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Großbritannien vor der Wahl

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Wie sehr sich der „gute Ton“ in der englischen Politik verändert hat, weiß man hierzulande schon seit einigen Monaten, als nämlich leichtfertigerweise die Rundfunkübertragung von Ünterhausdebatten gestattet wurde. Dem biederen Durchschnittsengländer, dem Mann von der Straße, ist seit dieser Übertragung klar geworden: Jene Männer und Frauen, denen die Wahrung der Geschicke des Landes in die Hand gegeben ist, befleißigen sich bei dieser noblen Aufgabe in den traditionsreichen Hallen des Westmin-ster-Parlaments oft eines Benehmens und Tones, wie dies selbst in Gesellschaft besserer Bierkutscher nicht zur Regel gehört.

Die ständige Unterbrechung von Rednern durch lautstarke Unwillens-kundgebungen aller Art, das gellende Hohngelächter und die oft erstaunlich derben Zwischenrufe, all das wurde dem englischen Publikum durch diese Radioübertragungen erstmals direkt zur Kenntnis gebracht. Der „Hansard“, die gedruckte Veröffentlichung der Parlamentsdebatten, war ja stets nur von einer verschwindenden Minderheit gelesen worden. Und so konnte man in der Londoner „Times“ und anderswo entrüstete Leserzuschriften finden, in denen sich zum Beispiel Lehrer darüber beklagten, diese so lange erwarteten Sendungen aus dem Unterhaus nun doch nicht als politischen Anschauungsunterricht verwenden zu können, weil das hier gebotene Image von Politikern den immanenten Zynismus der Schüler- und Studentengeneration nur noch steigern würde.

Inzwischen ist Großbritannien in die Wahlkampfperiode eingetreten. Auch der parlamentarische Meisterstratege James Callaghan kann jetzt das Leben der Labour-Minderheitsregierung nicht weiter verlängern, man rechnet mit höchster Wahrscheinlichkeit mit Wahlen im kommenden Oktober. Der Ton aber, in dem dieser kaum erst angelaufene Wahlkampf geführt wird, ist nicht nur an und für sich bedauerlich, sondern gibt zu Spekulationen darüber Anlaß, ob er nicht Symptom eines allgemeinen Verlustes an politischer Ethik in Großbritannien darstellt.

Es begann mit dem höchst zweifelhaften Pakt, den die Labourpartei im vergangenen Jahr mit den Liberalen einging - zweifelhaft vor allem seitens der Liberalen, deren politische Integrität bis dahin stets über die der beiden großen britischen Parteien gestellt worden war. Aus der vielleicht verständlichen, aber kurzsichtigen Erwägung, nach so langen Jahren in der politischen Wildnis wenigstens die Fingerspitzen an das Steuer des Staatsschiffes legen zu können, verlängerte der liberale Parteichef David Steele wohl das Leben der Labourregierung um mindestens ein Jahr, mußte dafür aber mit vollem Recht eine Schwere Einbuße seiner ideologischen Glaubwürdigkeit in Kauf nehmen, die sich bei allen bisherigen Nachwahlen in bedeutenden Stimmenverlusten für die Liberalen ausdrückte. Von einem echten Einfluß auf die Labourregierung konnte keine Rede sein, auch wenn David Steele gerade jetzt noch -knapp vor den englischen Parlamentsferien und in den letzten Tagen des für Herbst schon aufgekündigten Lib-Lab-Paktes - eine bescheidende Genugtuung erleben durfte.

Erneut vor einem Mißtrauensantrag der Tory-Opposition stehend - diesmal gegen die Wirtschaftsführung unter Schatzkanzler Healey gerichtet -, sah sich Premierminister Callaghan gezwungen, die Liberalen doch noch einmal um ihre Unterstützung ersuchen zu müssen. Diese wurde auch gewährt, möglicherweise schon im Hinblick auf einen neuen Pakt in der nächsten.Legislaturperiode. Dank der Stimmenthaltung der liberalen Abgeordneten konnte Callaghan die Vertrauensabstimmung knapp gewinnen und damit die für ihn ungünstigeren Juliwahlen noch einmal vermeiden.

Die Konservative Partei Großbritanniens unter Margaret Thatcher wird aber ebenfalls dringend jeden Tag der drei bis dreieinhalb Monate bis zu den Oktoberwahlen benötigen, wenn das Land dann wirklich seinen ersten weiblichen Premierminister bekommen soll. Die Tories sind nämlich wieder einmal in einem recht verworrenen, uneinigen Zustand, dessen Ursachen nicht leicht zu ergründen sind. Den zwar immer wieder diskreditierten, aber trotzdem weiterhin einflußreichen Meinungsforschungsinstituten zufolge liegen Konservative und Labourpartei bei den Wählern zur Zeit etwa Kopf an Kopf, vielleicht Labour sogar mit einem knappen Vorsprung. Noch im Februar dieses Jahres hatten die Tories jedoch einen Vorsprung von 11 Prozent, nachdem sie fast während der gesamten Amtsperiode der Labourregierung ihre Positionen ständig verbessert zu haben schienen.

Dieser bedrohliche Popularitätsverlust führt bereits jetzt zu einer gewissen Panikstimmung in Torykreisen. So hat etwa Airey Nieve, Nordirlandminister im konservativen Schattenkabinett und einer der engsten Berater von Margaret Thatcher, kürzlich eine Rede gehalten, in der er die Entwicklung der Labourpartei mit dem Aufstieg der Nationeilsozialisten in Deutschland verglich. Er warnte, daß bei einem weiteren Forschritt in die Abgründe eines sozialistischen Staates auch Großbritannien sehr wohl alle Schrecken einer Diktatur einschließlich Konzentrationslager erleben könnte.

Attacken solcher Art sind es, die unter anderem der Glaubwürdigkeit der gegenwärtigen Torypolitik Abbruch tun, besonders angesichts eines Premierministers wie Callaghan, den man ruhig als den konservativsten Politiker Englands bezeichnen kann, und der Hitzköpfe seines linken Flügels souverän unter Kontrolle hält. Dazu kommt der langsame, aber stetige Rechtsdrall der Konservativen, der mit Margaret Thatcher begonnen hat und jetzt immer deutlicher wird.

Vor kurzem wurde etwa der streng vertrauliche Bericht eines von der konservativen Parteiführung eingesetzten Untersuchungsausschusses bekannt, der sich mit den Problemen der Verstaatlichung und der Arbeitsbeziehungen in Großbritannien befaßte. In dem Bericht wird die Rückführung verschiedener verstaatlichter Unternehmen in den Privatsektor angeregt, eine Liste jener Industrien aufgestellt, mit denen sich eine künftige konservative Regierung auf eventuelle Streik-Auseinandersetzungen einlassen könnte, und schließlich die Bildung einer starken, mobilen Polizeisondereinheit gefordert, die zur Bekämpfung gewalttätiger Streikposten eingesetzt werden kann. Maßnahmen dieser Art, von Labour-Arbeitsminister Varley bereits als „Diagramm für industriellen Bürgerkrieg“ bezeichnet, sind eine Reaktion nicht nur gegen den Sozialismus, sondern auch gegen die gemäßigten wirtschaftspolitischen Doktrinen von Ex-Premier Edward Heath oder von Jim Prior, Arbeitsminister im Schattenkabinett.

Es sind konservative Politiker wie diese, die argumentieren, daß rechtsradikale politische Maßnahmen nur dazu führen können, daß der großen Masse der im Zentrum stehenden britischen Wähler Männer wie Callaghan schließlich als Verteidiger des Status quo erscheinen würden, als „ungefährlichste“ Entscheidung am Wahltag. Viele unzufriedene Wähler der Arbeiterklasse, mit deren Stimmen allein die Konservativen einen Wahlsieg erzielen werden können, würden angesichts eines eindeutigen Umschwungs zu reinem Kapitalismus außerdem wieder reuemütig in den Schoß der Labourpartei zurückkehren.

Aber Margaret Thatcher und ihre radikalen Freunde zeigen sich von solchen Argumenten kaum beeindruckt und verkünden weiter ihr Evangelium von unbeschränkt freier Wirtschaft und Kapitalismus, wenn sie sich nicht gerade mit ihrer Kampagne für Wiedereinführung der Todesstrafe beschäftigen. Es könnte eine zutiefst gespaltene Konservative Partei sein, die sich im Oktober den britischen Wählern stellen wird.

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