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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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„LIEBER FREUND!“ Mit dieser Anrede beginn) das Glückwunschschreiben, das Bundeskanzler Raab in der vergangenen Woche an den Präsidenten des Gewerkschaftsbundes Johann Böhm zu dessen 70. Geburtstag richtete. Der herzliche Ton dieses Briefes entsprang gewilj keiner Festtagslaune. Wer die zurückhaltende, mitunter sogar karge Art des österreichischen Regierungschefs kennt, weif), daß diesem außerdem alle konventionellen Artigkeiten fremd sind. Hier floß etwas anderes mit in die Feder: echte Achtung und Wertschätzung über alles Trennende hinweg. Diese Gefühle mögen in den zahllosen Konferenzen und Gesprächen gewachsen sein, die zwischen den beiden Männern seit 1945 stattgefunden haben. Gar oft sahen sich Julius Raab — dieser zunächst als Vertreter der „Wirtschaft“ — und Johann Böhm als Wortführer der „Arbeit“ gegenüber. Meinung stieß auf Gegenmeinung. Man trennte sich un-verrichteter Dinge, aber — man kam immer wieder zusammen. Und schließlich wurde auch stets ein Einvernehmen erzielt. Denn man wufjte: man saß auf demselben Ast. (Ein nüchternes staatspolitisches Bekenntnis, das die Kommunisten alsbald zu einer Waffe gegen den Jubilar umbogen.) Gäbe es Protokolle von jenen Gesprächen und Verhandlungen, künftige Historiker hätten in ihnen die wichtigsten Unterlagen für die Antwort auf die Frage nach dem glücklichen Ueberstehen mancher gefährlichen Situation des letzten Jahrzehnts. Aus ihnen könnte man auch den Weg des ehemaligen freien (sozialistischen) Gewerkschafters Böhm zu einer über die Schranken seiner Gesinnungsgemeinschaft hinaus allgemein respektierten Persönlichkeit überblicken. Nur Karl Renner und Leopold Kunschak war dies bisher beschieden. Die zahlreichen Würdigungen und Glückwünsche, die Johann Böhm auch von nicht-sozialistischer Seite anlählich seines Ehrentages zuteil geworden sind, zeigen dies. Man darf nur hoffen, dafj Johann Böhm das Steuer der grofjen Interessenvertretung der österreichischen Arbeitnehmer noch lange in der Hand behäll. Oesterreich braucht solche Persönlichkeiten mit, wie die Engländer es nennen, „common sense“. Es hat ihrer nicht zuviele.

DER HABIT MACHT DEN MÖNCH. An dieses alte Sprichwort sollte man denken, wann immer von der Uniform des Bundesheeres die Rede ist. Es ist nämlich durchaus nicht gleichgültig, in welchem Gewand sich die jungen Vaterlandsverteidiger vorstellen. Das wird man bald in der Deutschen Bundesrepublik erfahren, wo man etwas zu stark beeindruckt von westlichen Modellen, Uniformen entworfen hat, die die US-Army als Vorbild unschwer verraten. Der psychologische Gegenzug ist bereits da: Ostdeutschland überraschte die Weltöffentlichkeit mit der Mitteilung, dafj seine „Volksarmee“ die „nationale Tradition“ auch äußerlich zur Schau stellen wird. Und tatsächlich: die Bilder, die man bisher sah, zeigten Soldaten, die der Kleiderkammer der weiland Deutschen Wehrmacht entsprungen sein könnten. Man unterschätze solche Demonstrationen — sie müssen nicht immer so aufdringlich sein — keineswegs. Für die Montur der österreichischen Soldaten, über die eine Entscheidung zu fällen es nun allmählich Zeit wird, heifjt dies: Neben einem modernen Kampfanzug eine kleidsame und aus der eigenen Tradition erwachsende Uniform zu schatten. Noch einmal sei hier ein Wort für die auch heute noch viel zweckmäßigere geschlossene Bluse gesprochen. (Im Sommer wird man selbstverständlich nur Hemden tragen.) Wenn man aber wirklich glaubt, dafj es ohne Krawatte gar nicht geht, dann ist die Bluse länger zu schneidern und mit einem Sfoffgürtel zu versehen. Die Phantasie der Kappenmacher aber rege man an, österreichische „Feldkappen“ und nicht „Gebirgsjägermützen“ herzustellen. Ueber all diese Dinge könnten bestimmt einer oder der andere Uniformspezialist genaue Auskunft geben. Wird man diese konsultieren oder wird man solche „Aeufjerlichkeiten“ souverän vernachlässigen? Man sollte es nicht tun. Denn: siehe Titel. *

MILCHPREIS UND KINDERBEIHILFEN. Die Regelung — d. h. Erhöhung — der Milchpreise ist unvermeidbar geworden. Wenn man sich schon mit diesem Tatbestand abfinden muh, so nicht mit den Versuchen, die Mehrkosten, die aus der Preiserhöhung entstehen, entweder überhaupt nicht oder — was noch schlechter ist — mechanisch abzugelten. Wer wird denn die Last aus der Milchpreiserhöhung tragen müssen? Kaum jene, die jetzt am lautesten jammern und über Nacht zu Milchtrinkern werden. Sondern die Familien mit Kleinkindern. Und nicht jene, die Milch nur vom Milchkaffee oder als Jugenderinnerung kennen. Für diese macht die Erhöhung des Milchpreises kaum viel aus. Was sie für Milch ausgeben, steht in keinem Verhältnis zu ihren Ausgaben für Benzin, Wein, Kinokarten und anderen non-essenfials. Wenn aber eine Familie, in der Kleinkinder sind, je Tag mehrere Liter Milch kaufen muh, wird sie eine Milchpreiserhöhung ganz besonders stark spüren. Und nun steht zufällig eine Neuregelung der Kinderbeihilfen bevor. Wäre es nicht — schon aus psychologischen und aus optisch-politischen Gründen — gut, Milchpreiserhöhung und Steigerung der Kinderbeihilfen miteinander zu verbinden, also gleichsam zu kompensieren? Dadurch wäre die Debatte um den Milehpreis ent-(anatisiert und nicht ein Politikum. Oder will man etwa das Beispiel der Miefzinsbeihilfe wiederholen: Denen, die so gut wie keine Mehraufwendungen durch die Regelung des Milchpreises haben, so viel geben wie den Kinderreichen?

IN FRANKREICH: OFFENES SPIEL DER KRÄFTE,Kaum war der kurze und eben darum ungewöhnlich heftige Wahlkampf vorüber, begann der Präsident der Republik traditionsgemäß seine informativen Besprechungen, die sehr bald dazu führten, daß Präsident C o t y den Vorsitzenden der sozialistischen Partei Guy Mollei mit der Bildung der neuen Regierung betraute. Nach einigen weiteren Tagen nahmen die Konturen der zukünftigen Regierung Frankreichs bereits feste Gestalt an. Da es sich dabei um eine Regierung der Minderheit handelt, ist die politische Lage in Frankreich heute noch keineswegs stabil. Niemand weiß es besser als die Akteure der gegenwärtigen Politik, von denen der Katholik und Mendes-France-Anhänger Francois M a u r i a c sich in diesen Tagen mit einem aufsehenerregenden Aufruf an die Abgeordneten der Republikanischen Front wandte, die umstrittene Frage der staatlichen Subvenfionierung der katholischen Schulen nicht gleich wieder aufs Tapet zu bringen. (Die Zurückziehung dieser sogenannten loi Barange, die 1951 von der MRP eingebracht wurde und seither unter anderem von den Radikalsozialisten und Sozialisten leidenschaftlich bekämpft wird, müßte eine weitere Entfremdung zwischen MRP und Republikanischer Front nach sich ziehen.) Nichts war natürlicher, als daß die Kommunisten ihren ersten Antrag im neuen Parlament für die Abschaffung dieses Gesetzes stellten. Ihre Politik läuft auf eine Isolierung der Republikanischen Front hinaus, wodurch diese gezwungen werden soll, der Volksfront mit den Kommunisten zuzustimmen. Die Nervosität, mit der die kommunistische Presse auf den Schritt Mauriacs reagierte, zeigte aber auf einmal, daß sich die Kommunisten ihrer Rolle als Zünglein an der Waage gar nicht so sicher sind. Ein Teil der deutschsprachigen Presse, die damit ihre geerbten frankreichfeindlichen Komplexe abreagiert und in Wahrheit das Geschäft der Kommunisten besorgt, will nun seit Wochen weismachen, daß in Frankreich nunmehr alles nach Wunsch der Kommunisten vor sich gehe. In Wahrheit unterstützen die Kommunisten die Republikanische Front vorläufig gar nicht so sehr aus Taktik, sondern vielmehr aus Zwang, weil sie sich ihren Wählern gegenüber es einfach nicht leisten können, eine Linksgruppe, die um die entscheidenden Reformen in t'ordafrika und um die Verbesserung der Lage der französischen Werktätigen ringt, offen anzugreiten. Andere Fälle, wie der des Kommunistenführers Herve, der bei einem Maurice nahestehenden Verlag seine die Moskauhörigkeit der KP-Führung offen kritisierenden Bücher veröffentlicht, deuten ebenfalls auf die Möglichkeit hin, daß die Kommunisten von einer geschickt operierenden Republikanischen Front in die Defensive gedrängt werden könnten. Das Soiel der Kräfte ist noch offen. Ist aber diese Offenheit nicht der klassischeste Zug der Demokratie und zugleich die Hoffnung aller, die ein erstarktes Frankreich nicht aus dem Konzert der europäischen Völker. missen möch-ten? 4|

DER TOAST VON BOMBAY. Der Anlaß der mehrtägigen Unruhen in der eineinhalb Millionen Einwohner zählenden Stadt ist, auf den ersten Blick gesehen, beiläufig. Man demonstriert gegen den Plan, die Stadt direkt der Zenfralverwaltung der Indischen Union zu unterstellen. Wer aber hegte den Plan? Niemand anderer als Nehru selbst. Wer stand ihm — zumindest bisher — zur Seite? Die Kongreßpartei. Und jetzt erhebt sich eine ernste Opposition gegen Nehru, eine Opposition, die sogar in die Reihen der Kongreßpartei hineinreicht. Vorderhand sind es bloß <ünf Abgeordnete. Da aber ein sehr einflußreicher Mann der Partei der Regierung bereits vorgeworfen hat, sie verstoße gegen die demokratischen Rechte und Freiheilen, werden die fünf bald Nachfolger bekommen. Es liegt klar auf der Hand, daß die kommunistische Partei Indiens eine maßgebliche Rolle bei den Demonstrationen gespielt hat und noch spielen wird. Die Partei hat ja durch den Besuch N. A. Bulganins und N. S. Chruschtschows am Abend des 24. November 1955 in Bombay eine sichtliche Injektion erhalten. Bombay selbst gilt als der soziale neuralgische Punkt Indiens. Er ist alles eher denn das, was die deutsche Uebersetzung des Namens Bombay besagt: „gute Bucht“. Die wirtschaftlichen Schwierigkeifen des Landes konzentrieren sich hier. Nimmt man noch die außenpolitischen Streitpunkte und andere binnenindische Rührmichnichtan hinzu, so hat man ungefähr den Rahmen. „Nicht ohne Erregung näherten wir uns den Grenzen Ihres Staates“, hieß es im Toast vom 24. November seitens der Besucher. Nun, die Erregung ist sehr effektiv geworden. Was aber bisher gänzlich der Aufmerksamkeit der Oeffentlichkeit entging, wenn von Indien die Rede war, das sind die Bahnbaufen in Transkaukasien und in China: die zwei Arme einer strategischen Zange, mif der man einmal die indische Nuß zu knacken hofft.

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