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Die „Schnurrbarts“

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Die Bezeichnung „Schmelztiegel Amerika" für den Assimilierungsprozeß der nicht angelsächsischen Bevölkerungsteile innerhalb der großen amerikanischen Völkerfamilie ist in Wirklichkeit nur halb richtig und dadurch verwirrend. Sie verleitet zu voreiligen und falschen Schlußfolgerungen. Amerika ist eine Nation von Einwanderern, von im Leben ihres Ursprungslandes noch mit allen Fasern verwurzelten ebenso wie von solchen Immigranten, die alle Brücken hinter sich abbrachen und nur einem neuen Lebensabschnitt zustreben. Der Grad der Einschmelzung wie auch der Grad der Bereitschaft, sich neuen Eindrücken unvoreingenommen hinzugeben, war stets verschieden. Auch die Möglichkeit dazu, nicht zuletzt auf Grund der verschiedenen Bildungsgrundlagen, war keineswegs für alle gleich. Die der Skandinavier, der Deutschen und bis zu einem gewissen Grade der Juden (nämlich soweit sie nicht selbst die Situation der „Zerstreuung“, das heißt des Ghettos, als Gruppe vorzogen!) •war größer als jene, die sich im allgemeinen für die Immigrantenmassen aus Italien, den Balkanländern, aus Polen, Rußland und aus den lateinamerikanischen Ländern ergab. Anders auch als zum Beispiel bei den Iren, die oft, selbst nachdem sie amerikanischen Boden betreten hatten, sich immer noch vor allem als Glieder des von England vergewaltigten Heimatlandes fühlten. Die Problematik der Asiaten, die die längste Zeit nur in kleinen Scharen Zugang erlangten, steht noch auf einem besonderen Blatt. Oft fanden sie sich einer ähnlich verachtungsvollen Feindseligkeit gegenüber wie teilweise die einheimischen Neger. Alle diese Besonderheiten ergaben einen beträchtlichen Unterschied in dem Tempo, mit dem sich einzelne Volksgruppen assimilieren konnten — oder auch wollten!

Vor dem Gesichtsverlust

Bereits Ende des 17. Jahrhunderts siedelten die ersten Deutschen in Nordamerika. Weitere Einwanderungswellen folgten,.his.die deutschsprachige Volksgruppe schließlich die zahlenmäßig siärkste.mchtcnglisdie Gruppe in den Staaten aärstellte.

In der Entwicklung des Deutsch- Amerikanertums lassen sich deutlich mehrere Perioden unterscheiden. In der ersten Periode haben die zumeist aus religiösem Nonkonformismus aus der alten Heimat Ausgewanderten vor allem einen neuen Arbeitsplatz gesucht und — oft als Farmer — auch gefunden. Einigen Städten verliehen sie ihr Gepräge und versuchten dort, ein wenig abgesondert hausend, ein Gott und den Gesetzen folgsames Leben zu führen. Mit dem Eintreffen der „Achtundvierziger“ wurden weite Kreise der deutschen Immigration ah die amerikanische Politik herangeführt. Sie haben aktiv, beeinflussend, militant, am Aufbau, am Schutz, an der Entwicklung der Union teilgenommen. Die zweite Periode des gruppenmäßigen Mithandeln- und Mitbestimmenwollens fand im Zusammenhang mit dem ersten Weltkrieg ein Ende. Die scharf antibritische Haltung vieler deutscher Verbände, die auch nach dem amerikanischen Kriegseintritt nicht völlig verschwand, schuf ein wachsendes Miß

rauen der Öffentlichkeit gegen ihre irganisierte Aktivität, isolierte sie teil- veise vom Gefühl der Gesamtnation ind führte schließlich dazu, nicht hne innere Auseinandersetzungen in len eigenen Reihen, zu der mehr oder ninder „gewünschten“ Aufgabe eige- ler politischer Gruppenbildungen. Man og sich auf geselliges Leben eigener Art zurück, vollzog anderseits in stei- :endem Maße als einzelner rückhalt- oser als vorher die Einordnung in die Imgebung und verlor notwendigerweise dabei immer mehr das Interesse in der Bewahrung eigener Kultur, 'resse und Tradition. Diese dritte Pe- iode ist heute im Abklingen. Das leutsch-Amerikanertum als Ganzes iat kaum, noch ein eigenes „nationals“ Gesicht und keinen Ehrgeiz mehr, ils „Pressure-group“ zu handeln.

ie wählten Lincoln

Daß vor hundert Jahren von einer ntellektuellen Blüte deutscher Flücht- inge entscheidende Anstöße für die merikanische Nationwerdung ausgin- en, klingt nur noch als, eine Art leldensage in die Zeit hinein. Damals at eine merkwürdige Symbiose zwi- chen europäischen Ideologien und der leuem Werden offenen Realität des merikanischen Kontinents stattgefun- en. Die deutschen Liberalen und Ra- ikalen ergriffen die Chance, für ihre deen auf jungfräulichem Boden mit 11 der Kraft, die in der Heimat nicht um Zug gekommen war, die Trom- lel zu rühren. Sie rissen einen Teil er älteren deutschen Einwanderung lit sich und gliederten sich mit ihnen usammen in die inneramerikanischen ronten ein, womit sie brachliegende hafte, die sich vorher selbstgenügsam bseits gehalten hatten, fruchtbar lachten.

Bis dahin hatten traditionsgemäß ie meisten Deutschen der Demokrati- :hen Partei angehört. Jetzt, als fast usnahmslos die deutsche liberale, de- lokratische, sozialistische Intelligenz nter den Flüchtlingen vor, während nd nach dem Sezessionskrieg sich mit I ihrer' Leidenschaft für die Ab- rhaffung der Sklaverei, aber auch für e" Einheit- der Union efnsetzte, Stiern in immer stärkerem Maße die ratschen Immigranten zu den Repu- iikanem, später zu den „Unabhängi- m Republikanern“, und bildeten in nigen Staaten das Rückgrat der da- als fortschrittlichen Bewegung. Deut- :he Turnerregimenter eilten zu den ihnen, als die Konföderation sich zu sen versuchte. Deutsche hatten hohe iffiziersstellen während des Bürgerrieges, danach hohe Verwaltungs- isten in der Union inne. Historiker nd überzeugt, daß die Wahl Lincolns im Präsidenten 1860 nicht zuletzt if die Aktivität von Carl Schurz zu- ickzuführen war.

Nicht nur in der nationalen Politik itten die „Schnurrbarts“, wie man imals oft die Deutschen nannte, zeit- eise einen starken Einfluß. In den sten Zeiten der amerikanischen Ge- erkschaftsorganisation hatten deut- :he Radikale bei der Gründung von 'zialistischen Parteien und Kampf- lättem ihren guten Anteil — aller- ings auch an der sektiererischen echthaberei, mit der diese Ansätze ch oft bald von innen zersetzten.

Nicht im Exil

UH ULlgCLLCULCL UCUCULUlIg LUI damalige Periode der deutschen Einwanderung war, daß die Neuankömmlinge sich nicht, wie später großenteils die Emigranten der Hitlerzeit, im Exil fühlten, sondern sich mit beiden Beinen in die neue soziale Wirklichkeit hineinstellten und nicht Gäste, sondern Teil sein wollten. Dazu kam etwas anderes: Die liberale deutsche Intelligenz, die damals in den Staaten plötzlich an die Rampe des politischen Theaters trat, hatte eine „Botschaft“. Keine andere Immigration hat etwas Ähnliches mitgebracht. Ein Menschenalter zehrte sie davon. Dann verblich ihre Leuchtkraft. Als das Deutsch- Amerikanertum zum ersten Weltkrieg

loch einmal politisch Stellung nehmen wollte, reichte es dazu ideologisch licht mehr aus: Das kaiserliche leutschland, dem man da und dort wegen der gemeinsamen Sprach- und Culturwurzel heraushelfen wollte, trug in anderes, fremdes Gesicht. Die daruf einsetzende Desintegration war licht nur durch die Umstände erzwungen, auch die Flamme des Sendungs- ewußtseins war ausgebrannt. Von da in war der geistige und damit auch irganisatorische Schrumpfungsprozeß licht mehr aufzuhalten. Und nur deinste Minderheiten nahmen an der Auseinandersetzung um den National- ozialismus wirklich noch Anteil. Deut

scher Herkunft zu sein, war Angelegenheit der privaten Existenz geworden.

Das stille Zeitungssterben

An der Entwicklung des deutschamerikanischen Zeitungs- und Zeitschriftenwesens läßt sich mit am deutlichsten der Prozeß der strukturellen und geistigen Auflösung zeigen, den das deutschsprachige Element in den USA durchmachte. Nachdem die im Jahre 1732 von Benjamin Franklin begründete „Philadelphische Zeitung“ noch nach der zweiten Nummer aus Mangel an Resonanz das Zeitliche segnete, kann man etwa von 1740 an einen stetigen, wenn auch gelegentlich nur mit großen Opfern einzelner Idealisten ermöglichten Aufstieg der deutschsprachigen Zeitungen verzeichnen: 1890 gab es in den Vereinigten Staaten 756 deutsche Zeitungen und Zeitschriften, darunter 87 Tageszeitungen. Im Jahre 1914 hatten die deutschen Tageszeitungen der USA zusammen eine Auflage von etwa 620.000

xemplaren, die halbwöchentlich er- theinenden Blätter eine solche voi 7.000 Exemplaren und die Wocheneitungen 1,753.000 Exemplare. Di New-Yorker Staatszeitung“ hatte eim luflage von 70.000, die Chikagoe Illinois Staatszeitung“ eine solch on 47.500, der „Germania Herold' 1 Milwaukee 24.000 Exemplare. Di wöchentlich in Milwaukee heraus ommende „Germania“ erschien mi 00.000 Exemplaren. Der erste Welt rieg, insbesondere nach Amerika intritt in die Kriegshandlungen rängte die „Amerikadeutschen“ be tächtlich zurück. Im Jahre 1920 gal s 278 Blätter in deutscher Sprache arunter 29 Tageszeitungen. Zu Begini es zweiten Weltkrieges, bevor di ISA aktiv an ihm teilnahmen, erschie len noch 119 Blätter, darunter el ageszeitungen, 1950, nach Kriegs nde also, 66 beziehungsweise 6. Heut ibt es'noch etwa 45 Zeitungen um Zeitschriften, wenn man die schwei erischer und österreichischer Herkunf inrechnet, aber etwa deutsch-jüdisch lätter nicht dazuzählt. Die Verlage Zeitungen und Zeitschriften des deut eben Anti-Hitlerexils sind völlig ver chwunden.

von Morgenstern bis Rilke, haben damals auf Grund des für ungültig erklärten Copyrights für „feindliches Eigentum“ Auflagen erlebt, die mehr als ansehnlich waren.

„O alte Burschenherrlichkeit“

Noch immer existieren in den USA Tausende deutscher Vereine. Bäcker- und Fleischerinnungen, Heimat-, Gesang-, Jodel- und Kriegervereine (mit dem deutschen „Eisernen Kreuz“ als Abzeichen), Freimaurer, „Hermannsöhne“, Turner, ehemalige Reutlinger, Plattdeutsche, Juden aus Württemberg; sie alle und Tausende anderer „Gruppen“ pflegen ihre eigene Geselligkeit. Ihre Ehrenpräsidenten, ihre Ersten, Zweiten und Dritten Vorsitzenden tragen besondere Ehrenabzeichen. Bei 25jähriger Mitgliedschaft gibt es Schärpen und einen speziellen Ehrungs-Bierabend. Bier, Sauerkraut, „Deutscher Sang“ und „Gemütlichkeit“ werden überhaupt hochgehalten. Ein- oder zweimal in der Woche lebt man in der eigenen Welt, einer Scheinwelt, und dann kehrt man zurück in das „business life“, wie es der Alltag des „American Way“ einem vermittelt.

Politik ist im allgemeinen an den Vereinsabenden streng verpönt, was nicht verhindert, daß man gelegentlich einen Marx zitierenden „old timer“ oder einen Antisemiten trifft. Nur die „volksdeutschen“ Gruppen haben seit Ende des zweiten Weltkrieges ernsthafte Anstrengungen gemacht, auch nach außen als Vertreter der „Heimatvertriebenen“ in Erscheinung zu treten. Alle halbe Jahre tauchen zwar in der deutsch-amerikanischen Öffentlichkeit völlig unbekannte „Massenorganisationen“ des Deutsch-Ameri- kanertums mit irgendwelchen Proklamationen auf. Bis auf die — bedauerliche — Nebenerscheinung, daß deutsche mehr oder minder rechtsradikale Blätter diese Verlautbarungen gelegentlich nachdrucken, kümmert sich mit Recht niemand um sie. Sie sprechen für niemanden!

Die Deutsch-Amerikaner waren ihrer Regierung gegenüber stets völlig loyal. Sie sind Amerikaner! Die deutsche „Vereinsgemütlichkejt“ ist senti-, mentale Rückerinnerung an längst vergangene Zeiten.

irst die Kriegsgefangenen lesen wieder

ns gint im j-anue, vor aiiem aa, wu line nennenswerte Anzahl Deutscher ebt, eine ganze Reihe deutscher iuchhandlungen bzw. Läden, in denen leutsche Bücher verkauft werden. In 'lew York allein gibt es etwa zehn iuchhändler, die nur deutsche Litera- ur führen. Sie alle könnten zu- nachen, wären sie auf deutsch-ameri- :anische Kundschaft angewiesen.- Ne- en zahlenmäßig nicht sehr ins Gericht fallenden Intellektuellenkreisen ms den Zirkeln der ehemaligen deut- chen Emigration, die an Hand regelmäßig versandter Kataloge Spezial- zerke für irgendeine Sonderfrage nötigen, sind es fast ausnahmslos libliotheken, Universitäten, Insti- utionen aller Art, die ihre „deutschen Abteilungen" immer wieder auffüllen, elbst die kleineren Volksbüchereien aben deutsche Werke. Der „private“ )eutsch-Amerikaner ist, wie Buchländler und Redakteure der deutschen

ivLi-ULig vH immer wieuer Dczcugvii ein Buchkäufer. In groteskem Gegen- atz dazu standen die Erfahrungen der eutsch-amerikanischen Buchhandlun- en mit deutschen Kriegsgefangenen. Als diese, in den Lagern die Erlaubnis ekamen, sich Bücher zu bestellen, atten die deutsch-amerikanischen Buchhandlungen ihre große Zeit. Die Prisoners of War“ haben wie oll bestellt, und zwar alles: von 'ourths-Mahler bis zu den schwierig- ten theologischen und philosophischen Büchern. Vor allem wurden Sprach- ücher verlangt. Politische Bücher im ngeren Sinne waren nicht gestattet. Ibersichten, die zu dieser Zeit über ie Art der verlangten Lektüre ver- ffentlicht wurden, zeigten ein er- taunlich hohes Durchschnittsniveau es Angeforderten. Selbst „Emigran- enliteratur“ wurde verschlungen. Nachdrucke aller Art, vom „Langen- cheidt“ bis zum „Zupfgeigenhansl",

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