6603827-1954_05_01.jpg
Digital In Arbeit

Das „letzte Experiment“?

19451960198020002020

Das sechste Treffen der Wesfmächfe mit Moskau nach dem zweiten Weltkrieg begann soeben in Berlin, nachdem starke Differenzen bereits bei den Vorbesprechungen sichtbar wurden. Acht Jahre nach Potsdam, nach den unheilvollen Abkommen über Deutschlands Zerreißung, sechs Jahre nach dem Beginn der Luftbrücke, die dem Versuch, Berlin dem Westen zu entreißen, ein Ende setzte, drei Jahre nach dem Beginn des Koreakrieges, knapp ein Jahr nach dem Tode Stalins, blickt die ganze Welt, in Ost und West, mit Furcht und Hoffnung, Skepsis und Erwartung nach Berlin, wo vor sechsundsechzig Jahren, auf dem Ersten Berliner Kongreß, Bismarck als Kanzler des Deutschen Reiches die Vertreter der führenden Großmächte Rußland, Oesterreich, England begrüßen konnte. Bismarck, Schuwalow, Andrässy und Beaconsfield: An die Stelle dieser „Großen Vier" sind heute Dulles, Molotow, Eden, Bidault getreten. — Der ersten Berliner Konferenz war, nach langwierigen, schwierigen Verhandlungen, ein großer Erfolg beschieden: die Sicherung des Friedens in Europa, das damals die Welt bedeutete, für beinahe ein halbes Jahrhundert…

19451960198020002020

Das sechste Treffen der Wesfmächfe mit Moskau nach dem zweiten Weltkrieg begann soeben in Berlin, nachdem starke Differenzen bereits bei den Vorbesprechungen sichtbar wurden. Acht Jahre nach Potsdam, nach den unheilvollen Abkommen über Deutschlands Zerreißung, sechs Jahre nach dem Beginn der Luftbrücke, die dem Versuch, Berlin dem Westen zu entreißen, ein Ende setzte, drei Jahre nach dem Beginn des Koreakrieges, knapp ein Jahr nach dem Tode Stalins, blickt die ganze Welt, in Ost und West, mit Furcht und Hoffnung, Skepsis und Erwartung nach Berlin, wo vor sechsundsechzig Jahren, auf dem Ersten Berliner Kongreß, Bismarck als Kanzler des Deutschen Reiches die Vertreter der führenden Großmächte Rußland, Oesterreich, England begrüßen konnte. Bismarck, Schuwalow, Andrässy und Beaconsfield: An die Stelle dieser „Großen Vier" sind heute Dulles, Molotow, Eden, Bidault getreten. — Der ersten Berliner Konferenz war, nach langwierigen, schwierigen Verhandlungen, ein großer Erfolg beschieden: die Sicherung des Friedens in Europa, das damals die Welt bedeutete, für beinahe ein halbes Jahrhundert…

Werbung
Werbung
Werbung

Von Amin tore Fanfani stammt die Formulierung des ersten Artikels der italienischen Verfassung, die mit den Worten beginnt: „Italien ist eine demokratische Republik, die sich auf Arbeit gründet.“ Der junge, 1946 als Abgeordneter in die Konstituante gewählte toskanische Politiker brachte damit die scheinbar harmlose Version der Kommunisten zu 1-11,' die da lautete: „Italien ist eine demokratische Republik der Arbeiter.“ Der klassenkämpferische Unterton war dem Professor für Nationalökonomie mit dem brillanten Studiengang nicht entgangen; zugleich schien es ihm jedoch unmöglich, daß das soziale Prinzip der Arbeit nicht in feierlicher Weise sanktioniert werden sollte.

Auch Farifanis Formel ist in der Folge gelegentlich kritisiert worden. Die Kommunisten leiteten aus ihr das Recht jedes Staatsbürgers auf Arbeit ab und damit für den Staat die Pflicht, sie ihm zu verschaffen. Zweifellos hat Fanfani eine solche Interpretation niemals im Sinne gehabt, aber sicher ist auch, daß Italien in ihm den leidenschaftlichsten Kämpfer für dieses Recht und gegen die Wurzelfäule der italienischen Gemeinschaft, das Elend der Beschäftigungslosen, gefunden hat.

Im Leben des heute erst 45jährigen christlichdemokratischen Ministers mag die erwähnte Episode bedeutungslos sein; aber sie wirft bereits ein bezeichnendes Licht auf den Mann, der plötzlich, wenn auch nicht überraschend, zum Chef der italienischen Regierung designiert wurde. Dringt man durch die äußerste Schichte der letzten Krise, persönliche Ambitionen und parteipolitisches Intrigenspiel, in die tiefer gelegenen der parlamentarischen Zahlenalchemie und ernster Meinungsdivergenzen, wirtschaftlicher, außenpolitischer und selbst ideologischer Interessengegensätze ein, gelangt man schließlich zu ihrem eigentlichen Wesenskern: das soziale Drängen, das heute die italienische Innenpolitik auf neue Wege treibt. Sein Kraftzentrum ist nicht etwa die marxistische Linke, es liegt vielmehr innerhalb der Christlichdemokrat i- schenParteiselbst und geht von einer unter dem Namen „Iniziative Democratica“ bekannten Gruppe junger katholischer Aktivisten aus, die sich, sich an den Soziallehren der Kirche inspirierend, jenen Massen entgegenstellen will, die heute der christlich konzipierten Demokratie entfremdet sind undin ständig stärkerem Maße der materialistischen Demagogie anheimfallen. Anführer dieser Gruppe christlichdemokratischer Parlamentarier ist jedoch Amintore Fanfani.

Zwei Millionen Wähler haben am 7. Juni 1953 die Partei des Kreuzschildes verlassen und sind, zum Großteil nach rechts, abgeschwenkt, während die mit ihr verbündeten demokratischen Zentrumsparteien einen kräftigen Aderlaß zugunsten der Linken erlitten. Kommunisten und Nennis Sozialisten waren deutliche Gewinner. Der Rückschritt der christlichdemokratischen Partei ist nach 1948 stetig gewesen und konnte bei den letzten Wahlen daher nur zum geringen Teil durch die Verärgerung weiter Wählerschichten über ein als undemokratisch und unkonstitutionell empfundenes Wahlgesetz verursacht worden sein. Mit anderen Worten: zwei Millionen Wähler haben vergessen, daß es auch für Italien ein Jahr Null gegeben hat und daß es immenses Verdienst der zentristischen und den Klassengeist überwindenden Politik De Gasperis war, Italien nach dem Tiefstand von 1945 auf eine gesicherte wirtschaftliche Basis und zu internationalem Ansehen zu führen. Der damalige Parteisekretär, G o n e 11 a, sprach einmal von „natürlicher Abnützung“, der jede zu Regierungsverantwortung berufene Massenpartei unterworfen sei. Aber ein Teil der Wähler sah nur mehr, daß die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren nicht mehr nennenswert abgenommen hatte, daß der kommunistische Druck anhielt. Eine Welle des Mißvergnügens schlug der DC entgegen, von der extremen Linken geflissentlich und geschickt genährt, unwissentlich und blind von einem neuen „liberalen“ Antiklerikalismus unterstützt. Korruptionsskandale flackerten auf und versandeten wieder nach der Feststellung ihrer Unstichhaltigkeit. Großzügige Reformpläne, wie die der Enteignung der Latifundien, die Schaffung eines Finanzierungsinstitutes für den rückständigen Süden oder die Einleitung eines neuen, gerechteren Besteuerungssystems, verloren ihren Wert angesichts des Eindringens von Parteigünstlingen in gutbezahlte Stellen staatlich kontrollierter Betriebe, der Postenhäufung, des übermütigen Mißbrauches ihrer Macht seitens gewisser Großindustriellen und der Verachtung, die diese dem Staate und der Menschlichkeit entgegenbrachten. Zwar zeigten zweifelsfreie Statistiken eine allgemeine Zunahme des Volkseinkommens, ver-

größerte Ausgaben für Genußmittel, wie Tabak, auch im Süden, und für Vergnügungen, die jene der Vorkriegszeit erheblich übertrafen, aber eindringlicher noch sprach der schamlos zur Schau getragene Luxus der Reichen im Gegensatz zu dem wahrhaft unfaßbaren Elend, wie es erst kürzlich durch die Untersuchungen einer Parlamentskommission in den Notstandsgebieten zutage gekommen ist.

Kurz, man vergaß die Verdienste De Gasperis und seiner christlichdemokratischen Partei und rechnete ihrem Schuldkonto Uebelstände auf, die in Italien teils konstitutionell bedingt, zumindest jedoch eine säkulare Vergangenheit haben und nicht erst auf dem Boden der neuen Republik gewachsen sind. Wie immer, das Ergebnis war, daß der Stimmenentgang die christlichdemokratische Partei außerstande setzte, allein zu regieren, während sie immer noch die einzige Partei blieb, die überhaupt eine Regierung zu bilden imstande war, allein die Stimmen aller Kommunisten und Sozialisten übertreffend. Mit 87 v. H. der zur parlamentarischen Mehrheit notwendigen Sitze mußte sie Verbün dete suchen und deren Freundschaft mit programmatischen Verzichten oder Einflüssen erkaufen, die in keinem Verhältnis zu ihrem Kräftebeitrag stehen.

Die Situation war im Sommer 1953 die gleiche wie heute. Damals fiel ihr De Gasperi und nach ihm der ebenfalls in der Mitte stehende Piccioni zum Opfer, am Jahresende war Pella an der Reihe. Pella verzichtete auf den Beitrag der Zentrumsparteien und wendete sich an die rechts stehenden Monarchisten, die zwar nicht in die Regierung eintraten, aber im Parlament Unterstützung gewährten. Die Regierung des Konservativen Pella spiegelte jedoch bei aller persönlicher Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wurde, in keiner Weise die Kräfteverhältnisse innerhalb der christlichdemokratischen Partei selbst wieder, wo die politischen Tendenzen und Strömungen der einzelnen Gruppen trotz der gemeinsamen katholischen Inspiration oft nicht weniger scharf sind wie die der Parteien in der Kammer und im Senat.

Von den 264 Abgeordneten der DC können heute nur etwa 90 der zentristischen Richtung De Gasperis zugezählt werden, zu der vor allem die ehemaligen Minister Scelba, Gonella, Marazza, T u- pini, Andreotti, Spataro und R u- b i n a c c i gehören. De Gasperi, der wegen seiner Mäßigung oft „der einzige wirkliche Liberale Italiens“ genannt wird, hat seiner Gruppe auch republikanisch-demokratischen Charakter und den Glauben an alle europäischen Bestrebungen verliehen. Rechts von ihr steht P i c c i o n i und noch ein wenig weiter rechts der zurückgetretene Ministerpräsident Pella, dem das Land die kompromißlose Verteidigung der Währung verdankt. Die christlichdemokratische Rechte, rund 75 Abgeordnete umfassend, ist jedoch auch zugleich Gegner der gelenkten Wirtschaft und nur lauer Anhänger der Agrarreform. Ihr gehört der Sizilianer A 1 d i s i o an, dem Pella das Landwirtschaftsministerium bei der geplanten Regierungsumbildung anvertrauen wollte und damit die Krise auslöste. Dieser konservativen, Reformen wenig zugänglichen „Tendenz“, in der man die Interessenvertretung des Großgrundbesitzes und der Industrie sehen will, steht auf dem linken Flügel der Partei die Gruppe der christlichen Gewerkschafter gegenüber, mit etwa 25 Vertretern, deren Exponent Giulio Pastore ist, Antifaschist der Ersten Stunde, Antimarxist und von klassenkämpferischen Neigungen. Zur äußersten Linken in der DC muß man auch den Kammerpräsidenten G r o n c h i rechnen, ohne größeren Anhang, aber auch nicht ohne Bedeutung, in dem die Sozialkommunisten „ihren“ Mann erblicken, wenn es jemals zu einer Erweiterung der Regierungsbasis nach dieser Richtung kommen sollte.

Weitaus den größten Einfluß besitzt jedoch auf dem linken Flügel der christlichdemokratischen Partei die vielleicht 65 Abgeordnete zählende „Iniziativa Democratica“ unter der Führung Fanfanis, ein Einfluß, der weit über das Parlament und die Parteidirektion hinausreicht und selbst im hohen Klerus wirksam ist. Man denkt dabei wohl an den Pro- Sekretär im Staatssekretariat, M o n t ini, dessen Bruder der Gruppe Fanfani angehört, oder an den Erzbischof von Bologna, Kardinal L e r c a r o, der kürzlich gemeinsam mit dem ebenfalls der „Iniziativa“ zugehörigen Bürgermeister von Florenz, La P i r a, in sensationeller Weise für die Arbeiter einer von der Schließung bedrohten Fabrik eingetreten ist.

Angesichts so unterschiedlicher Strömungen innerhalb der christlichdemokratischen Partei mußte die Enttäuschung über den Wahlausgang am 7. Juni 1953 den Gegensatz der Meinungen verschärfen. De Gasperis Ansehen und Geschick war es bis dahin immer gelungen, zumindest nach außen hin die disziplinierte Unterordnung der Gruppen unter seine Zentrumsidee zu erreichen, noch gab es ernsteren Konflikt zwischen seiner Stellung als Regierungschef und dem Parteisekretariat, das in Gonella einen Vertreter der gleichen Richtung gefunden hatte. Mit Pella wurde die Sache anders: als Exponent des rechten Flügels konnte sich die Partei mit seiner Regierung nicht mehr- identifizieren. Daß Pella unter solchen Umständen auf eine Klärung drängte, ist verständlich.

Die Initiative wurde vom Staatspräsidenten Einaudi nach langem Zögern in die Hände Fanfanis gelegt. Er gehört zu den umstrittensten politischen Gestalten des heutigen Italien, unter den eigenen Parteifreunden ist er teils heiß verehrt, teils bekämpft, am meisten vielleicht gefürchtet, weil der Weg, den ein Fanfani beschreitet, zwangsläufig in unerforschtes Neuland führen muß. Sehr klein und schmächtig, nervös, aktiv, dynamisch, autoritär, zu raschen Entscheidungen strebend, von überaus wachem sozialem Empfinden und katholischem Tatchristentum durchdrungen. Nenni nannte ihn eine italienische Ausgabe P e r 6 n s ; der christliche Gewerkschafter R a p e 11 i einen verspäteten Kreisleiter. Mehr Glück hatte der Vergleich mit einem Granatapfel: eine harte Schale mit vielen roten Kernen drinnen. Seine brüsken Umgangsformen, der Reichtum fruchtbarer Ideen und der sozialreformistische Geist werden damit gekennzeichnet.

Aber dies sind Urteile seiner Gegner. Die unantastbare Ehrenhaftigkeit Fanfanis, sein karitativer Sinn — obwohl Haupt einer zahl-

reichen Familie gibt er ein Drittel seines Einkommens den Armen — und seine glänzende Organisationsgabe werden von niemandem in Frage gestellt. Seit dem Juni 1947 hat er fünf Regierungen angehört, als Minister für Arbeit, für Landwirtschaft, schließlich für Inneres. Er wurde zu einem der eifrigsten Verfechter der Agrarreform, Schöpfer großer Arbeitslager für die Wiederaufforstung, eines Planes für sozialen Wohnhausbau, der täglich 80 Familien ein Heim schenkt. Die Arbeiter finden in ihm einen im wahrsten Sinne des Wortes unermüdlichen Verteidiger ihrer Rechte. Als Arbeitsminister lud er bei Streitfällen Vertreter der Gewerkschaften, der Betriebe und der Industriellen zu sich und vermittelte stundenlang, eine ganze Nacht hindurch, bis ein Kompromiß zustande kam. Erst wenige Monate ist es her, daß er dem Inhaber einer der großen Industrien Italiens, einem Mann, dessen Name Macht bedeutet, kurzerhand den Reisepaß abnehmen ließ, weil er sich einer seiner „Einladungen“ entziehen wollte.

Aus solchem Holz, sagen seine Anhänger, muß der Mann geschnitzt sein, der imstande sein soll, dem Kommunismus in Italien die Stirn zu bieten. Amintore Fanfani, sagen sie, ist das letzte Experiment. Fanfani ist das Ende der Demokratie, sagen andere. Er ist der Totengräber der stabilen Währung, wieder andere. Aber in allen diesen Urteilen will man angeblichen Absichten den Prozeß machen. In Wirklichkeit ist der so viel diskutierte Mann ein — schrecklicher — Unbekannter.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung