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Abschied von den Tories?

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In wenigen Wochen erlebten die Briten ihre politischen Parteien in einer glanzvollen Revue, welcher der geschichtliche Zufall noch eine Spannung hinzufügte, wie sie sonst nur in Romanen von Joseph Conrad und Graham Greene zu finden ist. Die Parteien präsentierten sich ihren Mitgliedern, künftigen Wählern, Organisationshelfern, Abgeordneten und der Presse frisch aufpoliert wie die Ritterrüstungen im Tower. Die Parteiführungen wollten noch einmal ihre Mannschaften mustern, ehe sie das entscheidende Turnier, die Schlacht der nächsten allgemeinen Wahl, beginnen, die innerhalb eines Jahres, der ungeschriebenen Verfassung entsprechend, stattfĮnden muß. Und das Fernsehprogramm der BBC zeichnete alles treulich auf und lieferte es konsumfertig dem Publikum ins Haus. Der einfache Mann (oder Frau) von der Straße mußte nichts anderes tun, als das Fernsehgerät anzuschalten, sich in den Lehnsessel zurückzulehnen, vielleicht noch das Feuer im offenen Kamin zu schüren, um Zeuge einander sich überstürzender Ereignisse zu sein.

Wie alljährlich hatten die Parteien Seekurorte für ihre Jahreskonferenzen ausgesucht. Die Arbeiterpartei lud Ende September nach Scarborough ein, dem fashionablen Seebad im Nordosten Englands, die Regierungspartei nach Blackpool an der Nordwestküste der Insel. Obwohl beide Orte Seebäder sind, gleichen sie sich doch nicht. Ebensowenig waren der Ablauf und die Atmosphäre der Kongresse gleichartig. In Scarborough, wo unsichtbar aber spürbar der Alpdruck der Tagung von 1960 auf der Erinnerung der Delegierten lastete, jener Konferenz, die fast die Labour Party gespalten hätte, und auf der Hugh Gaitskell die Grundlage für den bemerkenswerten Erholungsprozeß eingeleitet hatte, versammelte sich eine Schar ernster Männer in grauen Anzügen. (Wie die Vorführung einer, neuen Uniform hat es auf den Beobachter gewirkt.) Nur wenig Frauen waren in den Hotels, in der Kongreßhalle. Parteikonferenz scheint für die englischen Sozialisten in der Tat eine Arbeitstagung zu sein, auf der man diskutiert, Pläne für die Zukunft schmiedet und vielleicht auch der Führung ins Gedächtnis ruft, daß „man“ eines der vielen Regierungsämter beansprucht, die nach einem Labour-Sieg verteilt werden. Eine fast klösterlich streng anmutende Atmosphäre, welche die Gegenwart des schwachen Geschlechts nicht auflockert.

In 'Scarborough wurde als unumstrittener Erbe Attlees und Gaitskells Mr. Harold Wilson bestätigt, der mit sichtlicher Befriedigung die öffentlichen Loyalitätserklärungen von George Brown und Mr. Callaghan entgegennehmen konnte.

Bis zum letzten freiwilligen Mitarbeiter aus den Wahlkreisen boten die Sozialisten das Bild einer Partei, die sich, ihres Sieges sicher, zur Übernahme der Regierung rüstet. Gewiß, auch heuer schwiegen die Unruhestifter der extremen Linken nicht. Aber die Organisatoren aus dem Transport House waren nicht gewillt, sich die Chance eines Wahlsieges und damit die Rückkehr zur Macht zunichte machen zu lassen. Eine überwältigende Mehrheit stimmte zweifellos unpopuläre — und auch sonst fragwürdige — Anträge, unter anderen die Verstaatlichung aller Baugründe, nieder.

Die Propagandisten der Parteizentrale sorgten für die Information der englischen Zeitungsleser, welcher Führungsstil Mr. Wilson eignet. Dem Publikum wurde von allem nahegebracht, daß der Oppositionsführer sich ähnlicher Mittel bedient wie Präsident Kennedy, daß er über die Fragen der offiziellen Parteihierarchie hinaus junge Universitätsprofessoren und Dozenten als Ratgeber um sich schart. Und er läßt keinen Zweifel über seine Absicht aufkommen, daß seine Regierung in soviel Bereichen als nur möglich nach einem festen Plan handeln wird, in der Wirtschaft, im Erziehungswesen. auf dem Wohnungsmarkt, in der Außenpolitik. Mr. Wilson möchte den Engländern die Einsicht nahebringen: Ein Zeitalter der Automation könne nur eine Epoche des Sozialismus sein.

Eine Woche später begannen sich die Konservativen in Blackpool zu ihrem Kongreß zu versammeln. Von London aus wurde sogar ein Sonderzug eingeschoben, der Minister, Abgeordnete und die kleinen Parteifunktionäre nach dem Seebad bringen sollte. Als der Zug am Dienstag um die Mittagszeit abfuhr, ahnten nicht einmal die Minister das Drama, welches am Nachmittag, Abend und am nächsten Tag (Mittwoch) in der Downing Street 10, dem renovierten Sitz des Premierministers, beginnen sollte. Denn am Dienstag vormittag gab Harold Macmillan in einer Kabinettsitzung bekannt, daß er die Regierungspartei selbst in die nächste Wahl führen würde, offenbar weil sich die Tories über einen Nachfolger nicht einigen konnten. Noch am gleichen Abend hielten. die wegen eines akuten Leidens herbeigerufenen Ärzte eine Operation für unaufschiebbar. Mister Butler wurde beauftragt, einstweilen die Geschäfte des Premierministers weiterzuführen. Kein Wort von einem bevorstehenden Rücktritt. Die Nachricht von der Erkrankung Macmillans wurde in Blackpool um 2.30 Uhr verlautbart und führte zu einem der, milde gesagt, eigenartigsten Parteikongresse der englischen Geschichte.

Während diese Neuigkeit wie eine Bombe wirkte, deren Druckwellen immer wiederkehrend den ordentlichen Gang der Tagung völlig durcheinanderzubringen drohten, hatte der fast 70 Jahre alte Premierminister in seinem Krankenzimmer Zeit zur Überlegung. Und es kann bei diesem gewiegten Politiker nicht lange gedauert haben, bis die Einsicht kam, daß sich die Konservativen zwölf Monate vor einer Parlamentswahl keinen rekonvaleszenten Parteiführer leisten könnten, also daß seine Krankheit den Abschied vom öffentlichen Leben, von Downing Street 10, bedeutet. Er rief seinen langjährigen Freund, Lord Home, das letzte in London weilende Kabinettsmitglied, zu sich und beriet mit ihm den Brief, mit dem er seinen baldigen Rücktritt ankündigte. In Blackpool hatten die Politiker keine Augen für die graue See, sie spürten nicht einmal die salzige Meeresluft, sie hatten nur eines im Sinn: Wer wird der Nachfolger?

Das Spiel, das nun begann, überschrieb die „Sunday Times“ sinngemäß mit „Die Woche des Gemetzels“. Einmal hieß es, Butler, dann Hailsham, dann Maudling, dann Home, MacLeod und so weiter. Die Konservativen waren geradezu entzückt, einen „Kronprinzen“ nach dem anderen auf den Schild zu heben und im nächsten Moment wieder fallen zu lassen. Alles das war verdeckt durch eine Kette gesellschaftlicher Ereignisse: eine Party, ein Interview folgte dem anderen. Dem Brauch der Tories folgend, sollten der Lordkanzler, Lord Dilhorne, Lord Home als Präsident der Parteiorganisation, Mr. Butler als stellvertretender Premierminister und rangältestes Kabinettmitglied, Mister Redmayne als Chefeinpeitscher sowie Mr. MacLeod und Lord Poole als Vorsitzende der Partei, diskret auskundschaften, auf welchen Kandidaten sich alle Gruppen am ehesten einigen würden. Aber selbst die Gegenwart der vielen Frauen, die ihre Männer begleitet und den Kongreß zu einer Art konservativem Familienfest verwandelt hatten, konnte nicht verhindern, daß hinter den Kulissen ein Freistilkampf um die Parteiführung begonnen hatte.

Das Nachfolgeproblem hatte alles in den Schatten gedrängt. Die Referatevieler Minister wurden kaum beachtet. Hingegen dauerte es über eineinhalb Stunden, bis das Kabinett übereinkam, Mr. Butler sollte in Abwesenheit Macmillans die große Abschlußrede halten. Hingegen dementierte Reginald Maudling die Nachricht, er habe zugunsten Butlers auf die Anwartschaft der Nachfolge verzichtet; hingegen verkündete Lord Hailsham unter theatralischen Umständen, er lege sei-” nen Titel wieder zurück, werde wieder Mr. Quintin Hogg und würde sich um einen Sitz im Unterhaus bewerben, hingegen waren die Anhänger der Kandidaten jederzeit bereit, jedermann zu versichern, die Gegenkandidaten seien unfähig…

Als im Jänner Hugh Gaitskell starb und die Sozialisten sich anschickten, aus der Mitte der Parlamentsabgeordneten einen als Nachfolger zu wählen, hatte das Verfahren gewiß einige Mängel, vor allem die Beschränkung auf einen begrenzten Personenkreis. Aber es war ein demokratisches Verfahren. Das Verfahren der Tories ist das kaum. „Aber“, stellt der eine politische Kommentator der „Sunday Times“, Mr. Ree-Mogg, verbittert fest, „die Konservativen haben aufgehört, Aristokraten zu sein, ohne Demokraten zu werden.“

Dies überrascht, aber es ist eine Tatsache. Noch immer gibt es in der Regierungspartei einen inneren Führungskreis von älteren Peers, welche hinter den Kulissen die Geschicke der Partei lenken. Sie haben 1957 verhindert, daß Butler Premierminister wurde, und haben mit Erfolg ihren Kandidaten, Harold Macmillan, vorgeschoben. Jenen Mann, der mit der Tochter des Herzogs von Devonshire verheiratet und seit seiner Jugend mitdem „Establishment“ verbunden ist. Es ist jene Gruppe von Konservativen, die sich um Lord Salisbury schart und die am liebsten den Lauf der Zeit umkehren möchte, die noch immer meint, die einzige „gesellschaftsfähige“ Form des Einkommens sei jene aus Zinserträgnissen. Ihr erklärter Kandidat wäre . zweifellos Lord Home, Der Außenminister fühlt sich jedoch nicht zum Premierminister berufen. Ihr nächster Favorit ist der etwas unberechenbare Lord Hailsham, das heißt, Mr’. Quintin Hogg. Ob er sich durchsetzen wird, läßt sich jetzt noch nicht sagen.

Mit Sicherheit kann man aber jetzt schon fęststellen: Wer immer in den nächsten zwei Wochen in Downing Street 10 einziehen wird, er dürfte aus zwei Gründen kein leichtes Erbe antreten. Zu allererst muß er sich im Parlament gegen die geschickten Angriffe des Oppositionsführers hvegen des Denning-Berichtes behaupten, und zweitens muß er imstande sein, den wenig günstigen Eindruck vergessen zu machen, den die Regierungspartei durch das Freistilringen der Nachfolgekandidaten gemacht hat. Wer mit den Konservativen sympathisiert, wünscht ihnen, daß sie sich entweder auf Butler oder Maudling einigen. Sollte dies der Fall sein, könnte es als ein Zeichen gewertet werden, daß die modernen Tories die Schatten ihrer Vergangenheit endgültig losgeworden sind und daß Blackpool 1963 nur einen Rückfall in atavistische Praktiken bedeutet hat, der nicht imstande war, die zweifellos vorhandenen Errungenschaften der letzten zwölf Jahre zunichte zu machen und die Neuauflage von sozialistischen Experimenten in England vorzubereiten.

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