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War die Toleranz größer?

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Die „gute alte Zeit“ war im Österreich vor 1934 nicht besser und nicht schlechter als anderswo, wenngleich viele Junge in den elf verschiedenen Sprachen des Reiches es nicht wahrhaben wollten und viele Alte es nicht begriffen. Viele Junge nicht, weil sie, den nationalistischen Idealen der Romantik zugewandt, mit Augen vorwärts, ohne es zu merken, rückwärts gingen; viele Alte nicht, weil sie, mit den Augen rückwärts, in den. Postulaten des klassischen Liberalismus befangen, vorwärts gehen wollten. Freilich hat sich dies erst später herausgestellt. Dazu kamen die Gläubigen des Ewigkeitswertes einer bestehenden Ordnung und die Revolutionäre, die sie in Grund und Boden verdammten.

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Die „gute alte Zeit“ war im Österreich vor 1934 nicht besser und nicht schlechter als anderswo, wenngleich viele Junge in den elf verschiedenen Sprachen des Reiches es nicht wahrhaben wollten und viele Alte es nicht begriffen. Viele Junge nicht, weil sie, den nationalistischen Idealen der Romantik zugewandt, mit Augen vorwärts, ohne es zu merken, rückwärts gingen; viele Alte nicht, weil sie, mit den Augen rückwärts, in den. Postulaten des klassischen Liberalismus befangen, vorwärts gehen wollten. Freilich hat sich dies erst später herausgestellt. Dazu kamen die Gläubigen des Ewigkeitswertes einer bestehenden Ordnung und die Revolutionäre, die sie in Grund und Boden verdammten.

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Viele sprachen mehr von der Heimat als vom Vaterland. Vor allem: Die beiden Begriffe sagten nicht immer und jedem dasselbe. Das alte Österreich vor 1914 konnte seinen Unsterblichkeitsanspruch, sofern es einen solchen auf dieser Welt überhaupt gibt, in erster Linie mit rationaler Erwägung begründen. Gewiß, eiskalte. Berechnung und aufgepeitschte Emotionen haben gemeinsam, daß sie sich noch nie als wetterbeständig erwiesen. Das beweist die Geschichte. Die aber war der Zement des alten Österreich.

Seine Rationalität lag unter anderem darin, daß es in kleinerem Rahmen das war oder doch zu sein versuchte, was in größerem heute die Europäische Gemeinschaft sein will oder doch zu werden versucht. Schließlich hat es bewiesen, daß Integration zwar mühsam, aber möglich ist. Es hat trotz aller Schwächen einen gemeinsamen Nenner für verschiedensprachige Menschen, Kulturen und wirtschaftliche Interessen bedeutet. Der „Ungar in Tirol“ und der „Böhm in Wien“ hatten es bestimmt leichter, ein neues Zuhause zu finden, als etwa „<3ie Italienerin in Algier“.

Es hat eine veritable innere Völkerwanderung gegeben, deren Spuren noch heute in den Telephonbüchern unserer Städte zu finden sind. Damit war menschlichem Selbstverständnis gedient, um ein Modewort zu gebrauchen. Das Resultat ist sein Weiterleben nicht nur in Monumenten, Archiven und Museen, sondern in Menschen, deren Vorfahren keine komplizierten Einbürgerungsbestimmungen kannten. Das kommt uns alles heute selbstverständlich vor; „Sag etwas, das sich von selbst versteht, zum erstenmal, und du bist unsterblich“ (Ebner-Eschenbach). Von dieser Erkenntnis kann das geschichtliche Österreich-Verständnis nur profitieren.

Ungelöste Probleme des Vielvölkerstaates hat es auch nach 1918 vielerorts in der Welt gegeben und gibt es noch heute, von den verwandten Rassenfragen in Übersee ganz zu schweigen. Selbst die toleranten und welterfahrenen Briten, unter ihnen einst scharfe Kritiker der österreichischen Nationalitätenpolitik, sehen sich in Nordirland — und nicht erst seit heute und gestern — schweren Sorgen gegenüber und suchen die Völkerwanderung aus ihrem Commonwealth auf gesetzlichem Wege zu stoppen, der im alten Österreich allerdings schon wegen der verschiedenen Zahlen- und Strukturlage nie zur Debatte stand.

Es besteht darüber kein Zweifel, daß die „gute alte Zeit“ mit. den Augen von heute gemessen auch in Österreich sozial rückständig war, nicht anders, vielfach weit weniger als etwa in den damaligen Vereinigten Staaten, in Japan und in vielen europäischen Ländern. Auch stimmt es, daß Österreich-Ungarn wie alle Großmächte ein imperialistischer Staat im landläufigen Sinn gewesen ist, wenngleich nicht vergleichbar zu anderen. Es war nie Kolonialmacht und hat die allgemeinen Menschenrechte, übrigens gleich den USA, zu einer Zeit schon konstitutionell verankert, als deren internationale Proklamierung noch in weiter Ferne stand. Sie wurden nicht überall und immer voll respektiert? Das mag stimmen. Aber in internationaler Perspektive — werden sie es heute?

Zu den Grundrechten, ,die man in der heutigen westlichen Welt . als selbstverständlich betrachtet — möge

es so bleiben —, zählt die Freizügigkeit. Sie ist im Staatsgrundgesetz von 1867 verankert. Dazu gehört einmal das ungehinderte Emigrationsrecht. Die Nation, die der europäischen Einwanderung ihre Existenz und Blüte verdankt, sind die Vereinigten Staaten. Nach der amerikanischen Statistik stehen im Jahrhundert von 1820 bis 1920 die Einwanderer aus dem ehemaligen Österreich-Ungarn mit zusammen rund 4,100.000 an vierter Stelle; in der Zahl übertroffen von der Emigration aus Deutschland (5,700.000), Irland (4.350.000) und Italien (4,200.000); ge-

folgt von den Einwanderern aus Großbritannien (3,800.000) und Rußland (3,300.000).

Beschränkungen in den USA

Zumal in der deutschen, ungarischen, irischen und russischen Auswanderung spielte neben wirtschaftlichen und persönlichen Gaünden das politische Motiv eine beachtliche Rolle (1848, 1918 und natürlich später in der Zeit nach 1933). Die USA legten der europäischen Einwanderung zunächst keine Hindernisse in den Weg; im Gegenteil! Erst 1917 erfolgte unter dem Druck der „Progressi-sten“ und trotz Vetos des Präsidenten Wilson die erste Beschränkung, die den sogenannten Literacy test (Nachweis rudimentärer Kenntnisse im Lesen und Schreiben) vorschrieb, dem dann 1925 die nationale Quotenregelung folgte.

Bei uns erlangte mit der fortschreitenden Industrialisierung in deutlichem Ost-West-Gefälle die innere Wanderung zunehmende Bedeutung. Auch im alten Österreich der Jahrhundertwende und bis zum Ersten Weltkrieg gab es ein Fremdarbeiterproblem. Natürlich unterschied es sich trotz manch verwandter Züge nicht unwesentlich von heute. Einmal kommt heute die fortgeschrittene Sozialgesetzgebung und -fürsorge dem Gastarbeiter zustatten und schützt ihn vor gesetzlicher Diskriminierung; er bleibt in aller Regel vor der Enttäuschung, keinen ihm zusagenden Arbeitsplatz zu finden, bewahrt; dieser ist ihm durch das System der erforderlichen Arbeitsbewilligung und durch die derzeitige Lage auf dem Arbeitsmarkt so gut wie gesichert; er hat es schließlich dank der verbesserten Verkehrsund Arbeitsbedingungen ungleich leichter, mit seiner Heimat in regelmäßigem Kontakt zu bleiben.

Anderseits hat ihm im alten Österreich der Umstand geholfen, daß er nicht Ausländer war, sondern als Staatsbürger die gleichen Rechte wie die Einheimischen beanspruchen

durfte; wenn er sich dauernd seßhaft machen wollte, stand dem kein gesetzliches Hindernis im Wege; trotzdem mochte es zumal zur Zeit des Nationalitätenstreits oft schwierig sein, im sprachverschiedenen Gebiet festen Fuß zu fassen. Gerade diese Schwierigkeit wird im klassischen Land der Einwanderung und des ständigen Binnenwanderns, den USA, bis auf den heutigen Tag nicht verstanden. Man legte dort zwar dem Gebrauch und der Pflege von Ursprungssprache und heimatlicher Kultur keinerlei Schwierigkeiten in den Weg; jeder kann tun, lernen und lehren, was er will. Aber dahinter steht die Annahme des selbstverständlichen Willens zur Assimilation. Die Mehrzahl der europäischen und fernöstlichen Einwanderer brachte diesen Willen mit, und nicht nur aus opportunistischen Gründen; die Neue ist in Wahrheit eine andere, was keineswegs besagt, immer eine bessere Welt. Dieser automatische Assimilationsdruck tritt übrigens zumindest bei der zweiten Generation auch in den lateinamerikanischen Ländern und in Australien in Erscheinung. Im alten Österreich aber

war, der verschiedenen Voraussetzungen halber, nicht zuletzt wegen des sich zunehmend verschärfenden nationalistischen Klimas, Assimilation die Ausnahme und deren Ablehnung die Regel.

Wir Alten erinnern uns an die Gastarbeiter aus Welschtirol in den Textilbetrieben der westlichen Länder, zumal in Vorarlberg. Die Probleme ihrer mangelhaften Unterbringung, der Familienbetreuung und die Schulfrage standen schon damals zur Diskussion; ihre Lösung oder doch Milderung blieb weithin privater Initiative überlassen.

Trotz allem liegt wohl ein wesentlicher Unterschied zwischen einst und heute darin, daß der heutige Gastarbeiter in Österreich in aller Regel Gast bleibt, während der frühere in der großen Mehrheit im gesamten Staatsbereich zu Hause war und auf die Dauer sehr wohl die Bevölkerungsstruktur gebietsweise, zum Beispiel in Wien, verändern konnte; dies aber führte auf lange Sicht zu wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen.

Den damaligen Bedürfnissen entsprechend, spielten im Bereich der altösterreichischen Binnenwanderung die landwirtschaftlichen Saisonarbeiter eine besondere Rolle. Die slowakischen Erntehelfer in Niederösterreich waren bis in die späten Jahre der Ersten Republik eine vertraute Erscheinung. Größeren Umfang erreichte die Zuwanderung ortsfremder Arbeitskräfte bei den großen Bahn-, Straßen- und Tunnelbauten, die ja auch in der alten Zeit schon zum gewohnten Bild gehörten.

Im wesentlichen war aber doch Wien der Magnet, dessen Anziehungskraft in alle damaligen österreichischen Kronländer und in geringerem Maß auch auf Ungarn wirkte. Hier nun zeigte die österreichische „Völkerwanderung“ ihre besonderen Züge. Einmal gelang es in der Großstadt leichter, die Zuwande-rer in landsmannschaftlichen Verei-

nigungen zusammenzufassen; es bildete sich zum Beispiel eine namhafte tschechische Kolonie, die auf Wahrung ihrer kulturpolitischen Interessen, übrigens mit voller ' Unterstützung der amtlichen Stellen, bedacht war. Die Mehrzahl aus den verschiedensten Teilen des Reiches war wohl in die Metropole gezogen, um dort ihre Bleibe zu suchen oder den Start ins berufliche Leben zu wagen.

Auch die Hohen Schulen und Spe-zialbildungsstätten Wiens taten ein übriges dazu, um den steten Strom der Zuwanderer nie abreißen zu lassen. Manche blieben am Ende ihrer Ausbildung in Wien, für viele andere war die Rückkehr nach Wien und von dort aus in andere städtische Zentren ein späteres Berufziel. Es handelte sich hier also nicht um eine Gastarbeiterfrage, sondern um echte Zuwanderung, mit dem Ziel der Errichtung eines dauernden oder doch zweiten Domizils. Gewerbetreibende und Kaufleute, freie Berufe, Künstler, Literaten, Forscher, Lehrer und nicht zuletzt Beamte suchten in Wien die Erfüllung ihrer beruflichen Träume. Diese Zuwanderung war zunächst auch durchaus erwünscht und im Sinn der politischen Ziele des Vielvölkerstaates gelegen. Es war völlig abwegig, ihm deshalb später den Vorwurf bewußter Ver-wässerung der ethnischen Substanz entgegenzuhalten. In Wien wurde in aller Regel, von der es Ausnahmen gab, der Österreicher geformt; ob er das alpenländische oder sudetendeutsche Idiom sprach oder auf Böhmisch-, Polnisch-, Ungarisch-Deutsch sich verständigte, machte wenig Unterschied. Wesentlich war nur die Möglichkeit der Verständigung; wesentlich und lebenswichtig, wie jeder bald in seinem eigensten Interesse erkannte. So war die österreichische Binnenwanderung ein taugliches Mittel, dem Unsinn des Chauvinismus durch echten humanistischen Sinn zu begegnen. Was in den USA von heute für den, der es sich leisten kann, die in der Regel schwarze Haushaltshilfe oder der japanische Gärtner, oder in Paris die portugiesische oder spanische Bonne ist, das war in Wien einmal die böhmische Köchin. ......

Eine weitere nicht unbedeutende Zuwanderung ergab sich im Lauf der Zeit aus der beträchtlichen Anzahl von Aspiranten des öffentlichen Dienstes in seinen verschiedenen Sparten. Dienst in den Zentralstellen war in aller Regel der höchste Wunsch des Beamten. Es war klar, daß der multinationale Staat auch einer multinationalen Beamtenschaft bedurfte. Es wurde ausgerechnet, daß der deutschösterreichische Anteil der Beamtenschaft in den gemeinsamen (k. u. k.) Ministerien, Äußeres und Krieg — das gemeinsame Finanzministerium nicht inbegriffen — 56 Prozent betragen habe gegenüber einem deutschen Bevölkerungsanteil in Österreich-Ungarn von nur 24 Prozent. In den (k. u. k.) Zentralstellen

der österreichischen Reichshälfte allein habe das Verhältnis sogar 81 Prozent zu 35,6 Prozent betragen (Robert A. Kann). Auch wenn die Ziffern dem ersten Anschein nach stimmen, berechtigen sie kaum dazu, aus ihnen nationalpolitische Schlüsse zu ziehen. Alle Zentralstellen, die gemeinsamen des Reiches wie die österreichischen, befanden sich in Wien. Die Stärke dieser Stadt war nun einmal ihre Anziehungs- und Assimilationskraft gewesen. Dies hat sich in der alten Zeit als Vorteil des Ganzen und seiner Teile erwiesen.

In der Zeit, die 1914 zu Ende ging, gab es sehr viele, die aus Prag, Brünn, Lemberg, Görz usw. nach Wien übersiedelten und unbeschadet ihrer ethnischen Zugehörigkeit dort einfach Österreicher blieben, was ja ein politischer und kein ethnischer Begriff war.

Schließlich darf bei einer Analyse der Binnenwanderung im alten Österreich die Rolle nicht übersehen werden, die der Armee zufiel. Wer sie kannte und mit ihrer Geschichte bis zum Zusammenbruch von 1918 vertraut ist, erinnert sich, daß sie besonders auch in ihren Führungsspitzen und Stäben ein Spiegelbild des multinationalen Staates war. Obwohl die Organisation der Truppenkörper auf dem Territorialprinzip beruhte, weiß man sehr wohl auch, daß vor 1914 zum Beispiel das Prager Hausregiment Nr. 28 in Innsbruck lag, ein bosnisches Regiment in Wien, die Deutschmeister zeitweise in Bosnien; Österreicher in Ungarn und umgekehrt.

Unbestritten aber bleibt, daß sich daraus sachliche und menschliche Berührungspunkte ergaben, die oft genug im zivilen Bereich nachwirkten. Viele nahmen Interesse an Landschaften und Menschen, zu denen sie sonst keinen Zugang gefunden hätten. Man hatte auf beiden Seiten die Chance des Verstehens und der Verständigung, auch wenn man verschiedener Sprache war. Nun lag gerade auf dem Gebiet des Sprachgebrauchs und Sprachenlernens im alten Österreich nicht alles so, wie es hätte sein können und sollen. Die Einsicht der Schweizer, daß es günstig und üblich sei, zumindest zwei Landessprachen zu beherrschen, stieß hier auf wenig Verständnis. Wohl war an den Tiroler Mittelschulen die zweite Landessprache Bestandteil des Lehrplans. In den anderen Ländern wurde dies unterschiedlich gehandhabt. Jedenfalls gab es mehr Tschechen und Ungarn, die des Deutschen mächtig waren als umgekehrt. Das war bei deutscher Kommandosprache auch beim Militär nicht viel anders. Von den Berufsoffizieren, die in fremd- oder gemischtsprachigen Truppenkörpern dienten, war Sprachkenntnis „zum Dienstgebrauch genügend“ gefordert. Diese aber konnte nicht genügen, weil damit die Sprache nur als Mittel der Erpressung und nicht der Kommunikation (Ludwig Marcuse) gemeint war.

Die Sprachenfrage hat heute erfreulicherweise nichts mehr von dem politischen Gewicht, das ihr im alten Österreich zukam. Die rein national begründeten Versuche der Josephini-schen Epoche erscheinen in neuem Licht. Auf der Suche nach dem neuen Europa bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß Anpassung nicht Selbstaufgabe bedeutet. Dieser Tatsache war sich das Establishment — damals hieß es Regime und später System — wohl bewußt. Es war bereit, manchmal bis zur äußersten Grenze

der Selbstverleugnung zu gehen; vor Selbstaufgabe schreckte es zurück und übte darum, was man heute gelegentlich repressive Toleranz nennt.

Was immer darunter zu verstehen ist — und es ist immerhin möglich, daß man bei emsigem Nachdenken über diese und ähnliche Modewortprägungen zur Erkenntnis eines möglichen Sinnes kommt —, ohne Toleranz und Anpassung wäre die Verwirklichung der Europaträume, aber auch das lebendige Erbe des alten Österreich, nämlich der heutige Österreicher, nicht möglich.

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