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Der bedeutungsvollste Akt moderner Geschichte “

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Politische Ideen haben ihr Eigenleben. Es kommt vor, daß sie die ursprünglichen Absichten ihrer Initiatoren mit der Zeit überflügeln. Noch ist es zu früh, dies vom Schuman-Plan zu sagen. Gewiß war sich der französische Außenminister von vornherein bewußt, daß sein Vorschlag, die französische und die deutsche Stahl-und Kohlenproduktion der Kontrolle einer einzigen Autorität zu unterstellen, die europäische Festlandspolitik in eine völlig neue Richtung zu lenken geeignet wäre. Als er am 9. Mai, am Vorabend dffr Londoner Außenministerkonferenz der drei Westmächte, überraschend mit dieser Anregung hervortrat, erklärte er sogleich, es handle sich um einen politischen Akt und um den Versuch, den toten Punkt zu überwinden, an dem die europäischen , Unionsverhandlungen angelangt waren. Die Bonner Regierung griff unverzüglich mit beiden Händen zu. Sie erkannte sofort, daß die Durchführung dieses Plans einen deutsch-französischen Krieg für alle Zeiten ausschließen und die beste und festeste Grundlage einer europäischen Föderation bieten würde. Wenn auch der Vorschlag Schumans den Beitritt anderer Länder, in erster Linie natürlich den der Beneluxstaaten sowie den Großbritanniens, als wünschenswert bezeichnete, übersah Dr. Adenauer keinen Augenblick die große Gelegenheit, mit Hilfe dieses Plans die Führung eines geeinten Europa einem deutsch-französischen Einvernehmen zu sichern. Nur wenige Stunden nach Bekanntwerden der Schumanschen Anregung erklärte der westdeutsche Bundeskanzler, hier liege der bedeutungsvollste Akt in der modernen Geschichte vor, und bei seiner Verwirklichung müsse es das Ziel sein, .,ein geeinigtes Europa als eine dritte Macht zwischen Sowjetrußland und den Vereinigten Staaten zu schaffen, die zwar niemals so stark wie die beiden andern Mächte, aber immerhin wirtschaftlich und politisch stark genug sein könnte, damit sie ihr Gewicht für die Erhaltung des Friedens einzusetzen vermöchte“.

Wie von allem Anfang an _ die europäische Unionsbewegung und die. praktische Wirksamkeit des Europarates in London auf eine mehr oder weniger geschickt maskierte Bremse gestoßen sind, so wird jetzt der Schuman-Plan vom britischen Kabinett mit nachdenklicher Kühle und von der führenden englischen Presse mit jener traditionellen Taktik behandelt, welche grundsätzliche Sympathie mit bengalischer Beleuchtung gefährdeter Interessen verbindet. Die Bemühungen des französischen Außenministers, britischen Bedenken keine Nahrung zu geben, konnten bisher daran nichts ändern. Dieser Bedenken, die von Londoner Blättern französischen Deputierten und Schwerindustriellen in den Mund gelegt werden, gibt es nicht wenige: wie durfte Schuman einen so schwerwiegenden Plan lancieren, ohne sich vorher der Zustimmung des Parlaments zu versichern? Jedenfalls müßte dieses vor allen weiteren Verhandlungen befragt werden. Werden die französischen Privatindustriellen sich irgendwelchen Diktaten, gewerkschaftlichen oder gar ausländischen, zu beugen haben? Wie ist die von Schuman vorgeschlagene Unabhängigkeit der „hohen Autorität“, der die vereinigten Stahl- und Kohlenindustrien unterstellt werden sollen, mit den Souveränitätsrechten der Teilnehmerstaaten zu vereinbaren? Wird diese Autorität verpflichtet sein, den interessierten Regierungen Rechenschaft zu legen, und in welchem Ausmaße wird sie sich an deren Instruktionen zu halten haben? Wie weit wird ihre Exekutivgewalt gehen? Nach welchen Prinzipien soll die Autorität zusammengesetzt werden? Wie wird sich ihr Verhältnis zu den nationalen Gewerkschaften entwickeln? Werden ihre Funktionen denen eines Preiskartells, eines Produktionskartells oder eines Verteilungskartells gleich-oder nahe kommen? Sieht der neue Plan auch die Einbeziehung der Ruhrindustrie vor, und was soll in diesem Falle das Los des Ruhrstatuts sein?

Während die westdeutsche Republik, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg der französischen Regierung bereits die Annahme des Schumanschen Plans in aller Form mitgeteilt haben, verharrt Großbritannien bis zu dem Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden, auf dem Standpunkte, es könne im voraus seine Zustimmung nicht erteilen und wünsche bei den für Mitte Juni vorgesehenen Detailverhandlungen nicht als Verhandlungspartner, sondern nur durch einen Beobachter vertreten zu sein. Dagegen hat das Schattenkabinett der britischen Konservativen Partei die Beteiligung Großbritanniens an dem Plan gefordert, und Churchill hat als Vorsitzender der Bewegung für die europäische Einigung die „historische Initiative“ des französischen Außenministers auf das wärmste begrüßt. Auffallend stark unterscheidet sich von der reservierten Haltung der britischen Regierung die amerikanische. Die erste Konferenz, die Präsident Truman nach der Rückkehr von seiner Informationsreise durch die Vereinigten Staaten abhielt, benützte er dazu, den Vorschlag Schumans als eine Staatsmannische Tat von hohem konstruktivem Wert und als den Wendepunkt zu einer neuen Epoche in Europa zu bezeichnen. Er fügte hinzu, Frankreich habe damit seine führende Stellung in der Lösung europäischer Probleme bewiesen und dies entspreche der großen französischen Uberlieferung.

Ein Teil der von London aufgeworfenen Fragen ist sicherlich durch Verhandlungen erst abzuklären. Darüber bestand keinen Augenblick ein Zweifel. Das Verhältnis der geplanten Stahl- und Kohlenunion zu den nationalen Gewerkschaften kann unter Umständen eine entscheidende Rolle spielen. Schon hat der internationale Verband freier Gewerkschaften in Brüssel sein Recht auf Mitsprache angemeldet. Die Bonner Regierung hat bei allem Enthusiasmus für den Vorschlag sogleich eine Kommission zum Studium aller Probleme eingesetzt, die sich aus dem französischen Plan ergeben, während die Pariser Regierung zu einer Vorbesprechung der wichtigsten dieser Probleme ihren wirtschaftlichen Sachverständigen, Monnet, nach Bonn entsandte, der mit Mitgliedern des deutschen Kabinetts, wie hier nur am Rande bemerkt werden soll, erst nach eingeholter Bewilligung der Hohen Kommissare verhandeln durfte. Von Paris ist nach der ersten Veröffentlichung vom 9. Mai eine zweite erläuternde Note nach London abgegangen, die aber, wie ein Sprecher des Quai d'Orsay bedauernd erklärte, dort zu wenig Beachtung gefunden hat. Schuman gab mittlerweile auf dem Kongreß der MRP in Nantes eine Reihe von Aufklärungen zu seinem Vorschlag. „Was beiden Ländern — Frankreich und Deutschland — gemeinsam sein wird“, sagte der mit außerordentlichem Beifall begrüßte französische Außenminister, „wird die Anwendung einer gemeinsamen Exportpolitik sein.“ Die Kontrollautorität werde weder den Charakter eines Regierungsdepartements noch, den eines Ausschusses privater Interessen haben. Es werde ihre Sorge sein, die Produktionsmethoden zu verbessern, den Ertrag zu erhöhen, die Arbeitsbedingungen einander anzugleichen, und zwar auf dem Gebiete der Löhne natürlich durch Erhöhungen, und in jeder Phase die Meinung der Gewerkschaften einzuholen. Schließlich betonte Schuman, die neue Organisation würde dem Europarat untergeordnet werden.

Bezeichnenderweise vermied der französische Außenminister jede Andeutung in der von Großbritannien gewünschten Richtung, daß die Wirksamkeit der vorgesehenen „hohen Autorität“ an die Instruktionen der nationalen Regierungen gebunden bleiben müßte.

Wie die kühne Idee Schumans aus sich heraus geistige Atomkräfte entwickelt und in überraschender Weise das politische Denken des europäischen Festlandes von dem insularen Großbritanniens spaltet, ist ein Schauspiel von historischer Spannung, bei dem die Briten drauf und dran sind, das Gesicht zu verlieren und den Acheron in Bewegung zu setzen, weil es Ihnen nicht gelingt, die politischen Götter für ihre Sache einzunehmen. Es gibt kein Argument, wie abgelegen es auch sein mag, das jetzt nicht von den angesehensten englischen Blättern, allen voran von dem sonst so gemessenen Sprachrohr der öffentlichen Meinung Großbritanniens, das die .Times“ zu sein beanspruchen, mit der Absicht ins Treffen geführt wird, die sich plötzlich lebendig bildende kontinentale Interessengemeinschaft zu sprengen. Nicht nur Großbritannien, sondern keine souveräne Regierurig, heißt es da im Chore, könne sich auf diesen

Plan festlegen, ohne vorher seine'Konsequenzen nach allen Richtungen genau geprüft zu haben. Im übrigen wolle Großbritannien natürlich gern die „Befürchtungen“ Frankreichs zerstreuen, mit Deutschland bei diesem Unternehmen „allein zu bleiben“. Eine zentrale Planwirtschaft der Stahl- und Kohlenproduktion könne ja die ganze ökonomische Struktur der teilnehmenden Staaten erschüttern. Die Bildung der vorgesehenen kontrollierenden „hohen Autorität“ stelle nicht nur das Ruhr- und das Besatzungsstatut in Frage, sondern werfe das gesamte Problem des Verhältnisses Deutschlands zum Westen auf. Im übrigen könne die Bonner Regierung an dem Plane nur dann teilnehmen, wenn ihr hiezu die drei Hochkommissare ihre einvernehmliche Zustimmung erteilen sollten, Und zu alldem erhebt die englische Presse noch das Bedenken, dieser Schuman-Plan rechne offenbar auch mit dem osteuropäischen Markte, und indem er allen europäischen Ländern den Beitritt zusagt, wäre es möglich, daß sich ihm auch die Sowjetunion anschlösse. Als ob die

Begegnung im praktischen Leben das Schlimmste wäre.

Indessen ist das Große geschehen: ohne sich durch die Haltung der englischen Regierung beirren zu lassen, haben sich Frankreich, Westdeutschland und die Beneluxstaaten und auch Italien in öffentlicher Erklärung für den Schuman-Plan zusammengetah, mit dem sie sich zu Einschränkungen ihrer staatlichen Souveränität zugunsten ihrer Gemeinschaft, der ersten großen Opfergabe auf den Altar des friedlichen europäischen Zusammenschlusses, bekennen. Und England steht abseits. Das heißt, daß die Politik der Labourregierung im internationalen politischen Gefüge der Gegenwart eine folgenschwerere Trennung einzuleiten droht, als es die Preisgabe der kolonialen Machtstellung war. Kann sie diesen Weg bis zum Ende gehen? Britischer Egoismus wird es nicht rechtfertigen. Auch für den britischen Realismus gilt das alte Wort: Sunt certi denique fines. Ihm sind schließlich Grenzen gesetzt — durch das Lebensrecht und die Einigkeit der andern.

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