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Der Kampf der beiden Harolds

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Die sozialistische Unterhausfraktion hat bekanntlich Harold Wilson zum Nachfolger Hugh Gaitskells gewählt. In einer Beziehung wurde damit die Linie beibehalten, da de% verstorbenen Parteiführer mit Wilson wieder ein früherer Hochschullehrer für Nationalökonomie folgt. Dies dürfte allerdings die einzige Parallele zwischen den beiden Männern sein. Gaitskell, der grundehrliche Politiker, um eine Neuorientierung der Labour Party bemüht, gab sich nicht mit einem taktisch richtigen Verhalten in der Tagespolitik zufrieden, sondern kämpfte mit Vehemenz für eine programmatische Entschlackung der britischen Arbeiterpartei. Gaitskell wollte die Labour Party an die Verhältnisse der Gegenwart sowie an künftige Aufgaben anpassen, woran ihn jedoch ein großer Teil der Partei mit Erfolg hinderte. Wilson nimmt zu programmatischen Problemen, so wird ihm nachgesagt, mehr zynisch Stellung. Er dürfte sich, trotz Lippenbekenntnissen zum Programm, in seinen praktischen Maßnahmen nicht viel darum kümmern. Man erinnert sich an die Zeit, in der er Handelsminister war und gegen Widerstand in den eigenen Reihen eine Reihe von Kontrollen beseitigte, die eine erfolgreiche Wirtschaftstätigkeit der Unternehmen hemmten.

Dennoch sieht man in vielen Kreisen der kommenden Unterhauswahl mit einem Gefühl des Unbehagens entgegen. In den innenpolitischen Kommentaren ist dieses Unbehagen zwar verschieden umschrieben, es läßt sich jedoch ein gemeinsamer Unterton entdecken; für die Wahl hätte man sich Parteien gewünscht, die der Nation für Downing Street 10 Kandidaten vom Schlag eines Kennedy präsentiert haben würden, von denen der eine ruhig mehr links als der andere sein könnte. Anstatt dessen wird England zwischen den Konservativen, mit einem zum Zeitpunkt der Wahl fast 74jährigen, müden und enttäuschten MacMillan an der Spitze, und einer Labour Party unter der Führung des nunmehr 46jährigen Wilson zu wählen haben. Die wiederholte „stop-and-go“-Wirtschaftspolitik der Tories unter MacMillan, die zu der langen Stagnation führte, hat dem Prestige der Konservativen viel geschadet. Die Mehrzahl der Briten hätte zwar vielleicht noch Vertrauen in die Tories unter einem anderen, jüngeren und zielbewußteren Führer (man nennt Lord Hailsham und Macleod, aber auch Maudling und Heater), hingegen kaum mehr unter MacMillan. Harold Wilson ist noch unerprobt — das war Kennedy auch — und hat sich in den innerparteilichen Auseinandersetzungen mehrmals als unentschieden, zaudernd erwiesen — das war Kennedy niemals. Zudem fürchtet man, daß sich Wilson nicht rasch genug von den ihm jetzt vielleicht unerwünschten Banden zur Parteilinken lösen kann.

Das Abtasten der Parteien beginnt

Noch ist es zu früh, um über den Kurs der britischen Arbeiterpartei unter Wilson zu einem.Urteil kommen zu können. So manche Stelle in den Reden Wilsons in den letzten zwei Wochen deutet auf einen radikaleren Kurs hin. Die Anzeichen mehren sich, daß die Labour Party wieder in eine Klassenpartei zurückzufallen droht. Nicht zuletzt die Äußerungen in den Einleitungsgefechten zur bevorstehenden Wahl scheinen dies zu bestätigen.

Diese Vorgeplänkel leitetenidie Veröffentlichung eines Pamphlets der konservativen Partei über Verstaatlichungspläne einer etwaigen sozialistischen Regierung sowie mehrere Reden des Oppositionsführers Wilson und des Schatzkanzlers des Schattenkabinettes, Callaghan, ein. Obgleich die überwiegende Mehrzahl der innenpolitischen Kommentatoren erwartet, daß die Briten frühestens im Herbst 1963 das neue Unterhaus wählen, hat schon jetzt das „Abtasten“ der Regierungspartei und der Opposition begonnen, um ein Wort der Boxersprache zu verwenden. In dem erwähnten Pamphlet bezichtigen die Tories die Sozialisten eines Linksrucks nach dem Tode Gaitskells; das Land würde unter einer gewählten Labourregierung Verstaatlichungen im großen Maßstabe entgegensehen. Das konservative Parteisekretariat sagt dies auf Grund von Äußerungen prominenter Labourpolitiker sowie auf Grund der programmatischen Schrift der Labour Party „Signpost for the Sixties“ (Wegweiser für die sechziger Jahre) voraus. Mindestens vierzig

Großunternehmen aus verschiedenen Industriezweigen müßten mit einer Sozialisierung durch eine sozialistische Regierung rechnen; vierundsechzrg weitere Unternehmen, darunter auch pharmazeutische Betriebe, Maschinenfabriken, Autowerke und so weiter, wären in ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit bedroht. Auf alle Fälle würde eine Regierung unter Harold Wilson die Stahlindustrie sowie den kommerziellen Straßentransport neuerlich verstaatlichen. Nach einem Aussprach von Martin Redmayne, dem Chefeinpeitscher der Regierung im Unterhaus, befinde sich die Labour Party auf dem Wege nach links und habe Mr. Gaitskells geduldigen Versuch, das Ansehen der Partei in den Augen der Wähler zu heben, gründlich zunichte gemacht.

Mit allen sechs Zylindern fahren ...

Ein weiterer Angelpunkt in der Wahlstrategie der Konservativen ist die Absicht der Labour Party, nach einem möglichen Wahlsieg eine jährliche Vermögenssteuer für alle Vermögen über 20.000 Pfund Sterling einzuführen. Diese Maßnahme war ebenfalls schon in der erwähnten Studie „Signposts for the Sixties“ im Jahre 1961 ausgearbeitet worden, zu einer Zeit, als noch Hugh Gaitskell die Labours geleitet hat. In sozialistischen Kreisen weist man darauf hin, daß Vermögenssteuern in einer Reihe von Ländern erhoben werden, darunter in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und in den skandinavischen Staaten.

Harold Wilson, der schon immer als ausgezeichneter politischer Taktiker und brillanter Redner galt, sprach vor etwa zwei Wochen das erste Mal in seiner neuen Eigenschaft als Oppositionsführer über den Rundfunk zu seinen Landsleuten. Dabei versprach er, eine Labourregierung brächte Großbritannien wieder dazu, „mit allen sechs Zylindern zu fahren, anstatt mit zwei oder drei dahinzustottern“. Eine Wiederverstaatlichung der Stahlindustrie würde dazu dienen, der britischen Volkswirtschaft wertvolles Kapital zu sparen, und dieser Industrie helfen, sich auf Produktionsaufgaben konzentrieren zu können. Weiter würde eine Labourregierung auch nicht davor zurückschrecken, neue staatliche Unternehmen ins Leben zu rufen und durch sie Industriebetriebe in den sozialen Notstandsgebieten errichten zu lassen. Die „beschränkenden Praktiken beider Sozialpartner“ müßten aufhören, vor allem aber die wilden Streiks, welche die Planung eines stetigen Wirtschaftswachstums unmöglich machen. Eine radikale Verjüngung der Führungskräfte der britischen Wirtschaft sei nötig, damit die produktiven Kräfte des Landes besser als bisher genützt werden. In der Industrie ist „noch viel zuviel totes Holz ... nicht zuletzt auf der Vorstandsebene“; zu viele Direktoren säßen in den Unternehmen auf Grund familiärer Beziehungen und „nicht etwa wegen ihrer Fähigkeit zu produzieren oder zu verkaufen“. Die Sozialisten treten für eine Vereinfachung des Steuersystems ein; die beweglichen, vitalen und dynamischen Unternehmen würden unter einem sozialistischen Steuersystem belohnt, die trägen und engstirnigen dagegen bestraft werden. Diesen Zweck würde eine sozialistische Regierung erreichen, indem sie unter anderem den Export durch großzügige steuerliche Prämien ankurbelte. Schließlich würde man auch danach trachten, das soziale Gleichgewicht wiederherzustellen, das jetzt gestört sei, weil in der Öffentlichkeit jene, die ihr Geld „machen“, höher eingeschätzt werden als solche, die ihr Geld „verdienen“. -

Der in die Parteiexekutive kooptierte sozialistische Sprecher über wirt-schaftspolitischie Fragen, James Callaghan, sprach ungefähr zur gleichen Zeit. Der Inhalt seiner Rede legt die Vermutung nahe, daß die eben aufgezählten wirtschaftspolitischen Pläne einer möglichen Labourregierung eine Herzenssache der Oppositionspartei seien und nicht, wie manche Tories glauben, auf einer Initiative Harold Wilsons beruhen. Denn auch Callaghan kündigte an, die Sozialisten würden die Stahlindustrie und den gesamten Straßentransport abermals verstaatlichen und die Steuerlasten (Vermögenssteuer) „gerechter“ aufteilen.

Wirtschaftspolitik im Mittelpunkt

Die Forderung nach Wiederverstaatlichung bedeutender Sektoren der Wirtschaft ist für die innenpolitischs Auseinandersetzung in England durchaus nichts Neues. Neu hingegen ist der Grund, den einzelne sozialistische Politiker für eine solche Maßnahme angeben. Noch bis zur Wahlniederlage der Sozialisten im Herbst 1959 und bis zur Parteikonferenz von Scarborough ein Jahr später stand im Vordergrund der Wille, in Großbritannien eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen. In den jetzigen Vorgefechten fordert man zwar das gleiche, nämlich ziemlich umfangreiche Verstaatlichungen, begründet es aber mit der Notwendigkeit, Großbritannien endlich aus der wirtschaftlichen Stagnation herauszuführen; dieses von allen Engländern herbeigewünschte Ergebnis politischen Handelns ließe sich jedoch nur auf dem Wege umfangreicher Verstaatlichungen erzielen.

Alles deutet darauf hin, daß in dem bevorstehenden Wahlkampf die Wirtschaftspolitik im Mittelpunkt stehen und alle anderen Fragen, einschließlich jener der Außenpolitik, überschatten wird. Während die Konservativen sich verzweifelt anstrengen, aus dem nationalen Wirtschafts- und Entwicklungsrat ein brauchbares Instrument zu machen, um den Vorwurf der Öffentlichkeit, die wirtschaftlichen Probleme ideenlos und energielos behandelt zu haben, rechtzeitig genug zu entkräften, glauben die Sozialisten, daß die durch den kalten Winter verstärkte Arbeitslosigkeit eine Lage geschaffen hat, in welcher der durchschnittliche Wähler Nationalisierungen auch größeren Maßstabes hinzunehmen gewillt ist.

Verarmt der Landadel?

Tatsächlich scheint es jedoch in dieser Auseinandersetzung um mehr zu gehen. Die große Aufregung, die in konservativen Kreisen um sich gegriffen hat, als Wilson und Callaghan von einer möglichen Vermögenssteuer sprachen, und die noch nicht abgeklungen ist, unterstützt diese Annahme. Einer großen Anzahl der konservativen Politiker geht es in der kommenden Wahl um die Erhaltung der jetzigen Gesellschaftsordnung. Obwohl eine Vermögenssteuer diese Ordnung noch nicht gefährden würde, wie es das Beispiel Westdeutschlands beweist, fürchten einige Tories, daß es dadurch für den Landadel immer schwerer wird, den Lebensstil der „uppermiddle-class“ zu pflegen.

Ein böses Omen?

Auf der anderen Seite hat die Labour Party nicht wirklich ihr altes Ziel aufgegeben: nach wie vor wollen sie in Großbritannien eine sozialistische Gesellschaft aufbauen. Vermögenssteuer und Verstaatlichunigen sind ihnen dazu nur ein Weg. Wenngleich die prominenten Sozialisten in ihren Reden jetzt leugnen, sie bezweckten mit ihren politischen Maßnahmen noch immer das alte Ziel, schlüpfen ihre wahren Absichten unbemerkt ab und zu an die Oberfläche. Angestachelt durch eine Frage des Linkssozialisten Sir Gerald Nabarro im Unterhaus, verteidigte

Harold Wilson Artikel 4 des Parteistatuts der Labour Party, der eine allgemeine Sozialisierung mit dem Ziel einer echten sozialistischen Gesellschaft in England vorsieht. So kann man vielleicht verstehen, wenn der „Daily Express“ im Zusammenhang mit einer möglichen Vermögenssteuer von „alarmierenden Tatsachen“ spricht und die Worte des Generaldirektors des „Institute of Directors“ (der Bun-deskammer der gewerblichen Wirtschaft vergleichbar), Sir Richard P o-well, zitiert: „Mr. Callaghan läßt einen Drachen, und zwar einen besonders gefährlichen, steigen, da er an seinem Ende eine Bombe mit sich führt.“

Die Meinung vieler Wähler zur bevorstehendien Wahl wird vielleicht durch eine witzige Leserzuschrift an den „Economist“ am besten wiedergegeben. Dieser Mann, offenbar ein Historiker, erinnert seine Landsleute daran, daß seit 1066 nicht mehr zwei Männer um die Vorherrschaft kämpften, die Harold hießen. Daran knüpft er boshaft die Bemerkung, daß wenige Wochen später England von den Not-mannen erobert war. Ist es wirklich ein böses Omen? Oder wird eine Palastrevolte in der konservativen Partei rechtzeitig einen neuen Mann an die Spitze bringen? Ein britischer Kennedy wird es sicher nicht sein!

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