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Moskau und de Gaulle

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Die Krise in Frankreich wird in weltpolitischer Hinsicht überschattet von der großen Frage, wie sich das französisch-sowjetische Verhältnis nach einer Machtergreifung durch de Gaulle entwickeln wird. Die Kommentare in Washington und London interessieren sich weniger um die innenpolitischen Folgen einer Regierung de Gaulles als vielmehr für die Frage, ob nun de Gaulle sein 1946 mit Moskau geschlossenes Bündnis nunmehr wieder aktivieren und, darauf basierend, eine gegen die angelsächsischen Mächte gerichtete Politik betreiben wird, um so, auf die Sowjetunion gestützt, eine neue französische Großmachtpolitik der Unabhängigkeit zu führen, die letzten Endes zur Spaltung der NATO, mindestens zu ihrer Auflockerung führen wird.

Das Verhältnis Moskaus zu einer Regierung de Gaulle ist bis jetzt nicht klar. Die Sowjetpresse behandelt de Gaulle persönlich außerordentlich vorsichtig. Auf den ersten Blick scheint sie auch nicht einheitlich zu sein. Die • „Prawda“, das Organ der Partei, schildert die Vorgänge in Frankreich völlig in demselben Lichte, in welchem es die französischen Kommunisten selbst. tun. Die „Iswestija“, das Organ der Regierung, ist dagegen weit zurückhaltender, objektiver und zeigt das deutliche Bestreben, 'de Gaulle möglichst zu schonen und die publizistischen Beziehungen zu ihm für die Zukunft nicht abzubrechen. Doch dieser Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Es wäre nämlich nicht das erste Mal im Verlauf der letzten vierzig Jahre, daß der Kreml auf der einen Seite sein orthodoxkommunistisches Gesicht zu wahren hat, auf der anderen Seite jedoch reine Staatspolitik betreibt, die der kleine Kommunist als Abkehr von den bolschewistischen Dogmen betrachten muß. Es ist verständlich, daß die „Prawda“ bei der Schilderung der französischen Ereignisse vorläufig ganz im Sinne der kommunistischen Ideologie schreibt, die „Iswestija“ dagegen diplomatische Vorarbeiten leistet. Am wichtigsten ist jedoch die letzte Rede Chruschtschows vor den Delegieren der Ostblockstaaten über Algerien. De Gaulle wird dabei mit keinem einzigen Wort genannt. Wenn auch Chruschtschow das Recht des algerischen Volkes auf ein nationales Eigendasein anerkennt, betont er besonders die historisch gewachsene Verbundenheit Algeriens mit Frankreich, eine Verbundenheit, die auch in Zukunft gewahrt bleiben sollte. Es ist dies also eine Formulierung, die derjenigen der Gaullisten sehr nahe kommt, auf jeden Fall ganz und gar französisch klingt.

Wenn . man die Stimmungen jener sehr dünnen Schicht' von bolschewistischen Parteifunktionären und Intellektuellen, die in Moskau die außenpolitische öffentliche Meinung machen, berücksichtigt, so hätte eine französisch-russische Annäherung hier zweifelsohne große Chancen. Denn man irrt sich, wenn man heute auf Grund der. Erfahrungen der ersten Jahre des Bolschewismus noch glaubt, daß in Moskau noch starke prodeutsche Sympathien vorhanden seien. Gegen ein neues Rapallo wären diese nicht einflußlosen Kreise bestimmt aufs schärfste eingestellt. Man übersieht vielfach, daß in der heutigen russischen Intelligenz sehr starke Kräfte der altrussischen Tradition weiter bestehen. Hitler hat mit seinem Antisemitismus, in dessen Schatten dann Stalin seinem privaten Antisemitismus der letzten Lebensjahre lebte, endgültig noch in der Sowjetunion vorhandene prodeutsche Sympathien vernichtet. Es war nun einmal so, daß das jüdische Element in Rußland alles Deutsche bewunderte und verehrte, vor allem die deutsche Kultur.

Die russische nichtjüdische Intelligenz dagegen war nie deutschfreundlich, sondern immer antideutsch eingestellt und profranzösisch. Die heutige russische Intelligenz hat diese Tradition übernommen, wenn auch in abgeschwächter Form. Die französischen Klassiker werden in der Sowjetunion auch heute viel mehr gelesen als deutsche Autoren. Dazu kommt noch, daß n.ich jedem großen Koalitionskrieg unter den Bundesgenossen Ressentiments ' zurückbleiben. Diese Ressentiments gegen die Angelsachsen sind in der Sowjetunion heute sehr groß, auch außerhalb der Partei. Grund hierfür ist die Verzögerung der zweiten Front und die russische Ueber-zeugung, daß die. Angelsachsen auf Kosten des russischen Blutes den Krieg verlängerten. Wenn auch auf technischem Gebiet der gebildete Russe die Amerikaner bewundert, gefühlsmäßig jedoch ist eine tiefe Animosität gegen Amerika da.

Ganz anders ist die Einstellung den Franzosen gegenüber. Der Russe empfindet sie nicht nur als Bundesgenossen, sondern auch als Schicksalsund Leidensgenossen im letzten Krieg. So wie weite Gebiete Rußlands, so ist auch Frankreich vom Feind besetzt gewesen. Wie in Rußland hat auch in Frankreich neben der offiziellen Armee das Volk freiwillig in der Partisanen- und Widerstandsbewegung gegen denselben deutsehen Feind gekämpft. Daß Frankreich mit seiner Kultur nach dem Krieg die letzte Macht unter den Großen geworden ist, kaum mehr eine Großmacht, bedauern viele Russen tief.

Eine Atmosphäre für eine sowjetisch-fran zösische Annäherung wäre also wohl gegeben. Doch Nikita Chruschtschow und viele seiner Genossen im Parteipräsidium sind keine eigentlichen russischen Intellektuellen. Sie sind sehr kühle Rechner. Solche Stimmungen kalkulieren sie, wenn notwendig, ein und benützen sie, doch von ihnen lassen sie sich nicht leiten. Es sind sehr viele zuverlässige Informationen vorhanden, daß man die Entwicklung der französischen Krise im Kreml mit größter Besorgnis verfolgt. Lieber das eine jedoch, sind sich alle im Kreml einig: einen Bürgerkrieg in Frankreich kann im gegenwärtigen Augenblick der Kreml am allerwenigsten gebrauchen, selbst dann nicht, wenn man annehmen könnte, daß die Auseinandersetzung mit einem kommunistischen Sieg enden würde. Doch an diese Möglichkeiten glaubt von den maßgebenden Männern im Kreml niemand, trotz der starken kommunistischen Partei in Frankreich. Was der Kreml im Falle eines Bürgerkrieges in' Frankreich befürchtet, ist die beinahe unabwendbare Möglichkeit eines dritten Weltkrieges. Was aber am Ende eines solchen Krieges sein wird, weiß niemand. Frankreich ist nicht Spanien, und wir schreiben nicht mehr 1936. In einem französischen Bürgerkrieg würden, in Gegensatz zu Spanien, die Kommunisten sofort im Vordergrund stehen und 1-“unten sich nicht hinter Anw Insten, bürgerlichen Republikanern sowie katalanischen und baskischen Autonomisten tarnen. Schließlich könnte heute die Sowjetunion die französischen Kommunisten nicht so im Stiche lassen wie seinerzeit ihre treuesten in Spanien. Denn dann würde das gesamte. Satellitenreich zusammenbrechen.

Wenn man sich über die Frage Bürgerkrieg und Revolution ' in den maßgebenden Kreisen des Kremls durchaus einig ist, so ist die Frage des Verhaltens zu einer etwaigen Annäherung de Gaulles durchaus nicht entschieden. Vorläufig stehen sich zwei Meinungen einander gegenüber. Nach der einen Auffassung sollte man auf solche allfällige Vorschläge de Gaulles eingehen. Die NATO würde damit geschwächt. Das Selbstbewußtsein de Gaulles würde steigen. Sein französischer Nationalismus und sein bekanntes Prestigebedürfnis würden den amerikanischen Einfluß vermindern und stark zurückdrängen, ganz abgesehen davon, daß eine Regierung de Gaulle die .Lage der Deutschen Bundesrepublik verändern und auch diese veranlassen könnte, Moskau gegenüber ein freundlicheres Gesicht zu zeigen.

Eine andere Richtung im Moskauer Kreml ist der Meinung, daß man etwaigen Annäherungsversuchen de Gaulles gegenüber sich reserviert verhalten und sogar ein etwaiger' diplomatisch aktiver Elan des Generals gegen die angelsächsischen Mächte und die NATO von der Sowjetdiplomatie eher gedämpft werden sollte. Sie argumentiereri ungefähr folgendermaßen: Die europäische Politik ■ der Sowjetunion ist ein Teil il.rer globalen Politik, und nicht einmal der wichtigste. Das Ziel dieser Politik' ist, zu zweit mit Washington-an den'Tisch zu kommen und die, Weltprobleme' untereinander zu regeln. Diese Bestrebungen zielen nicht etwa darauf hin, die ganze übrige Welt aus dem weltpolitischen Geschehen auszuschalten, sondern man hält sich In Moskau als den Sprecher der östlichen kommunistischen Welt und die Amerikaner als diejenigen des westlichen kapitalistischen Bereiches. Wenn eine Konferenz alle Regierungschefs oder aber nur derjenigen der Großmächte Gipfelkonferenz genannt wird, so stellen sich die Russen ein russisch-amerikanisches Treffen als eine Art Supergipfelkonferenz vor. Welches wären die Ziele einer solchen Konferenz zu zweit? Es wären dies die Bestätigung des gegenwärtigen Besitzstandes zwischen Sowjetsphäre und westlicher Sphäre, vor allem aber der Rückzug aller fremden Truppen aus. den verschiedenen Ländern und die Liquidierung der amerikanischen Stützpunkte rings um den Ostblock. Das ist das Ziel, auf das der Kreml mit den verschiedensten und kompliziertesten Methoden hinstrebt. Nun meinen manche von den außenpolitischen Fachleuten des Kremls, daß eine Revolte de Gaulles gegen die NATO und den amerikanischen Einfluß die Sowjets diesem Ziel nicht näher bringen, sondern von ihm weiter entfernen würde. Es bestehe nämlich die Gefahr, daß ein sowjetisches Eingehen auf ein solches Sprengen der NATO nicht der Entspannung dienen, sondern diese nur verschärfen würde. In Washington, vielleicht auch in London würde man in einem solchen Fall noch unzugänglicher und noch feindlicher werden. Man könnte, um einen etwaigen französischen Ausfall zu kompensieren, die Zahl der Stützpunkte und Abschußrampen rings um die Sowjetunion noch mehr verstärken. Mit anderen Worten: diese Kreise innerhalb der Sowjetdiplomatie sehen in einer brüsken Schwenkung Frankreichs nur abenteuerliche Gefahren, die man heute noch nicht überblicken kann. Sie sähen es lieber, wenn zwar die französisch-sowjetischen Beziehungen wärmer würden, ohne jedoch die Stellung Frankreichs in der westlichen Welt zu verändern. Vielleicht könnte dann General de Gaulle im Rat der westlichen Mächte der Anwalt der Entspannung und des Ausgleichs mit der Sowjetunion werden.

Es gibt westliche Beobachter, die erwarten, daß die französischen Ereignisse von neuem den Kampf zwischen Chruschtschow und dem sogenannten stalinistischen Flügel verschärfen könnten. Das ist natürlich Unsinn. Wir haben schon geschrieben, daß sich für diese' Frage nur eine sehr dünne Schicht in Moskau interessiert. Die überwiegende Mehrheit der Sowjetbevölkerung einschließlich der Mitglieder der kommunistischen Partei interessiert sich sehr wenig für die Außenpolitik und das Ausland.

Darum war die Außenpolitik seit der Beendigung des Bürgerkrieges eigentlich nie ein Gegenstand von Kämpfen innerhalb der Partei. Man überließ sie den paar Beauftragten innerhalb der Partei- und Regierungsspitze.

So darf man die Moskauer Diskussionen über die heutigen französischen Ereignisse auf keinen Fall überschätzen. Chruschtschow können sie auf keinen Fall gefährlich werden. Im übrigen wird sich ja nichts von heute auf morgen entscheiden. Es wird vielmehr ziemlich lange Zeit vergehen, bis die außenpolitische Linie der Regierung de Gaulle klar sichtbar sein wird. Es ist darum auch sicher, daß der Kreml sich vorderhand mit wohltemperiert freundlichen Worten und Gesten Frankreich gegenüber begnügen, sonst aber einstweilen eine abwartende Haltung einnehmen wird.

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