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Sorgen bei den Tories

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Am zweiten Jahrestag der Heath-Regierung verweisen nicht nur seine Gegner darauf, daß der Premier und seine Minister seit Juni 1970 angesichts neuer Ereignisse gezwungen worden sind, weitgehend von gewissen seinerzeit proklamierten Tory-Prinzipien abzugehen. Die Konservativen begannen ihre Amtszeit als Regierung einer Partei, die gegen jedes überflüssige Eingreifen des Staates in das Leben des Bürgers eingestellt ist. In diesem Punkt hat sich jedoch, speziell was die Industrie angeht, manches geändert. Freilich hatten sich die Tories auch schon seit Kriegsende mit dem Bestehen des von der Labour Party ins Leben gerufenen „Weifare Stalte“ abgefunden.

Zuerst begann die Regierung gewisse von der Wilson-Regierung geschaffene Einrichtungen zur Unterstützung gefährdeter Industrien in wirtschaftlich benachteiligten Regionen des Landes abzubauen. Dies stand im Einklang mit dem Grundsatz der Konservativen, daß „lahme Enten“ unter den Unternehmen nicht auf Steuergelder zählen dürften, nur um „unökonomisch“ am Leben zu bleiben. „Rolls-Royce“ und „Upper Clyde Shipyards“ bewiesen jedoch bald die Undurchführbarkeit dieser Maxime. Heute ist es um „lahme Enten“ still geworden, und die Regierungsmaßnahmen zur Unterstützung hilfsbedürftiger Industrien — beim Bestehen von fast einer Million Arbeitslosen — unterscheiden sich kaum mehr von denen der letzten Labour-Regierung. Ob dies ein Vor- oder Nachteil ist, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab; manche „guten Tories“ sind jedenfalls enttäuscht.

Die beiden großen Ziele der Heatfh-Regierung im Juni 1970 waren Englands Eintritt in die EWG und seine wirtschaftliche Festigung. Heute steht das Land an der Schwelle zu Europa; aber es ist noch weit von seiner ökonomischen „Sanierung“ entfernt. Seit Juni 1970 sind die Preise gestiegen, die Inflation wird bedrohlicher, die Arbeitslosigkeit ist die höchste seit 1947, und die im letzten Haushalt veranschlagte wirtschaftliche Wachstumsrate wird schon jetzt als unerreichbar betrachtet. All dies ist natürlich keineswegs etwa nur die „Schuld“ der Heath-Regierung, entspricht es doch weitgehend den Trends in anderen Industrieländern. Ein Problem der Konservativen ist es jedoch in diesem Zusammenhang, daß sie seit Juni 1970 nicht derartige Entwicklungen in Rechnung gezogen oder ihre Anhänger auf die Möglichkeit einer solchen für sie ernüchternden Entwicklung vorbereitet haben.

Auf dem für die Nation wichtigen Gebiet — nämlich auf dem der „materiellen Qualität“ ihres Lebens — ist aus den überzeugten Reformern von 1970, denen es weitgehend um die Abschaffung sozialistischer „Heilmittel“ ging, eine Administration geworden, die sich — genau wie ihre Vorgänger — improvisierend durchschlagen muß.

Politisch und psychologisch verblassen demgegenüber etwas die unbestreitbaren Erfolge Heath' in der Außenpolitik. In Großbritannien werden Wahlen kaum im Hinibfliick auf die auswärtige Situation und die auf diesem Feld erzielten Fortschritte gewonnen oder auch verloren.

Es geht mehr um Erfolge oder Mißerfolge in sogenannten „Brot-und-Butter-Fragen“. Düsteren Labour-Prophezeiungen seit 1970 zuwider hat sich die Tory-Regierung jenseits ihrer Grenzen nicht als „reaktionär“ erwiesen: Sie hat die Regierung ihrer ,,Unionist“-Schwe-sterpartei schließlich (wenn auch schweren Herzens) des Amts enthoben und die Zügel in Ulster selber in die Hand genommen; sie hat sich bisher (ebenfalls schweren Herzens) geweigert, die Unabhängigkeit Rhodesiens au bestätigen und von Sanktionen gegen die rebellische Kolonie abzulassen; und sie hat keine weiteren Waffen an Südafrika geliefert.

Die Beziehungen des Kabinetts Heath zur Sowjetunion, Osteuropa und China sind mindestens ebensogut wie die der Wilson-Regierung, im Falle Pekings sogar besser. Was den Europakurs des Premiers betrifft, so stellt er heute fest, daß seine Politik die Labour-Opposition zutiefst (wahrscheinlich auf Jahre hinaus) gespalten hat, wenn es ihm auch mißlungen ist, seine ganze Partei zu Europa zu „bekehren“.

Von der völligen UmsteEung aller politischen Weichen, wie sie die Tories vor zwei Jahren geplant hatten, kann keine Rede sein. Abzuwarten bleibt der praktische Wert der voriges Jahr mit großen Hoffnungen verabschiedeten Gewerkschaftsgesetzgebung. Die Streiks der Bergarbeiter und Eisenbahner haben gezeigt, wie schwierig hier die Situation ist.

Vielleicht haben die Konservativen recht, wenn sie sagen, ihre Politik könne erst in weiteren zwei Jahren beurteilt werden, da sie auf den meisten Gebieten langfristig angelegt sei. Jedenfalls wird es ihnen erspart bleiben, während des Rests ihrer gegenwärtigen Amtszeit von der Opposition in die Defensive gedrängt zu werden: Laibour bleibt verwirrt, gespalten und machtlos, so daß die Tories voraussichtlich bis mindestens 1978 Zeit haben werden, eventuelle Fehler zu korrigieren. Nur dann, falls sich die ersten Jahre Englands in der EWG als wirtschaftliches Fiasko für das Land herausstellen sollten, hätten die britischen Sozialisten wieder eine Chance, die Tories abzulösen.

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