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Der Schlüssel liegt bei Nenni

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Mit dem Erlös des Stalin-Friedenspreises hat sich Pietro Nenni eine Villa in Formia gekauft, auf halbem Wege zwischen Rom und Neapel. Im Gegensatz zu Togliatti, der für sein „buen retiro“ das robuste Gebirgsklima von Courmayeur wählte, zog Nenni die weichere Luft des Südens vor, wo das Meer so freundlich glänzt und die Atmosphäre mit Gesang und Mandolinenklang erfüllt zu sein scheint. Hier also verlebt Nenni seine Ferientage, unterbrochen von gelegentlichen Besuchen auf der Jacht oder in der prächtigen Villa des Verlegers und Milliardärs Angelo Rizzoli, mit dem ihn nicht nur eine alte Jugendfreundschaft, sondern auch die gemeinsame Leidenschaft für das Tarockspiel verbindet. Bei solchen Gelegenheiten kann es zu hitzigen Diskussionen kommen, nicht etwa über die „sozialistische Alternative“, sondern über den Pagat ultimo. Nur bei solchen Anlässen wird man das breite romagnolische Gesicht des italienischen Sozialistenführers zorngerötet sehen können, ein offenes, joviales Gesicht, das bei jedem Sympathien erweckt, auch bei Giuseppe Saragat, auch bei De Gasperi.

Kann ein Mann mit so bürgerlichen Neigungen Revolutionär und Freund des Kremls sein, in dem Maße, daß sein Bild auf den sowjetischen Briefmarken erscheint? Das ganze wirre Problem des italienischen Sozialismus hängt von der Beantwortung dieser Frage ab. Und nicht nur der Sozialismus allein, die italienische Innenpolitik überhaupt ist seit Jahren von der Bindung Nennis an den Kommunismus hypothekarisch belastet. Seit am 26. Oktober 1946 der bekannte Pakt gemeinsamen Handelns mit den Kommunisten auf dem Kongreß von Florenz beschlossen wurde, sind Nennis Sozialisten die einzigen in der westlichen Welt, die den Direktiven Moskaus vorbehaltlos folgen. Das Bündnis, an dessen Zustandekommen Saragat seinen Anteil hat, bewirkte schon ein Jahr später die Aufspaltung der Partei, die Sezession Saragats und seiner Anhänger auf dem Kongreß im Palazzo Barberini in Rom. Die häufigen Meinungsänderungen Saragats sind beinahe sprichwörtlich geworden; aber es ist nur seine innere Aufrichtigkeit, die ihm nicht gestattet, auf einmal erkannten Fehlern zu beharren und eine zweideutige Rolle weiterzuspielen.

Für den gemeinsamen Aktionspakt gab es in der Vergangenheit freilich Beispiele. Einer wurde am 13. August 1934 geschlossen, während des faschistischen Regimes, als es angeraten schien, den geheimen Kampf gemeinsam zu führen Dann am 13. Oktober 1943, als der geheime Kampf ein offener wurde. Aber dem Pakt von 1946 fehlte die geschichtliche Berechtigung. Seine Ziele sollten die Ausmerzung faschistischer Ueberreste sein — was wenig Vertrauen in die junge Demokratie zeigt — und der sozialen Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen — was, wie sich seither oft und oft gezeigt hat, durch den kommunistischen Druck eher verhindert wird. Der Pakt war nicht einmal durch taktische Erwägungen bedingt: im Jahre 1946 spielten die Sozialisten gegenüber der kommunistischen Partei keineswegs die Rolle der armen Verwandten. Bei den Wahlen jenes Jahres hatten sie mehr Stimmen erreicht als Togliatti, nämlich 4,758.000 20,7 Prozent gegenüber den 4,356.000 19 Prozent kommunistischen Wählern. Die Substanz des Sozialismus war noch unangetastet, als sich Saragat loslöste; die assimilierende Fähigkeit der Kommunistenpartei begann erst wirksam zu werden, als unter dem Einfluß des Paktes gerade die aufrichtigen Marxisten veranlaßt wurden, sich entweder zum demokratischen Sozialismus oder zum Leninismus-Stalinismus zu bekennen. Bei den Wahlen des Jahres 1948 flössen linkssozialistische und kommunistische Stimmen einem gemeinsamen „Volksblock“ zu und ließen sich nicht unterscheiden. Aber 1953, als das neue Wahlgesetz diese Art von Blockbildung nicht mehr gestattete, konnte man erkennen, daß die sozialdemokratischen und linkssozialistischen Stimmen zusammen nur noch 17,2 Prozent ausmachten, während die kommunistischen Wähler bereits’ auf 6,120.000 22,6 Prozent angewachsen waren.

Die Identität der Meinungen und Handlungen zwischen den Parteien Nennis und Togliattis hat dem romagnolischen Politiker Vor würfe nach zwei Richtungen eingetragen: auf der einen Seite forderte man ihn auf, die letzten Konsequenzen aus seiner Haltung zu ziehen und zu einer endgültigen Fusion mit den Kommunisten zu schreiten; auf der anderen gab es eine ununterbrochene Reihe von Versuchen, die Nennianer von den Kommunisten loszueisen. Nenni selbst hat zugegeben, daß zwischen seinen Sozialisten und den Kommunisten nur noch „historische“ Unterschiede bestünden. Auf parlamentarischem Boden hat sich der Kampf der beiden Parteien immer auf gleichen Geleisen bewegt, Verschiedenheit der Auffassungen war nur sehr selten und nur in ganz untergeordneten Belangen festzustellen. Nach Angaben der Sozialdemokraten wird der gesamte Apparat der P. S. I. heute von den Kommunisten kontrolliert, sowohl was die finanzielle wie die organisatorische Struktur anlangt. „In dem Augenblick, da einzelne Parteiexponenten versuchen sollten, sich der Unterordnung zu entziehen, würden sie von der Maschine des Apparats unbarmherzig zermalmt werden.“

Ist es aber wirklich so, daß die Mitglieder der P. S. I. durch die Magie des Wortes „Sozialismus“ festgehalten werden sollen, während die richtigere Bezeichnung bereits Kommunismus wäre? Eine solche pessimistische Auffassung wird nicht allgemein geteilt, am wenigsten vielleicht durch Togliatti selbst, der niemals der sozialistischen „Basis“ sicher genug war, um den entscheidenden Schritt zu wagen. Vielmehr hat er bei mehr als einer Gelegenheit seine Zweifel darüber erkennen lassen. Wenn die Lockrufe De Gas- peris oder Saragats gar zu verführerisch klangen und es Schien, als wollte sich ein Zwiegespräch zwischen Nenni und den demokratischen Politikern anbahnen, versäumte Togliatti niemals hervorzuprellen und das beginnende Idyll zu stören. Wenn Nenni im „Avanti!“ andeutete, er sei um den Preis der Beteiligung an der Regierung zu gewissen Zugeständnissen bereit, schrieb Togliatti sofort in der „Unitä“: „Wenn Nenni nach rechts rückt, setze ich mit einem Sprung über ihn hinweg und stelle mich noch weiter rechts.“ Und das ist keine leere Rede. Die Anpassungsfähigkeit des kommunistischen Leaders ist tatsächlich erstaunlich; während der Konstituante trat er für die Unauflöslichkeit der Ehe und für die Aufnahme der Lateranverträge in die Verfassung ein. Was immer Nenni zu geben bereit wäre, Togliatti würde noch mehr gewähren, um der Loslösung der Sozialisten die politische Rechtfertigung zu entziehen und in die Regierung zurückzukehren, aus der ihn De Gasperi 1947 so unsanft entfernt hatte.

Wenn Saragats Sozialdemokratie oft als „die Partei der enttäuschten Hoffnungen“ bezeichnet wird, so kann dem nicht widersprochen werden. Der Versuch, in Italien einen lebenskräftigen Labourismus zu schaffen, muß vor die von Nenni hartnäckig propagierte „sozialistische Alternative“, die im Grunde nichts anderes ist als ein Versuch, in Italien zu einer Volksfrontregierung zu gelangen, wird von Togliatti durchaus so verstanden, daß die Kommunisten im Tandem mit den Sozialisten in die Regierung eintreten müßten. Davon haben sich sowohl der Kammerpräsident Gronchi als auch die Sara- gatianer überzeugen müssen. Die Kündigung des „patto d’unitä d’azione“ ist in dem von Nenni gestellten Preis nicht inbegriffen. Wenn der christliche Demokrat Gronchi auch bereit gewesen wäre, davon abzusehen, „um Nenni auf die Probe zu stellen“, so waren es nicht die Saragat-Sozialisten, die ihre feindlichen Brüder genauer kennen. Sie wissen besser als Gronchi, welche Bedeutung der Apparat in marxistischen Parteien hat. Der P. S. I. verfügt heute über rund 800 bezahlte, hauptamtliche Funktionäre, über zahlreiche Presseorgane und wichtige Posten im Gewerkschaftsleben. „Die Vorstellung, daß man diese Leute veranlassen könnte, auf ihr Gehalt zu verzichten, nur um dem Kammerpräsidenten einen Gefallen zu tun, ist nichts weiter als eine großherzige, aber unberechtigte Illusion“, schreibt die sozialdemokratische Agentur „Italia“.

Der Weg, um die von Nenni irregeleiteten Arbeitermassen zurückzugewinnen, führt nicht von der Spitze aus, sondern kann nur von der Basis ausgehen. Die Sozialdemokraten, die selbst nach der Wahlniederlage vom 6. Juni 1953 den Versuch unternommen haben, Nennis Alternative ernst zu nehmen und noch während der Regierungskrise im Jänner Gronchi als neuen Regierungschef vorg’eschlagen haben, sind jetzt, durch die erlittenen Enttäuschungen verbittert, die eifrigsten Widersacher der Bestrebungen Gronchis. Ihrer Meinung nach hat der Kammerpräsident eine nur ungenügende Kenntnis der kapillaren Organisation der Kommunisten. Diese würden es sein, welche die Staatsverwaltung in allen ihren Zweigen kontrollieren würden, und nicht etwa die Demokraten, die

Nenni und Tpgliatti unter Kontrolle halten könnten.

Die Sozialdemokratie ist die Partei enttäuschter Hoffnungen geworden. Die Gründe sind vielfacher Natur. Keineswegs ist die hamletsche Natur Saragats, sein häufiges Schwanken und Zweifeln allein schuld. Die italienischen Sozialdemokraten machten eher den Eindruck von Kritikern, denn von Reformatoren. Die alte Tradition des italienischen Sozialismus wird freilich von ihnen eifersüchtiger gehütet als von den Nen- nianern. Die Epigonen Filippo Turatis, Männer mit langen, eisgrauen Vollbärten, wie D’Aragona und Mondolfo, die greise Angelika Balabanoff, stehen in ihren Reihen. Aber ihre Reminiszenzen der kämpferischen Zeiten des demokratischen Sozialismus mögen die jüngeren Arbeiter noch einen Augenblick lang in Rührung bringen, aber nicht die Erinnerung daran auslöschen, daß ihr Sozialismus bereits einmal Schiffbruch erlitten hat und die Tore zur Diktatur nicht zu verrammeln vermochte. Vor allem aber ist die soziale Struktur Italiens selbst ein karger Boden für den Labourismus, mit den Höhen und Tiefen, wie sie kaum ein anderes demokratisches Land kennt, mit dem Fehlen eines politisch tragfähigen Mittelstandes. Nur mit langjähriger Reformarbeit und andauernden Opfern, die vielleicht nicht einmal von Italien allein, sondern von einer größeren politischen Gemeinschaft getragen werden müßten, könnte der Extremismus in seiner offenen wie sozialistisch maskierten Form zur Demokratie zurückgeführt werden.

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