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Wahlsdiladit um England

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Der Parteienkampf um die Neubesetzung des Parlaments von Westminster, der am 8. Oktober zur Entscheidung kommt, sollte nach Absicht Harold Macmillans unter der Devise „Entspannung zwischen West und Ost“ ausgetragen werden. Das war schon im Februar dieses Jahres klar, als der britische Premier seine aufsehenerregende Reise nach Rußland unternahm, offensichtlich von der Ueberzeugung getragen, daß nichts so geeignet sein würde, einen neuerlichen konservativen Wahlsieg zu sichern, wie eine fühlbare Besserung der kritisch gewordenen Beziehungen des Westens zu Moskau, und damit der Chancen für die Erhaltung des Friedens, die der Masse der Wähler als ein Erfolg der konservativen Staatsführung und seiner persönlichen Initiative präsentiert werden könnte. Auf eine solche Leistung im Dienste des Friedens, die seiner Politik gutzuschreiben wäre, glaubte Macmillan bereits im Frühsommer, während und nach Abschluß der Genfer Außenministertagung, trotz deren Ergebnislosigkeit, hinweisen zu dürfen, und mehr noch dann, verständlicherweise, als der Austausch von „Gipfelbesuchen" zwischen Washington und Moskau vereinbart worden war und das Zustandekommen der seit langem von Moskau und London sozusagen Hand in Hand verlangten und von der britischen Oeffentlichkeit vielfach als unerläßlich betrachteten „Gipfelkonferenz" nahegerückt schien. Folgerichtig setzte er den Wahltermin für einen Zeitpunkt an, zu dem das von ihm so eifrig propagierte West-Ost-Gespräch mit der Amerikareise Chruschtschows auf höchster Ebene in Gang gekommen war, und anderseits, wenn diese erste Kontaktnahme vielleicht auch enttäuschend ausfiel, noch kein Beweis erbracht sein konnte, daß der von seiner Regierung inaugurierte Weg der Verständigung nicht schließlich doch zum Ziele führen würde.

Demgegenüber hätte die Labour-Opposition kein leichtes Spiel. Von ihrem Versuch, die Konservative Partei durch Hinweise auf die unglückselige Politik des Kabinetts Eden in der Suezkanalkrise von 1956 zu diskreditieren, konnte sie sich ebensowenig versprechen wie von der Zugkraft der etwas kindischen Behauptung Gaitskells, auf der kommenden „Gipfelkonferenz“ müsse Großbritannien durch Sozialisten vertreten sein, denn sie seien die ersten gewesen, die an ein solches Treffen gedacht und sich dafür eingesetzt hätten. Schon gar nichts war mit dem Schlagwort „Mit der Linken spricht am besten die Linke" anzufangen; dafür war die Erinnerung an die harten Auseinandersetzungen mit Molotow, die der seinerzeitige Außenminister der Regierung Attlee, Ernest Bevin, durchzustehen hatte, und die Brüskierung prominenter Labour-Führer durch Chruschtschow, bei dessen Londoner Besuch vor drei Jahren, noch in zu allgemeiner Erinnerung. So konnten auch die beiden Spitzenfunktionäre im sozialistischen „Schattenkabinett", Hugh Gaitskell, der präsumtive Regierungschef, und Aneurin Bevan, sein präsumtiver Außenminister, keine großen Hoffnungen, in wahltaktischer Hinsicht, an die Rußlandreise knüpfen, die sie, neun Monate nach Macmillans Moskaufahrt, unternahmen; sehr verspätet also und zu dem für propagandistische Zwecke ungünstigen Augenblick, wo sich das allgemeine Interesse auf die Europatournee Eisenhowers und die bevorstehende Visite des sowjetischen Ministerpräsidenten in den USA konzentrierte. Erst nach ihrer Rückkehr, genauer gesagt, nachdem sie sich vor der Fernsehkamera über ihre Moskauer Eindrücke unterhalten hatten, wurde der Erfolg ihrer Reise, und zwar ein für die Lahour-Strategen höchst befriedigender und wertvoller Erfolg, offenbar. Wer Aneurin Bevan bloß als Enfant terrible der -Labour-Partei gekannt hatte, als einen überlauten, linksradikalen, mit den Kommunisten vielleicht stillschweigend verbündeten Demagogen, und ihn nun vor dem Fernsehschirm beobachten konnte, wie er mit klarem, scharfem Verstand und staatsmännischer Klugheit, ruhig und dabei mit bestechender Vitalität, die west-östlichen Beziehungen und die unverändert auf Weltherrschaft ausgerichteten Pläne der UdSSR analysierte und die Notwendigkeit unterstrich, bei aller Verständigungsbereitschaft auf der Hut zu bleiben und sich von den sowjetischen Friedensschalmeien nicht einschläfern zu lassen, der mußte auch als überzeugter Konservativer und Gegner der Sozialisten auf den Gedanken kommen, daß dem Land Schlimmeres widerfahren könnte als die Uebernahme des Foreign Office durch den ehemaligen wallisischen Bergarbeiter, dessen heutige intellektuelle und charakterliche Statur, mehr als die eines jeden anderen aktiven britischen Politikers, einen Vergleich mit Winston Churchill nahelegt. Damit war eine der konservativen Trumpfkarten, die weitverbreitete Furcht vor dem Schreckgespenst des „wilden“ Aneurin Bevan im Außenministerium, so gut wie wertlos geworden und das Schwergewicht der Wahlpropaganda von den auswärtigen Beziehungen auf die Innenpolitik verlagert.

Auf diesem Gebiet haben die Konservativen Leistungen aufzuweisen, die jeder objektiven Kritik standzuhalten vermögen. Die Währung, die 1951, als die Labour-Regierung angesichts des drohenden Staatsbankrotts die Zügel aus der Hand geben mußte, am Zusammenbrechen war, zählt heute wieder zu den solidesten und bestfundierten; die Preise sind, ungeachtet der steigenden Welttendenz, seit vielen Monaten stabilisiert; die schweren Schäden, die die Eisen- und Stahlindustrie als Folge der sozialistischen Verstaatlichungsmanie erlitten hatte, sind nach Wiederherstellung privater Eigentumsrechte durch harte Arbeit und planmäßige Förderung persönlichen Unternehmungsgeistes behoben worden, und seither ist in der Produktionskapazität dieser Grundindustrie ein rapides Wachstum zu verzeichnen; in den acht Jahren konservativer Regierung wurden, trotz steigender Staatsausgaben, sieben Steuerermäßigungen durchgeführt; die effektive Kaufkraft der Löhne liegt heute um rund 20 Prozent höher als unter dem Labour-Regime, und in ähnlichem Verhältnis wurden die Altersrenten erhöht. Im Vergleich mit dem eindrucksvollen Bild dieser und einer Reihe anderer unleugbarer Errungenschaften, zum Beispiel im Bereich des Wohnungsbaues, wirkt das sozialistische Wahlprogramm unklar und höchstens für den Teil der Wählerschaft verlockend, der sich über volkswirtschaftliche Zusammenhänge keinerlei Gedanken macht. Es verspricht eine fühlbare Aufbesserung der Renten und erhöhte Aufwendungen für den Nationalen Gesundheitsdienst — die Last, die dem Staatshaushalt unter dem Titel Gesundheitsdienst erwächst, beträgt im heurigen Budgetjahr trotz einiger Einsparungen nicht weniger als 557 Millionen Pfund — sowie für das Unterrichtswesen und nicht näher definiertes „Sonstiges". Wie diese zusätzlichen Ausgaben, ohne Steuererhöhungen und ohne das jetzt sorgsam ausgeglichene Budget aus den Fugen zu bringen, bedeckt werden sollen, darüber wird mit der den Sozialisten eigenen Unbekümmertheit hinweggegangen. Die neuerliche Verstaatlichung der Eisen- und Stahlindustrie und des Straßentransportwesens sowie die Ueberführung in den Staatsbesitz auch jeder anderen Industrie, die, wie das Programm sich sehr undeutlich ausdrückt, „dem nationalen Interesse nicht gerecht wird“, soll, im Verein mit anderen gesetzlichen Maßnahmen, die Wirtschaft beleben und auf diese Weise dem Schatzamt erhöhte Einnahmen verschaffen. Es ist der Propaganda der Konservativen nicht schwergefallen, überzeugend darzulegen, daß die Durchführung der sozialistischen Verheißungen nichts anderes bedeuten würde als eine neue Flut von Kontrollen und produktionshemmenden Eingriffen des Staates, eine weitreichende Beunruhigung und Behinderung des gesamten Wirtschaftslebens und die Oeffnung der Schleusen der Inflation.

Trotz alledem ist das Resultat des bevorstehenden Wahlganges eine Frage, die erst in den frühen Morgenstunden des 9. Oktober endgültig entschieden sein wird. Auf Grund langer Erfahrung weiß man, daß unter allen Umständen etwa 40 Prozent der Wählerschaft für Labour stimmen und 35 Prozent für die Konservativen; das sind die Kerntruppen, die in Anlehnung an das alte Wort „Right or wrong — my country" durch kein Argument und keine Tatsachen in ihrer parteipolitischen Treue zu erschüttern sind. „Ob Recht oder Unrecht — Iheine Partei", an diesem Prinzip halten sie bedingungslos fest. Das Zünglein an der Waage wird von den restlichen 25 Prozent gebildet, von der Masse der „Fluktuierenden", parteipolitisch Ungebundenen, deren Haltung von momentanen Launen und Stimmungen beeinflußt wird, weit mehr als von vernünftigen Erwägungen; sie kann noch im letzten Augenblick umschlagen und ist daher nicht im voraus zu berechnen. Wie unerwartet es zu einem „Bergrutsch“ kommen kann, haben die Wahlen von 1945 gezeigt, die das lorbeergekrönte Kabinett Churchill zu Fall brachten. Was jetzt die Chancen der Konservativen beeinträchtigen könnte, ist der Umstand, daß es in Großbritannien seit 90 Jahren noch keiner Partei gelungen ist, über zwei aufeinanderfolgende Legislaturperioden hinaus an der Macht zu bleiben; diese Erinnerung könnte manchen Wähler zu dem Schluß veranlassen, daß es fair und an der Zeit wäre, nun einmal wieder der Opposition Gelegenheit zu geben, sich als Regierungspartei zu bewähren. Die Entscheidung wird jedenfalls in den sogenannten Randwahlkreisen, etwa 50ran der Zahl, fallen, das heißt dort, wo bei den letzten Wahlen der siegreiche Kandidat nur einen knappen Vorsprpng vor seinem gefährlichsten Konkurrenten erzielt hat. Trotz ihrer hoffnungslosen Schwäche hat es sich die Liberale Partei — sie war im letzten wie im vorletzten Parlament bloß mit sechs Abgeordneten vertreten — nicht nehmen lassen, in rund hundert Wahlkreisen zu kandidieren; was ihre Aussichten zwar nicht verbessern dürfte, aber da und dort durch Zersplitterung der Stimmen eine Entscheidung zugunsten Labours herbeiführen kann.

Ob nun die Konservativen aus der bevorstehenden Wahlschlacht als Sieger hervorgehen werden oder Labour, ein grundsätzlicher Wandel in der Einstellung Großbritanniens zu den bedeutungsvollen weltpolitischen Fragen ist nicht zu befürchten. Was freilich nicht besagen will, daß es für die übrige Welt gleichgültig wäre, falls das Vereinigte Königreich neuerdings zu einem Versuchsfeld sozialistischer Experimente würde.

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