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Frankreich über alles...

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Marschall Foch, als staatsmännischer Denker gleich groß wie als Feldherr, hat einen Aphorismus geprägt, der wohl das Klügste ist, was je über Außenpolitik geschrieben wurde. In knappster Gedrängtheit heißt es da: „Wenn man nicht die seiner Politik entsprechende Armee besitzt, dann muß man die seiner Armee entsprechende Politik machen.“ Das soll nun nicht etwa fordern, daß vom Heer über die Außenpolitik eines Landes entschieden werde, sondern nur, in nüchternstem Realismus, feststellen, Ziele und Methoden einer über die Grenzen des eigenen Staates hinauswirkenden Politik hätten im Einklang mit den militärischen Machtmitteln zu beharren, die hinter ihr vorhanden sind. General de Gaulle hat sich den Wahrspruch seines geistigen Ahnen offenbar zum getreu beachteten Wahlspruch erkoren. Nur daß wir anstatt „armee“ „armements“, statt Heer Rüstungspotential setzen sollten und dann den gesamten Satz umzukehren hätten': „Wenn man nicht das seiner Außenpolitik gemäße Rüstungspotential besitzt, dann muß man das Rüstungspotential beschaffen, das der erstrebten Außenpolitik entspricht.“ Im Lichte dieser beherrschenden Leitidee ist das gesamte Verhalten Frankreichs auf internationalem Gebiet zu betrachten.

De Gaulle hat von der Vierten Republik drückende Hypotheken für seine Außenpolitik übernommen: eine Isolierung, die alles eher denn glänzend zu nennen war; nach dem „schmutzigen“ und mit einer Katastrophe abgeschlossenen Krieg in Indochina den noch schmerzlichere Opfer fordernden und ebenso aussichtslosen in Algerien, der die besten und die meisten kampftüchtigen Truppen Frankreichs fesselt; dazu eine gewaltsamer Ladung, eine dem Bürgerkrieg sich nähernde Situation im Mutterland und bedrohliche Symptome auf dem einzigen noch einen günstigeren Anblick gewährenden Terrain, dem wirtschaftlichen. An die Verworrenheit der inneren Lage muß erinnert werden, wenn auch von ihr in diesem Zusammenhang nicht eingehender gesprochen werden soll. Die Aufgaben des als Retter Begrüßten waren auf außenpolitischem Gebiet klar. Sie lauteten: Beendung des Algerienkrieges, um wieder militärisch handlungsfähig zu werden; Beschaffung moderner Bewaffnung, in erster Linie atomarer, um nicht hoffnungslos hinter den Mitgliedern des sich abhegenden „Atomklubs“, USA, UdSSR, Großbritannien, zurückzubleiben; Verengung der Zusammenarbeit mit der Deutschen Bundesrepublik und womöglich mit Italien; Aufbau einer starken, politisch, militärisch und wirtschaftlich gefestigten kontinentaleuropäischen Gemeinschaft — als deren Typus de Gaulle die „Europe des patries“, das Europa der Vaterländer, vorschwebte, die aber, wenn sich die Widerstände gegen diese zu sehr dem überlieferten Souveränitätsbegriff, dem einzelstaatlichen sacro egoismo, verhaftete Konzeption als unüberwindbar erwiesen, auch eine stärkere Verschmelzung der Europapartner zuließe. Sodann, eine neue Art der Verbündung mit den Angelsachsen: Großbritannien in das kommende Europa integriert, doch nur, wenn sich London, was ihm bei seiner Verknüpfung mit dem Commonwealth nicht leicht fiele, in die Gesamtheit des integrierten Kontinentaleuropa harmonisch einordnete; die' USA von außen her, ein gleichberechtigter, doch nicht ein allein den Ton angebender Alliierter. Erst von der zu schmiedenden europäischen Gemeinschaft, innerhalb deren Frankreich, gemäß de Gaulies offen einbekannter Ansicht, an der Seite Deutschlands und (wenn dieses sich einfügt) Großbritanniens wie (das wird aus Höflichkeit erklärt) Italiens die Führung innehätte, wäre hernach mit der Sowjetunion eine echte Symbiose denkbar, die nicht etwa Vorstufe oder gar Tarnung für eine kommunistische Durchdringung bedeutete.

Wir scheuen uns nicht, hinzuzufügen, daß hinter dieser A n sieht noch eine A b sieht in de Gaulles Herzensgrund lauert, Frankreich innerhalb der europäischen Gemeinschaft überhaupt die Hegemonie zu sichern. Dabei mag der Umstand mitwirken, daß der General zwar Adenauer als ebenbürtigen Gefährten kennt und anerkennt, sich gegenüber dessen eventuellen Nachfolgern jedoch überlegen fühlt und daß er von der britischen Staatskunst, sagen wir es artig, nicht die allerbeste Meinung hat; wenigstens soweit die derzeitigen und die möglichen künftigen Staatslenker des Vereinigten Königreiches in Betracht kommen. De Gaulles Methode gemahnt an die des „Kontroll“ Systems in der angelsächsischen Wirtschaft. Ein erprobter Geschäftsmann kauft um eine Million fünftausend Dollar die Aktienmehrheit eines Unternehmens, das zwei Millionen wert ist. Dieses Unternehmen erwirbt die Mehrheit eines vier Millionen „schweren“ Betriebes usw. Bis zuletzt der ursprüngliche Anreger mit seinem Eigenkapital von einer Million fünftausend einen Riesenkonzern regiert, der über Hunderte von Millionen, wenn nicht über eine Milliarde Dollar verfügt. So käme Frankreich, erste unter den drei Mächten von Rumpfeuropa, dann der EWG, später Gesamteuropas, zu einer Machtposition, die es, auf seine alleinigen Kräfte gestellt, nie erreichen könnte.

Die anderen Großmächte, und vor allem die zwei Weltmächte samt der Beinaheweltmacht Großbritannien, merken allerdings die Absicht, und man darf sich nicht wundern, daß sie darüber verstimmt geworden sind. Bei den Angelsachsen tritt das freilich schärfer zutage als in Bonn, obzwar auch dort, und noch mehr in der westdeutschen Presse, die kritischen Äußerungen über de Gaulles Standpunkt nicht fehlen. Allen offiziellen Schönfärbereien zum Trotz, hat sich gegenwärtig eine Gruppierung herausgebildet, bei der auf der einen Seite die USA und Großbritannien, auf der anderen Frankreich erscheinen, wobei Westdeutschland eine eher de Gaulle zuneigende, Italien eine, zumal seit der „Öffnung nach links“, weit vorsichtigere, vermittelnde und mittlere Position beziehen.

Was die Sowjetunion anlangt, so bleibt de Gaulle mit der ihm eigenen Unerschütterlichkeit, die von den einen als weise Standhaftigkeit gepriesen, von den anderen als störrische Starrköpfigkeit bemäkelt wird, bei der Meinung, jede Verhandlung und schon gar ein Gipfeltreffen seien vorläufig zwecklos, besonders wenn beides die deutschen Angelegenheiten, vorab Berlin, zum Gegenstand haben sollte. Das Klima der Beziehungen zum Kreml ist nahe an den Nullpunkt herangerückt. Frankreich hat seinen Moskauer Botschafter abberufen und den, persönlich in Paris wohlgelittenen, Botschafter der UdSSR, Winogradow, heimgeschickt. Ähnliches ist schon vor einiger Zeit dem diplomatischen Vertreter Jugoslawiens geschehen. Als Grund oder Vorwand diente jedesmal die formelle oder faktische Anerkennung der algerischen Regierung, Ben Cheddas. Jüngst hat sich derlei bei Polen wiederholt. Vorerst nur in der Form, daß der neuernannte französische Botschafter seine Reise nach Warschau auf unbestimmte Zeit verschieben mußte; ob der erst vor kurzem beglaubigte polnische Botschafter in Paris freundlichst gebeten werden wird, heimzukehren, ist noch unbekannt und vermutlich unentschieden. Jedenfalls verzeichnet man in Bonn nicht ohne Schadenfreude, die in — nicht sehr weitblickenden — Zeitungsartikeln durchbrach, de Gaulles Polonophilie, die sich in der seinerzeitigen offiziellen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze bekundete, habe einen Knacks bekommen. Womit einer der letzten Steine des Anstoßes, vielleicht der einzige empfindlich störende, auf dem Wege, der vom Herzen Frankreichs zu dem Deutschlands führt, ins Abrollen geraten sei.

Dennoch wäre es verfehlt, dem klugen, realpolitischen und vielgewandten französischen Präsidenten eine antiamerikanische oder antibritische Gefühlspolitik anzusinnen. Er bemüht sich vielmehr darum, von der algerischen Last befreit — oder durch sie minder bedrückt —, seine militärische und wirtschaftliche Macht zu konsolidieren, um mit Aussicht auf Erfolg, als ebenbürtiger Partner, als der Sprecher — oder als einer der beiden VorSprecher — einer Weltmacht Europa, mit den Angelsachsen vereint ein den christlichen und humanen Traditionen anhangendes Europa in die Zukunft hinüberzuretten. Ein Europa, in dem Frankreich den Platz einnimmt, der ihm vermöge seiner stolzen Überlieferung zukommt, den es sich aber erst wieder fest erringen muß. „Was es ererbt von seinen Vätern hat, erwerbe es, um es zu besitzen.“

Damit ist bei weitem kein sturer Antisowjetismus gesetzt, der einen Kreuzzug predigt und der sich bei genauerem Zusehen als Hakenkreuzfahrerschaft entpuppt. Derselbe de Gaulle, der so mutig und unbeugsam ein Zurückweichen oder ein Sichauf-weichenlassen ablehnt, wäre der erste, der mit der Sowjetunion einen echten Frieden oder, seien wir behutsamer, einen lange währenden Waffenstillstand schlösse. Doch das ist Zukunftsmusik. Für die Jetztzeit und für die nicht allzu vielen Jahre, die dem Präsidenten nach menschlicher Voraussicht noch beschieden sein können, um in voller Kraft das Staatsruder zu führen, hat er sich wohl kaum ein weiteres Ziel gestellt als eben dieses, Frankreich d i e Armee und das Rüstungspotential zu sichern, die ihm, de Gaulle, gestatten, jene Weltpolitik der Größe und der Würde zu leiten, die allein uns allen den wahren Frieden, Frankreich aber seinen Platz an der Sonne, seine innere Freiheit, seine geistige und wirtschaftliche Blüte verbürgen kann; auch wenn es aufgehört haben wird, jenseits der Meere, ein paar historisch begründete Ausnahmen abgerechnet, um blutigen Preis und bei schwerer moralischer Einbuße die formelle völkerrechtliche Oberhoheit über widerstrebende Kolonialgebiete aufrechtzuerhalten.

Im Endergebnis sind der französischen Außenpolitik de Gaulles dauernde Erfolge sicher. Freilich unter einer Voraussetzung, die wir in einer Abwandlung des Titels eines berühmten barocken Buches über Österreich zusammenfassen: Frankreich über alles, wenn es nur will. Wird es aber wollen? Die Antwort darauf kann nicht von außen, sie muß von innen her kommen und ist bedingt durch die Unterstützung, die durch die breiten Massen der Bevölkerung und durch die Elite dem einsamen großen Mann gewährt werden wird.

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