, an die Hafenarbeiter von Rotterdam wandte, ist ein Zeichen, daß eine neue Art von Staatskunst das Wort und die Leitung, bestimmt, die wohl die Hoffnung gewährt, daß auch die materiellen Probleme in Frieden gelöst werden können. „Ich appelliere an die Arbeiter“, sagte der Ministerpräsident in dieser Rede, „im Namen der Regierung, die bereit ist, gerecht zu handeln und für die der Begriff soziale Gerechtigkeit keine leere Phrase ist, und die die volle Verantwortung für das, was geschehen wird, auf sich nimmt — nach beiden Seite n.“ Die Wirkung war, daß einen Tag nach dieser Rede der Streik abgebrochen wurde.

Auch Holland muß noch eine schwere Übergangszeit durchmachen. Aber der neue Geist, der dieses Land ergriffen hat, ist eine Gewähr für den Wiederaufbau. Denn wie die Griechen es einst erkannt haben: Es ist der Geist, der siegt! Psyche nikai!

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