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Lecanuet, das neue Idol

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Drei Meinungen wurden beliebig herausgenommen aus einer Fülle von Gesprächen, die den Staatschef betreffen. Niemals in der neueren Geschichte Frankreichs wurde eine politische Persönlichkeit derartig verehrt, geliebt und verdammt. Die Katholiken bilden dabei keine Ausnahme. Sie nehmen leidenschaftlich an den Auseinandersetzungen teil, in der gaullistischen Partei kämpfend,

oder sie bejubeln, so sie nicht im Schatten von Vichy stehen, das neue Idol des Zentrums Lecanuet. Wer waren die tausenden Straßburger, die während des Wahlkampfes im November 1965 die Sporthalle ihrer Stadt füllten? Während in Lyon am 24. April 1966 das Demokratische Zentrum seinen Gründungskongreß abhielt, fielen die meist jugendlichen Zuhörer in eine Art Ekstase, sobald Lecanuet die magischen Worte vom integrierten Europa fand.

Die kirchlich ausgerichtete Partei, die Klerikadisierung des Staates, lehnt der Großteil der katholischen französischen Öffentlichkeit entschieden ab, und ein Trauma befällt sie, sobald Versuche auftauchen, als Kriterium einer Partei das Christentum heranzuziehen.

Zwei historische Voraussetzungen

Will man zeitnahe Erscheinungen des politischen Lebens Frankreichs in diesem Zusammenhang studieren, so gelangen wir zu zwei historischen Vorgängen, die den politischen Standpunkt der Katholiken auch heute bestimmen. Es sind dies die Revolution 1789 und die Trennung Kirche—Staat zu Beginn unseres Jahrhunderts.

Am Ausbruch der Revolution nahmen niedere und mittlere Kleriker aktiv teil. Die Beschwerden des III. Standes wurden vielfach von ihnen verfaßt. Erst der streng laizistische Zug, die Annahme des schrankenlosen Liberalismus, der aus den Werken der geistigen Vorbereiter der Revolution schöpft, schmiedete neuerlich die Einheit zwischen Thron und Altar.

Im 20. Jahrhundert stand ein politischer Prophet auf, der mit großer Macht des Wortes und in glänzender Dialektik die Allianz zwischen Königtum und Kirche predigte, den kooperativen Staat voraussagte und das Wirken der starken Männer ankündigte. Es war dies Charles Maur- ras, der einer Generation von Klerikern das unbedingte politische Leitbild schenkte. Seine „Action fran- caise“ erfüllte eine Jugend mit echten politischen Idealen. Als sie vom Vatikan 1926 verboten wurde, fielen die engen Bindungen zwischen der Kirche und einer Bewegung, die keine zukunftsträchtigen Aspekte aufwies.

Pflimlin und de Gaulle

Eine Minderheit der französischen Katholiken, zutiefst beunruhigt durch das Aufwachsen der sozialen Fragen, versuchte kühnere Lösungen vorzuschlagen. Unter ihnen Marc Sangnier, der in seinem „Sillon“ (Furche) die christliche Demokratie voraussagte. Ebenfalls verboten, und zwar schon 1910, konnte er die Entfaltung seiner Idee in der Massenbewegung des MRP’s nach dem zweiten Weltkrieg erleben. Eine Splitterpartei „Die junge Republik“ versuchte die Reinheit seiner Doktrin bis in die jüngste Zeit fortzuführen. Das MRP fand die größte Unterstützung in jenen Teilen Frankreichs, wo die religiöse Praxis im Volk tief verankert ist, wie in Elsaß-Lothringen, der Normandie und der Bretagne. Südlich der Loire, im den laizistischen Regionen, kam die Partei selbst in den besten Jahren schlecht zum Zuge. Das Drama des MRP begann, als die Scheidung zwischen einer sozial fortschrittlichen Führung und den konservativ gesinnten Wählern eintrat. Wer gab diesen Katholiken Sicherheit, wer wurde Symbol? Weniger die um soziale Reformen besorgten Männer der Volksrepublikaner, die eine Gesellschaft im Sinne der sozialen Enzykliken zu schaffen gedachten, sondern vielmehr der Mann mit dem kleinen Hut, Antoine Pinay, der Retter des Francs, der Vertreter ruhiger Kompromisse, stieg schließlich zum Vorbild auf. Er führte die Tradition des gemäßigten Katholizismus weiter, lehnte soziale Abenteuer ab und wurde mit seiner Partei der Unabhängigen Sammelpunkt eines Teiles der katholischen Mitte und Rechte.

Das MRP hatte sich zu sehr mit der IV. Republik identifiziert, um in der V. eine Rolle zu spielen. Es mag symbolisch sein, daß der Katholik Pflimlin dem Katholiken de Gaulle die Macht übergab. Zwei verschiedene Konzeptionen des Staates trafen aufeinander, die sehr wenig voneinander verstanden. Der eine forderte, was der andere als Verrat an der parlamentarischen Demokratie bezeichnete.

In keiner Weise nahmen namhafte Katholiken an der Vorbereitung des 13. Mai 1958 teil, mochten auch Offiziere und ultrakonservative Zeitungen einen Kreuzzug gegen Kommunisten und Ungläubige predigen.

Heraus aus der Innenpolitik

Die katholische Kirche als solche hat die Innenpolitik restlos verlassen, obwohl einzelne Fragen, wie die der freien Schule, im Parlament der IV. Republik künstliche Mehrheiten hervorgerufen haben, die mit der sonstigen Abgrenzung der politischen Kräfte in keinen Einklang zu bringen waren. Eine Betrachtung, die sich zum Ziele setzt, die französischen Katholiken in der Gegenwart politisch einzuordnen, kämpft mit bedeutenden Schwierigkeiten. Es wird zu unterscheiden sein zwischen der Meinung der Kardinale und Bischöfe, den Inhabern der Pfarreien und den Laien. Beachtliche Unterschiede sind nach Regionen festzustellen, um die Einstellung der Katholiken zum gaullistischen Regime zu fixieren. Die offizielle Neutralität ist vollkommen. In keinem Moment während des Wahlkampfes 1965, der den Präsidenten der Republik bestimmte, rechnete einer der Kandidaten mit der Unterstützung von kirchlicher Seite.

Der hohe und mittlere Klerus erkennt in de Gaulle eine absolut integre Persönlichkeit, deren moralisches Wirken unbestritten bleibt. Daraus resultiert eine gewisse Sympathie für das Regime. Die bisherigen katholischen Wähler der Unabhängigen finden bei Giscard d’Estaing, dem langjährigen Finanzminister de Gaulles, eine politische Heimstätte. In dieser sehr bedeutsamen Gruppe, die als eine Art liberaler Gaullismus auftritt, sehen wir die Großbürger, die christlichen Unternehmer und jene wichtige Schichte der Technokraten.

Die katholischen Jugendlichen, die vom UNR zu Lecanuet stoßen, sind von einem Glauben an Europa erfüllt, der nach den Jahren der Krise, in die die europäische Integration geraten ist, beinahe überrascht. Der von einzelnen Wortführern des Gaullismus, wie Debrė, geförderte Nationalismus, findet geringen Widerhall, und, soweit es Jugend-

liehe betrifft, stammen sie aus dem extremen rechten Lager, wo das Gedankengut eines Maurras uneingestanden eine bescheidene Renaissance feiert.

Zahlreiche Katholiken versuchen eine neue Gruppierung der Linken zu erreichen. Die etwas überalterte sozialistische Partei SFIO bietet geringen Anreiz. Dagegen übt die von den Sozialisten abgesplitterte Bewegung, die sich in der PSU fand, auf die katholischen Laien, besonders auf die Intelligenz, eine besondere Anziehungskraft aus.

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