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Das Ende von Illusionen

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Englands Bergarbeiter haben sich mit einer überwältigenden Mehrheit zum Streik entschlossen. Damit geht Großbritanniens Wirtschaft einer alles entscheidenden Belastung entgegen — und die Regierung Heath ihrer Überlebensprobe.Englands Scbrcksal aber ist nicht mehr isoliert zu sehen — es berührt zutiefst auch Europa. Und es ist kein Zufall, daß Englands Krise mit einer Krise der Europäischen Gemeinschaft zeitlich und auch strukturell zusammenfällt.

Den Engländern galt lange Zeit Sympathie und Bewunderung, weil sie unbestritten das verträglichste, toleranteste und freieste Volk der Welt sind. Aber es ist leider offenkundig, daß nach den allzu großen, die Kräfte dieser Nation übersteigenden Anstrengungen und Opfern der Weltkriege Großbritannien keinen Anteil an dem wirtschaftlichen Aufschwung Europas hatte. Es gab kein britisches Wirtschaftswunder.

Die Wirtschaftsstruktur und die sozialen Verhältnisse des Inselvolkes erklären mindestens teilweise die sogenannte „englische Krankheit“. Zu lange war das britische Volk gewöhnt, von seinem Weltreich und Commonwealth zü leben, dank dem es lange die führende Industrie- und Handelsnation der Welt war. Die enormen Kapitalinvestitionen, die der Londoner Finanamarkt in allen Weltteilen durchgeführt hatte, sind im letzten Weltkrieg aufgezehrt worden. Die Zollvergünstigungen, die England in seinem Commonwealth besaß, sind weggefallen. Der Verlust des Weltreichs ließ den politischen Einfluß der britischen Regierung zusammenschrumpfen. Die lange Gewohnheit, trotz veraltenden Industriewerken, einem gemächlichen Arbeitstempo und ungenügender Bearbeitung der auswärtigen Märkte keine Sorgen haben zu müssen, weil das Geld fast von selbst hereinströmte, ist nach 1945 nicht abgelegt worden. Zwar verfügt England über einige Wel'tfirmen und über eine hervorragende technologische Forschung, die jedoch nicht in eine zunehmende Industrieproduktion umgesetzt wurde.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Sieg der Labour Party erlaubt, der sozialen Not durch eine moderne Sozialgesetzgebung abzuhelfen. Aber den neuen Soziallasten entsprach keine genügende Rationalisierung und Steigerung der Gütererzeugung. Weder das Unternehmertum noch die Gewerkschaften unterzogen sich der Notwendigkeit, durch vermehrte Anstrengungen den Konkurrenzkampf in einer sich verändernden, harten Welt aufzunehmen.

Als vor einem Jahr der seit 1970 an der Macht befindliche konservative Premierminister Edward Heath gegen den Widerstand der Mehrheit des britischen Volkes den Beitritt zum Gemeinsamen Markt vollzog, hat er in Kenntnis seines Volkes von vornherein jeder Hoffnung auf die Schaffung übernationaler Organe ein Ende gesetzt. Es .war von Anfang an klar, daß die Gemeinschaft der Neun politisch uneiniger und wirtschaftlich weniger ausgeglichen sein würde als die bisherige ' Gemeinschaft der Sechs.

Die Labour Party entsendet keine Vertreter in das sogenannte Europäische Parlament, und ihre Führung, sollte sie wieder zur Macht kommen, würde das Verbleiben Englands in der EWG davon abhängig machen, daß es in neuen Verhandlungen von seinen Partnern substantielle Zugeständnisse erhalten würde. Heute besteht bereits zwischen den Konservativen und Labour kaum mehr eine Meinungsverschiedenheit darüber, daß angesichts der enttäuschenden Ergebnisse des britischen Beitritts dieser nur aufrechterhalten werden kann, wenn England neue, wirtschaftliche Vorteile zugestanden werden. Es war am Ende des letzten Jahres aufschlußreich, daß gerade die Vorkämpfer für den britischen Beitritt, Westdeutschland und Holland, sich energisch gegen die enormen Forderungen der englischen Minister nach Finanzierung ihrer unterentwickelten Regionen durch die reichen Festlandpartner zur Wehr setzten.

Inzwischen ist auch die mit viel Zweckopt'rrv'smus geplante Wirtschafts- uni Währungsunion infolge der Freigabe der britischen, irischen, italienischen und zuletzt auch der französischen Wechselkurse in Frage gestellt worden. Der Not gehorchend sind diese Länder nach dem amerikanischen Vorbild zum sogenannten „Floating“ ihrer Währungen übergegangen. Was endlich die Energiekrise betrifft, war England bestrebt, einer gemeinsamen Stellungnahme der Neunergemeinschaft gegenüber den ölproduzierenden Ländern zuvorzukommen und seine eigene Versorgung zu sichern — zumal England hofft, in einigen Jahren seine Versorgung mit Erdöl zu 80 Prozent aus den Vorkommen in der Nordsee sicherstellen zu können. Daß die Bundesrepublik, Frankreich, Italien, um von den europäischen Kleinstaaten und Japan nicht zu reden, rasche Maßnahmen zur Versorgung mit Erdöl trafen, kann nicht verwundern. Internationale Konferenzen zum Zweck einer gemeinsamen Stellungnahme der importierenden Länder gegenüber den produzierenden, wenn sie zustande kommen, sind zweifellos schwerfällig und zeitraubend. Wenn Regierungen in einer Notlage ihre Wirtschaft, ihre Währung und ihre Energieversorgung gegen Krisengefahren abzusichern unternehmen, e -füllen sie in erster Linie eine Pflicht gegenüber ihren Völkern. Der Gemeinsame Markt besitzt eben leider weder die Autorität noch das Instrumentarium, um in solchen Fällen das Notwendige vorkehren zu können.

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