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Die Katholiken in Frankreichs Vierter Republik

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Die Politik ist gewiß keine „exakte Wissenschaft“. Das ist kein Grund dafür, auf die zweifellos unzureichenden Meßinstrumente zu verzichten. Das bedeutet bloß, daß der Soziologe sich mit keiner noch so genauen „Soziographie" zufriedengeben kann — weder mit den Antworten, die sie erteilt, noch mit den Fragen, die sie aufwirft. Aber es wäre allzu bequem, sich die Rücksicht auf ein unvollständiges und unvollkommenes Beobachtungsmaterial zu ersparen und unter dem Vorwand, daß man die Tatsachen nicht genau genug kennt, vom Ballast der Tatsachen unbeschwert ins Blaue zu spekulieren.

Die Untersuchungen A. Siegfrieds, G. Le Bras’, F. Goguels und G. Dupeux’ über die sozialen Bedingungen der französischen Wahlergebnisse legen recht weitgehende Uebereinstimmungen zwischen Ausübung der religiösen Bräuche und politischem Konservatismus an den Tag. Das heißt jedoch nicht, daß nun alle „mehr katholischen“ Gebiete „mehr rechts“ und alle „weniger katholischen“ Gebiete „mehr links" wählen. In den ersten dreißig Jahren der Dritten Republik gaben die kirchentreuen Departements des Ostens ihre Stimmen vorzüglich der „Linken", während der „indifferente“ Südwesten die „Rechte" erkor; gegenwärtig stehen religiöse Brachfelder wie die Departements Aube, Yonne oder Seine-et-Marne durchaus „rechts“. Abgesehen davon, daß die „Katholizität“ eines soziologischen Bereiches sich schwerlich statistisch erfassen läßt, ist so das alte Vorurteil, das Katholizismus und Konservatismus ohne weiteres gleichsetzen möchte, beim genaueren Hinschauen ebenso in Frage gestellt wie bestätigt. Dazu kommt, daß die soziographi- schen Vergleiche im besten Falle Koinzidenzen aufzeigen können, aber an sich nichts über Ursache und Wirkung aussagen. Das Zusammentreffen der Neigung zu den „Parteien der Ordnung" und des Festhaltens am religiösen Brauch bezeugt noch nicht, daß die eine von dem anderen kommt: es ist ebenso gut möglich, daß beide Folgen aus dem Grunde gemeinsamer Bedingungen hervorgehen. Endlich darf man zudem nicht vergessen, daß alle Statistik stets gestrig ist, und daß insbesondere Wahlstatistiken die lebendigen Strömungen der Jugend nur schwächlich und mit zaudernder Verspätung kundtun. Und dennoch, trotz allen diesen Einschränkungen, stellen die so überaus zahlreichen Koinzidenzen der religiösen und der politischen Karte Frankreichs eine unumgängliche Frage.

Ernste Schwierigkeiten für die harmonische Vereinbarung von Kirche und Staat im politischen Leben findet man in det Geschichte Frankreichs natürlich schon lange vor der Errichtung der Ersten Republik. Das monarchische Frankreich erlebt im Hundertjährigen Kriege, in den Religionskriegen oder zur Zeit der Fronde folgenschwere Hochspannungen zwischen den beiden Polen, die man (reichlich ungenau) als „Gallikanismus“ und „Ultramontanismus“ zu bezeichnen pflegt. Seit Anbeginn aber der republikanischen Staatsform, seit der „zivilrechtlichen Konstituierung“ der französischen Geistlichkeit (1790), steht die Kirche in offenem Konflikt mit der Republik. Während J. de Maistre, de Bonald und ihre Nachfolger die Versöhnung zwischen Katholiken und Staat in der Rückkehr zu den alten Institutionen suchen, bemühen sich seit über einem Jahrhundert andere, die nicht an eine Rückgängigmachung der Geschichte glauben, darum, die Katholiken aktiv, bejahend — wenn auch durchaus nicht zu allem Ja sagend — in das aus der Französischen Revolution hervorgegangene Staatsleben hineinzubringen. „Soziale Katholiken“, wie Montalembert oder Albert de Mun, erkannten in der Sorge um die Lage der Massen ein echte christliches Anliegen und stellten die Verbesserung der sozialen Zustände zugunsten der benachteiligten Schichten in den Mittelpunkt ihres politischen Strebens: sic waren bereit, zum Volke zu gehen und sich für das Volk nach Kräften zu bemühen, aber ihre politische Grund-auffassung blieb monarchistisch oder zumindest aristokratisch: darauf ausgerichtet, dem Volke hierarchisch — von oben nach unten — Gutes zu tun. „Christliche Demokraten", wie Lamen- nais oder Ozanam und später Marc Sangnier, waren nicht nur bereit, demokratischen Strömungen entgegenzukommen und mit ihnen parallel zusammenzuwirken; sie bejahten die Demokratie — nicht etwa wie ein kleineres Uebel, sondern als die wünschens- und liebenswerte Form des politischen Lebens.

Wie alles geschichtliche Werden ist die Entwicklung des Verhältnisses der französischen Katholiken zur Republik nicht ein gradliniger Fortschritt, sondern eine — manchmal recht abschüssige — Wechselfolge ziemlich verwickelter Ereignisse. Auf den Ruf Leos XIII. zum „Ralliement“, zur Versöhnung mit der Republik, folgt die Trennung von Staat und Kirche und mit ihr — als Bedingung und Folge — ein Klima, das die Katholiken in der Nation auf lange Jahre von der Republik trennte. Die großen Wendepunkte der Zuwende waren zweifellos die na-, tionalen Prüfungen der beiden Weltkriege. Seit dem nationalen Erlebnis des ersten Weltkrieges ist dem überlebenden laizistischen Antiklerikalismus der alte Schwung ausgegangen. Zum erstenmal seit 1879 kam es wieder vor, daß man Katholiken in der Re-

g i e r u n g finden konnte. Die zahlenmäßig freilich recht bescheidene und unter den Katholiken eher als Außenseiter betrachtete, aus dem „Sillon“ Marc Sangniers hervorgegangene „Jeune République“ unterstützte sogar die Volksfrontregierung. Das Ausreifen der Saaten eines Jahrhunderts, die Haltung der einen und der anderen gegenüber oder in dem nationalen Widerstand und die daraus folgende, wenigstens vor-’ übergehende, Ausschaltung eines Großteils der alten politischen Garde ließ aus den ersten Wahlen nach dem zweiten Weltkrieg die „christlich-demokratischen" Volksrepublikaner als zahlreichste Partei hervorgehen. Ist auch inzwischen reichlich viel Wasser in den Wein überschwenglicher Hoffnungen geflossen, so bewahrt doch das Ereignis seine geschichtliche Bedeutung fiir das innere politische Leben Frankreichs: als Anzeichen dafür, wie normal heute die französischen Katholiken — natürlich nicht unbedingt jeder einzelne, aber eben auch nicht nur einzelne Gruppen — in der Republik stehen.

Das heißt keineswegs, daß etwa jetzt die französischen Katholiken mehr oder weniger christlich-demokratisch gleichgeschaltet seien. Es gibt in Frankreich keine „katholische Partei“. In dem Maße, in dem die „Volksrepublikanische Bewegung" dazu kam, dem Anschein nach einem solchen Gebilde zu ähneln, war das wieder ihre ständige Doktrin, die ausdrücklich die Identifizierung von Religion und Politik ablehnt. Die Kirche scheint in Frankreich gegen die Versuchungen des „Klerikalismus" durch die Erfahrungen der Geschichte gründlich geimpft und gefeit. Der Episkopat empfiehlt kein politisches Programm und beglaubigt keine Partei. Und die französischen Katholiken nehmen die Freiheit wahr. Der gemeinsame Glauben wirkt sich so nicht in einer gemeinsamen politischen Haltung, sondern eher negativ, in der Ablehnung von mit dem Glauben vereinbaren Haltungen, aus.

Wo stehen nun tatsächlich die Katholiken in der Vierten Republik? „Rechts" und „links" haben im gegenwärtigen Umbruch nicht mehr viel zu bedeuten. Aber wie man auch die „Linke" oder die „Rechte" (mit etlicher Willkür und erheblicher Unbestimmtheit) begreifen mag, es käme heute in Frankreich kein vernünftiger Mensch darauf, die Katholiken als solche in eine dieser beiden politischen Gattungen einzuordnen. Die uneinheitliche, durchaus nicht frontale Haltung der Katholiken gegenüber (und in) einer Regierung, die man gewiß nicht in ein „katholisches Lager" eingliedern kann, bezeugt, daß die französischen Katholiken heute nicht für oder gegen die Republik, sondern i m Staate stehen.

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