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Hollands Sozialisten sind anders

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Bei der Vielfältigkeit der politischen Ereignisse und Entwicklungen nach dem zweiten Weltkrieg ist es begreiflich, daß ein wichtiger politischer Vorgang in den Niederlanden außerhalb des Landes nicht immer die verdiente Aufmerksamkeit gefunden hat. Wir meinen die kurz nach Kriegsende erfolgte Auflösung der traditionellen sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und die Gründung der neuen „Partei der Arbeit“ im Februar 1946. Drei Tatsachen bieten jetzt Anlaß, den Vorgang eingehender zu betrachten: die zehnjährige Existenz der neuen Partei, die Veröffentlichung einer Monographie über die neue politische Formation1 und der knappe Sieg der neuen Partei über die Katholische Volkspartei bei den niederländischen Parlamentswahlen vom 13. Juni d. J,

• Wer die geistige Situation der Niederlande kennt, weiß, daß auf diesem Boden eine doktrinär-marxistische Bewegung kaum Wurzel fassen kann. Einerseits spielt die (katholische und evangelische) Religion eine zu große Rolle, anderseits widersetzt sich der Empirismus der Niederländer — wir möchten fast sagen ihr beweglicher Kaufmannsgeist — allzu starren Parteiformulierungen. Die SDAP, 1894 gegründet, war . nie ekie orthodox-marxistische Partei, obwohl der Einfluß des deutschen Sozialismus anfänglich stark, viel stärker als zum Beispiel derjenige der englischen Laboür Party, war. Zweifellos spielte marxistisches Gedankengut eine große Rolle, vor allem der historische Materialismus und die Theorie des Klassenkampfes. Der Religion gegenüber herrschte in manchen Kreisen der alten sozialistischen Partei eine mehr oder weniger feindselige Stimmung, und für den nationalen Gedanken war wenig Begeisterung; auf die republikanische Staatsform hat man sich aber nie offiziell festgelegt. Daß der niederländische Sozialismus von Anfang an eine eigene geistige Prägung hatte, beweist seine Haltung in der Schulfrage. In den Niederlanden herrschte in den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts ein heftiger Kampf zwischen den Anhängern der Konfessionsschule und der Staatsschule. Die sozialistische Partei hat, schon lange vor ihrer grundlegenden Neugestaltung nach dem zweiten Weltkrieg, eine Lösung dieser Frage dahingehend angestrebt, daß beide Schultypen gleiche finanzielle Unterstützung aus der Staatskasse erhalten sollten. Schon 1920 wurde die Volksschulfrage in diesem Sinne gelöst, später folgten die anderen Stufen des Unterrichtes. Die freie (calvinistische) Universität von Amsterdam, die katholische Universität von Nym-wegen und die katholische Wirtschaftshochschule von Tilburg wurden nach 1945 als letzte den Staatsanstalten des höheren Unterrichtes in weitgehendem Maße finanziell gleichgestellt, wozu die sozialistische Fraktion in der zweiten Kammer geschlossen ihre Stimme abgab.

Der erste bedeutende Anstoß zu einer grundlegenden geistigen Neuorientierung und zur definitiven Preisgabe marxistischer Gedankengänge fand in den dreißiger Jahren statt. Vorher waren vereinzelte Versuche, hauptsächlich evangelischerseits, unternommen worden, eine Begegnung zwischen Sozialismus und Christentum zustande zu bringen. Die Theologie von Karl Barth und die werbende Persönlichkeit des damaligen Pastors und jetzigen Leidener Professors Dr. B a n n i n g führten zur Enti Dr. H. M Rultenbeek ,,Het ontstaan van de Partij van de Arbeid“. Amsterdam, N. V. De Arbeiters-pers, 1955. stehung einer religiös-sozialistischen Bewegung, die in protestantischen Kreisen einigen Anhang gewinnen konnte, katholische Kreise aber nicht berührte. Die Katholiken waren zum größten Teil in einer eigenen Partei, der katholischen Sfaatspartei, vereinigt, deren Gründung aus dem langjährigen und hartnäckigen Kampf der katholischen Bevölkerungsgruppe um einen gleichberechtigten Platz im niederländischen Staats- und Volksleben zu verstehen ist.

Nach 1933 änderte sich manches. Die damalige SDAP, inzwischen (nach der katholischen Partei) die zweitstärkste Partei des Landes geworden, aber noch immer in Opposition, wurde stark beeindruckt vom Zusammenbruch des deutschen Sozialismus, der damit seinen überragenden Einfluß auf den europäischen Sozia-Iismus verlor. In den Reihen der niederländischen Sozialisten wurde das Bedürfnis nach Besinnung immer lebhafter, auch mehrten sich die Stimmen, die auf eine Revision des sozialpolitischen Programmes drängten. Die Schriften des bekannten belgischen Sozialisten Hendrik de Man spielten in diesem Prozeß eine wichtige Rolle. 1937 wurde schließlich ein neues Programm formuliert, das jetzt endgültig den historischen Materialismus und Klassenkampf über Bord warf. An ihre Stelle trat der Gedanke der Zusammenarbeit der Produktionsfaktoren in einer planmäßig geführten Wirtschaft. Unverkennbar war das Bestreben, von einer Arbeiterpartei zur Volkspartei zu werden. Damit wurde auch der nationale Gedanke akzeptiert. Für die Bedeutung der Religion im persönlichen sowie im Gemeinschaftsleben war das Verständnis aber noch nicht groß.

Angesichts dieser Entwicklung ist es nicht zu wundern, daß im Jahre 1939 die Sozialisten zum erstenmal an der Regierung teilnahmen und während des ganzen Krieges in der in London amtierenden Exilregierung vertreten waren.

Ein wirklich geistiger LImbruch entstand jedoch erst während des letzten Weltkrieges.

Um diesen Prozeß richtig zu verstehen, ist es notwendig, nochmals auf die geistige und politische Struktur des Landes zurückzukommen. Es wurde bereits auf die Religiosität als Grundzug des niederländischen Volkscharakters hingewiesen; sehr viele in diesem Lande betrachten die Religion als die einzig gültige Grundlage für ihr Auftreten im öffentlichen Leben außerhalb der Kirche. Diese Situation spiegelt sich wider in dem System der politischen Parteien'. Die Katholiken und die Protestanten gründeten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre eigenen Parteien (die Protestanten sogar mehrere), wobei die gemeinsame religiöse Ueberzeu-gung die Mitglieder verband. Zweifellos war das eine berechtigte und notwendige Reaktion auf das Unverständnis, das Liberalismus und Frühsozialismus christlichen Standpunkten und Forderungen entgegengebracht hatte. Nachdem aber, vor allem zwischen den zwei Weltkriegen, diese Forderungen in Hauptzügen verwirklicht worden waren, trat eine gewisse Erstarrung ein, die um so spürbarer wurde, als die konfessionellen Parteien keine befriedigende Antwort auf die großen wirtschaftlichen und politischen Probleme der dreißiger lahre (Weltkrise, Arbeitslosigkeit, Unabhängigkeitsbewegung in den Kolonien) zu geben hatten. Ihre wirtschaftlichen Konzepte waren weitgehend von altliberalen Vorstellungen beeinflußt. Symbolisch für die Politik der christlichen Parteien in diesen Jahren war die Figur des bekannten rechtsprotestantischen Politikers, Wirtschaftsmagnaten und langjährigen Ministerpräsidenten, Dr. H. Colijn.

Eine grundlegende Aenderung konnte nur durch eine Schockwirkung herbeigeführt werden. Dafür hat der deutsche Einmarsch gesorgt. Nach dem 10. Mai 1040 wurde das freie politische Leben auf Befehl der Besatzungsmacht stillgelegt. Die führenden Kreise der traditionellen Parteien sowie der politikinteressierte Teil der Widerstandsbewegung bekamen Gelegenheit, sich geistig auf eine politische Neuorientierung vorzubereiten. Die vielen'Zeitungen der Widerstandsbewegung, geheime Diskussionsklubs, bis in die Geisellager und Gefängnisse Hitler-Deutschlands hinein und viele andere Kontakte riefen ein in Vorkriegsjahren unbekanntes politisches Interesse wach. Fieberhaft wurden Pläne für eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung, interkonfessionelle Kontakte und Parteibildung auf einer neuen Grundlage entworfen.

Bei all diesen Diskussionen beteiligten sich die Sozialisten intensiv, und es stellte sich bald heraus, daß es vielen von ihnen jetzt ernst damit war, zum christlichen Lager in ein positives Verhältnis zu kommen. Parallel dazu verlief die Wandlung des Sozialismus von einer bloßen Vertretung der Arbeiter zum Anliegen des ganzen Volkes. In verschiedenen katholischen und (orthodoxen sowie freisinnigen) evangelischen Gruppen entstand das Verlangen, angespornt durch den gemeinsamen Kampf gegen den Nationalsozialismus, die bisherige

Isolierung iu durchbrechen und sich mit politisch Gleichgesinnten in einer neuen Partei mit fortschrittlichem Programm zu vereinigen. In den katholischen Kreisen, aber nicht nur da, spielte die personalistische Philosophie, namentlich Frankreichs (Denis de Rougemont, Jacques Maritain, Emmannuel Mounier) eine bedeutsame Rolle. Der Ausdruck „personalistischer Sozialismus“ wurde geprägt. Zu gleicher Zeit entstanden die ersten Ansätze für die Bewegung der Einigung Europas auf föderalistischer Basis. Die unterschiedlichen Gruppen christlicher und sozialistischer Herkunft fanden einander im gemeinsamen Verlangen nach einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, die die Würde und Freiheit der Person respektieren würde. Eine sittliche und, institutionelle Er-ijeg des ganzen Volksleben, war das .Endziel, wobei es nach den Worten des bekannten, leider zu früh verstorbenen katholischen Gesell-sehaftsphilosophen P. Angelinus OMCap. weniger darauf ankam, von welcher geistigen oder religiösen Grundlage aus man diese Erneuerung zustande bringen wollte, wenn mau sich nur über das zu erreichende Endziel einig war. Statt Klassenkampf sollte Zusammenarbeit der Gesellschaftsschichten kommen; statt Kampf der Konfessionen eine positive Toleranz, ohne daß dafür hüben und drüben Grundsätzliches geopfert werden müßte.

Das Kriegsende brachte die Wiederherstellung der freien politischen Betätigung. Sofort zeigten sich da ernste Widerstände gegen die geplante weitgehende Erneuerung. Dennoch wurde unter Leitung des schon genannten Professors B a n n i n g ein Studienausschuß mit verschiedenen politischen Parteien und Gruppen gebildet, der die Möglichkeit der Bildung einer neuen Partei zu prüfen hatte. Nach monatelangen Verhandlungen wurde schließlich die Gründung der „P a r t e i der Arbeit“ beschlossen, worauf die SDAP zur Selbstauflösung schritt.

Sofort trat eine katholische Gruppe, zum größten Teil aus der Widerstandsbewegung hervorgegangen, der neuen Partei bei. Zahlenmäßig gewiß nicht stark (die große MehrheiJ der Katholiken blieb der nach dem Kriege ebenfalls neu gegründeten katholischen Volkspartei treu), besetzten diese Pioniere von Anfang ab wichtige Positionen in der Partei und wäret auch immer in der sozialistischen Fraktion im Parlament vertreten.

Die Partei der Arbeit stellt einen entschiedenen Versuch dar. den. Sozialismus aus den festgefahrenen Spuren des Marxismus und Antiklerismus in neue Bahnen zu führen. Dr. Rui-tenbeek ist der Meinung, daß die Partei dadurch eine einmalige Position innerhalb des europäischen Sozialismus einnimmt. Er glaubt auch, daß diese anderen Parteien erst dann aus der Sackgasse, worin sie sich jetzt befinden, herauskommen können, wenn sie das Grundkonzept der Partei der Arbeit übernehmen. Die Zusammenarbeit der drei geistigen Strömungen in der Partei - der katholischen, protestantischen und außerkirchlichen (oder humanistischen, wie man in den Niederlanden sagt) -hat sich bisher bewährt. Die Partei ist föderalistisch. Die drei erwählten Gruppen haben innerhalb der Partei eigene Arbeitsgemeinschaften gebildet, die das Programm und die politischen Aktionen der Partei auf ihre eigenen weltanschaulichen Prinzipien prüfen. Die drei Arbeitsgemeinschaften arbeiten mit der Partei und miteinander in guter Harmonie zusammen. Geistig sind sie autonom, politisch bilden sie einen integrierenden Bestandteil der Partei. Es versteht sich von selbst, daß die politische Linie nach außen von der Partei bestimmt wird; gegen sein Gewissen zu handeln, wird aber niemand verpflichtet.

Im Parteiprogramm ist ausdrücklich festgelegt, daß der Zusammenhang zwischen Religion und Politik anerkannt wird und daß die religiöse Ueberzeugung der Mitglieder Basis für ihre politische Aktivität bilden kann. Koos V o r-r i n ki nach der Gründung der Partei Iane Jahre ihr Vorsitzender und unlängst verstorben, hat einmal gesagt, daß er, obwohl selber nicht zu einer Kirche gehörend, die Religion als „Motor“ für die politische Aktivität der kirchlichen Mitglieder betrachtet.

Für die Katholiken, die dieser Partei beigetreten sind, waren nicht nur politische Motive maßgebend. Ebenso stark hat der Wunsch gewirkt, die politische und geistige Isolierung, die in den Vorkriegsjahren zu Sterilität geführt hat, zu durchbrechen und zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Nicht-katholiken zu kommen. Das war für die Niederlande ein absolutes Novum. Verständlich ist deshalb, daß viele Katholiken, obwohl sie die Gründe für diesen Schritt ihrer Glaubensgenossen vielfach respektieren, es doch vorziehen, im gewohnten Lager zu bleiben. Die Bischöfe betrachteten die Neuentwicklung mit Reserve. Schließlich haben sie in ihrem, auch im Ausland bekanntgewordenen Hirtenbrief im Jahre 1954 ihren dringenden Wunsch ausgesprochen, daß die Katholiken die Partei der Arbeit verlassen sollen, dabei aber dem Gewissen der einzelnen die letzte Entscheidung überlassen. Seitens der katholischen Sozialisten wird anerkannt, daß es ernste pastorale Besorgnisse waren, die das Episkopat zu dieser Mahnung veranlaßt haben. Dennoch glaubten sie nach ernster Beratung, ihre Aufgabe in der Partei weiter erfüllen zu müssen.

Die Partei der Arbeit ist ein neues Element im niederländischen, ja im europäischen politischen Leben. Noch immer ist die Zusammenarbeit der verschiedenen religiösen und heterogenen Gruppen heiß umstritten, gerade auch wiederum im vergangenen Wahlkampf. Die Gründung der Partei war zweifelsohne ein Experiment, mehr vielleicht, ein Wagnis. Erst die Zukunft kann klären, wie weit der Versuch sich bewähren und allenfalls auch in anderen Landern Fuß fassen wird.

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