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Moralisches Zähneklappern

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Wenn das so weiter geht, wird es bald zu Schwierigkeiten in der Sitzordnung des französischen Parlamentes kommen. Denn nicht nur Sozialisten und Kommunisten wünschen, wie es ihnen zusteht, auf der linken Seite ihren Platz einzunehmen. Der frühere Außenminister des verstorbenen Präsidenten Pompidou, Michel Jobert, durchwandert die Regionen des Landes und hat eine Bewegung ins Leben gerufen, die sich am äußersten linken Flügel der Präsidentschaftsmajorität installieren möchte. Das Programm dieser Gruppe erschöpft sich in vagen Andeutungen ihres Gründers, die um vieles weniger klar sind, als die seinerzeitigen berühmten Aussprüche des Orakels von Delphi.

Der Chef des Demokratischen Zentrums und jetzige Justizminister Jean Lecanuet hat ebenfalls zu Beginn des Sommers proklamiert, daß seine Partei den linken Flügel der neuen Mehrheit bilde. Am ersten Oktober 1974 forderte der bisherige Präsident der Radikalsozialistischen Partei Jean-Jaques Servan-Schreiber die gleiche Position und gründete mit der Staatssekretärin für Frauenfragen und engen Mitarbeiterin im Wochenmagazin „L’Express”, Fran- ęoise Giroud, die „Partei de Radi- kalsozialisten und Reformatoren”. Im selben Augenblick wurde eine enge politische Zusammenarbeit zwischen Unabhängigen Republikanern und dem Demokratischen Zentrum Lecanuets publik gemacht.

Diese oft hektischen Versuche, das Zentrum neu zu organisieren, wurden durch die Nachwahlen des 29. September 1974 beschleunigt. An diesem Tag stellten sich der Ex-Mi- nisterpräsident Pierre Messmer sowie fünf seiner ehemaligen Minister den Wählern, um neuerlich einen Sitz im Palais Bourbon zu erringen. Gemäß einem Paragraphen der gaullistischen Verfassung aus dem Jahre 1958 verlieren Abgeordnete, die zu Ministem ernannt werden, ihr Parlamentsmandat und der erste Nachfolger auf der Liste rückt automatisch in die Kammer ein. Verliert mm das Mitglied des Kabinetts sein Amt, so entspricht es in der Regel einem Gentlemen-Agreement, daß der

Nachfolger demissioniert, wodurch eine Neuwahl erforderlich wird. Allerdings soll noch im laufenden Jahr diese Bestimmung durch einen gemeinsamen Beschluß der beiden gesetzgebenden Versammlungen aufgehoben werden. Entsprechend diesem Projekt einer Verfassungsrevision erhalten die Exminister, soweit sie einmal Abgeordnete waren, nach sechs Monaten ohne Nachwahl ihr Mandat zurück. Da alle Parteien mit diesen Änderungen einverstanden sind, können die Wahlen vom 29. September und die darauffolgenden Stichwahlen als die letzten beschränkten Volksbefragungen vor den Legislativwahlen des Jahres 1978 angesehen werden.

Die Regierung hat es peinlichst vermieden, in diese politische Entscheidung einzugreifen, während die Opposition in den sechs Wahlkreisen einen nationalen Test vornehmen wollte. Dieses Vorhaben ist ihr, zumindest in begrenztem Ausmaß, gelungen. Es kündigt sich ein deutlicher Verlust der gaullistischen Stimmen an, und ein Wachsen der Sozialistischen Partei, die sogar ihren kommunistischen Partnern einige Prozent abnehmen konnte. Trotz des lokalen Charakters und des Umstandes, daß die Bürger bei solchen Entscheidungen zu gerne der regierenden Mehrheit einen Denkzettel oder eine Warnung geben wollen, ist die Tatsache klar geworden, daß gegenwärtig die Sozialistische Partei Frankreichs attraktiv für zahlreiche Berufsstände geworden ist, die sich während 15 Jahren traditionsgemäß zum Gaullismus bekannt haben. Damit dürfte die Grundvoraussetzung für ein Gleichgewicht innerhalb der linken Allianz eintreten. Der erste Sekretär der Sozialisten, Mitterand, hat eis offen ausgesprochen, daß die linke Union dann regierungsfähig sein und glaubwürdig wirken könne, wenn ihre beiden Hauptparteien zahlenmäßig in ihrer Mitgliederzahl und den Wählerstimmen zu einem Gleichgewicht gelangt seien.

Dieser Zug nach links, der eine Herausforderung für Giscard d’Estaing ist, soll durch eine Neugruppierung der Mitte gestoppt werden, welche die nichfcmarxistischen An hänger der SP in den Raum der Präsidentschaftsmehrheit des 19. Mai zurückzuführen will. Bisher wurden nur schüchterne Versuche unternommen, um das Bündnis zwischen Sozialisten und Kommunisten in Frage zu stellen. Kleinere Gruppen sozialistischer Parteimitglieder hatten seit zwei oder drei. Jahren sozialdemokratische oder demokratisch-so zialistische Parteien gegründet, die den Dialog mit den Kommunisten entschieden ablehnen. Der bekannteste Repräsentant dieser Richtung dürfte der Bürgermeister von Mülhausen, Emile Muller, sein, der als Präsidentschaftskandidat 1974 einen Achtungserfolg erzielen konnte. Der ehemalige Minister General de Gaulles, Max Lejeune, hat eine Aktion eingeleitet, um in der Bewegung „Sozialistische Gegenwart” die einstigen Freunde der S. F. I. O. aus der kommunistischen Umarmung zu befreien. Alle derartigen Gründungen haben allerdings den Anstrich des Sektenmäßigen nicht ablegen können.

Diese Politiker trafen sich mit Lecanuet und Sei*van-Schreiber fri der Reformbewegung, die am 3. November 1971 formiert worden war. Obwohl diese Organisation, übrigens ein loser Dachverband, die Entscheidungen im März 1973 und Mai 1974 gebracht hat, konnte sie sich wenig festigen und ist über die Bildung einer gemeinsamen Parlamentsfraktion kaum hinausgekommen. Die dif ferenzierten Charaktere Jean Lecanuets und Servan-Schreibers vermochten selten eine Harmonie in ihrem politischen Wirken zu erreichen. Die persönlichen Gegensätze verdichteten sich infolge historischer Reminiszenzen. Das Demokratische Zentrum übernahm im wesentlichen das Erbe des christlich-demokratischen MRP. Die Radikalsozialisten hüteten weiterhin die laizistischen Traditionen und priesen die Jakobiner als ihre eigentlichen Ahnen. Der Zwang, eine gemeinsame Taktik auszuarbeiten, hat diese tiefergehenden Widersprüche nicht beseitigen können. Die radikalsozialistische Familie hat sich nach der Publikation des gemeinsamen sozialistisch-kommuni stischen Programmes ebenfalls aufgespalten. Ein Teil, unter dem Namen „Linke Radikalsozialisten”, bereicherte die sozialistisch-kommunistische Front, geriet allerdings in den von Mitterand ausgelösten Sog. Die Linken Radikalsozialisten sind bis auf weiteres eine relativ selbständige Gruppe im Vorfeld der Sozialisten.

Die Regierungsparteien sehen sich nun gezwungen, zwei Phänomenen zu begegnen, die auf die Dauer für das Regime gefährlich werden können. Noch ist die gaullistische UDR die stärkste Fraktion im Parlament, aber wie Meinungsumfragen und die Bilanz der Wahl vorn 29. September deutlich machen, ist diese Partei abgenützt und findet nur noch ein mäßiges Echo in der Öffentlichkeit. Deshalb sieht sich der eigentliche Wahlstratege Giscard d’Estaings, der Innenminister Poniatowski, veranlaßt, seinen seit Jahren zäh vertretenen Plan so schnell wie möglich zu realisieren und eine Massenpartei liberaler Prägung zu präsentieren, die eine Alternative zur UDR darstellen will. Aus diesem Grunde wurde die Annäherung zwischen den Unabhängigen Republikanern und dem Demokratischen Zentrum akzentuiert. Poniatowski wünschte eine komplette Fusion der beiden Parteien, Justizminister Lecanuet jedoch wollte kein Harakiri begehen und darum erzielten die Unterhändler lediglich die Bildung einer Konföderation, die im Verlauf der Entwicklung durchaus zu einer Einheit führen kann.

Damit ist das Problem der Stimmenabwanderung zur Sozialistischen Partei kaum gelöst. Die Aufgabe, die sozialistische, regierungsfreundliche Mitte auf- und auszubauen, übernimmt Servan-Schreiber, dem es gelungen ist, mehrere maßgebende Mitglieder des Kabinetts für dieses Vorhaben zu gewinnen. Gewisse persönliche Momente mögen Jean-Jacques Servan-Schreiber zusätzlich getrieben haben, die „Partei der Radikalsozialisten und Reformatoren” aus der Taufe zu heben, denn in der bisherigen Radikalsozialistischen Partei hätte er nach den Statuten nicht neuerlich zum Präsident gewählt werden können. Seine neue Partei beansprucht als ideologische Grundlage das berühmte radikalsozialistische Manifest aus dem Jahre 1970, das unter dem vielversprechenden Titel „Himmel und Erde” den Wählern als politische Bibel übergeben wurde.

Diese Absprachen und Kompromisse, Fusionen und Neugründungen können zwar kleinere Kreise politisch Interessierter dazu bewegen, im Rahmen dieser Gruppen aktiv zu werden, aber die Masse der Wähler und Bürger wird sich lediglich nur dann von einem Poniatow- ski, Lecanuet oder Servan-Schreiber ansprechen lassen, wenn die oft versprochenen und mit Sehnsucht erwarteten strukturellen Reformen auf dem Sektor von Gesellschaftspolitik und der Wirtschaft einsetzen. Hier wurden aber seit Ende des Sommers viele Erwartungen enttäuscht. Alle Maßnahmen der Regierung, die Preise in den Griff zu bekommen und ein gültiges Konzept der Energieversorgung auszuarbeiten, sind gescheitert oder Stückwerk geblieben. Ein großes moralisches Zähneklappem setzt ein. Noch nie zuvor schien die nationale und internationale Situation .düsterer zu, sein wie ,in diesen morosen Oktobertagen. Die dem Präsidenten gutgesinnte Presse stimmt in einen Chor von Rufen ein, die verlangen, Giscard d’Estaing solle Frankreich nicht nur in die Augen blicken, sondern die großen Veränderungen, die augekündigt wurden. in die Tat umsetzen.

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