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Keine Illusionen

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Nun machen sich freilich viele Franzosen in den sogenannten „gutunterrichteten Kreisen“ — auch diejenigen, die de Gaulles Kampf gegen die amerikanische Hegemonie im Prinzip zustimmen — nicht übertriebene Illusionen über die demonstrative Wirkung der französischsowjetischen Annäherung auf den Westen. Einerseits hält man es für wenig wahrscheinlich, daß die etwas irreale Perspektive enger Bindungen zwischen der Industrie Frankreichs und der der Sowjetunion und der gegenseitigen Erschließung von Absatzmärkten den deutschen Bundeskanzler ernsthaft beunruhigen und ihn zu einer grundlegenden Änderung seiner Orientierung bewegen könnte.

Anderseits ist man sich in Frankreich auch dessen bewußt, daß die Drohung mit einer Umkehrung der Allianzen jetzt kaum noch eine abschreckende Wirkung haben könnte: Man weiß, daß der Kreml in der Bundesrepublik Deutschland einen potentiellen Gegner erblickt, daß er ihm jedoch in Wirklichkeit bei weitem nicht die Bedeutung beimißt, wie man aus beinahe schon traditionell gewordenen Verbal-Attacken schließen könnte. Man glaubt auch, daß der Feind Nummer eins Moskaus längst nicht mehr die Vereinigten Staaten, sondern China ist, das die Sowjets mehr fürchten als die Amerikaner. Die Perspektive einer gemeinsamen Defensivaktion der beiden mächtigsten Exponenten der weißen Rasse gegen den chinesischen Koloß gewinnt immer mehr Gestalt, wenn man es auch für noch nicht angezeigt hält, darüber in aller Öffentlichkeit zu sprechen.

Selbst die französische Linkspresse kann nicht mehr übersehen, daß sich Moskau heute nicht nur mit der Anwesenheit der USA in Europa, sondern sogar mit der NATO abfindet. Freilich löst die Tatsache, daß die Sowjets, ohne ernsthaft zu reagieren, massive Luftangriffe der Amerikaner gegen ein kommunistisches Land dulden, in gewissen französischen Kreisen Besorgnisse aus. Sie fürchten, daß unter dem Druck der chinesischen Gefahr Moskau den Amerikanern bald so viel Handlungsfreiheit einräumen könnte, daß sie ermutigt würden, gleichwo in der Welt militärisch zu intervenieren. Ob Couve de Murville in diesem Sinne — wie in Paris unterstellt wurde — im Kreml vorstellig geworden ist, mag dahingestellt bleiben. Dagegen dürfte als sicher gelten, daß Moskau seine Besorgnisse hinsichtlich einer Mitwirkung Bonns an der nuklearen Kontrolle ausgesprochen und beim französischen Außenminister offene Ohren gefunden hat. Dieses wäre vermutlich kaum anders gewesen, wenn es keine deutsch-französischen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Organisation Europas und der Rolle Washingtons gegeben hätte.

Im Endeffekt dürfte in Moskau keine sensationelle Linienänderung beschlossen worden sein. Die optischdeklamatorische Demonstration wird vermutlich angesichts der realen Weltkonstellation bald verpuffen. Auch die Amerikaner werden sich damit abfinden, daß sie wohl oder übel noch ein Weilchen mit de Gaulle werden leben müssen, dessen Land sie im Falle der Gefahr schon aus ureigensten Sicherheitserwägungen nicht fallenlassen können. Diese uneingestandene Uberzeugung dürfte in den Augen der französischen Regierung das effektive Risiko diplomatischer Husarenritte nach dem Osten auf ein Mindestmaß zurückschrauben. So gesehen, verliert auch die warnende Stimme Francois-Poncets stark an Gewicht, der kürzlich von de Gaulle sagte, er rühme sich seiner Unabhängigkeit, als ob Frankreich nie wieder der Hilfe von dritter Seite bedürfen werde und sich immer mit seinen eigenen Waffen verteidigen könnte.

Der bekannte Publizist Maurice Duverger meinte in diesen Tagen, daß sich der Widerstand des Elysee gegen die Hegemonie der USA als ein Schlag ins Wasser erweisen werde, wenn er nicht die Unterstützung des übrigen Europa finde. Der Widerspruch des Gaullismus liege darin, daß er gerade diejenigen in die Arme der USA stoße, die er der amerikanischen Umschlingung entreißen wolle: Er erreiche nur die Konzentrierung der französischen EWG-Partner um eine Achse Bonn— Washington. Das sei die Achillesferse der gaullistischen Diplomatie. Dem wäre hinzuzufügen, daß das Schreckgespenst einer irrealen Achse Paris—Moskau nur allzu geeignet scheint, diese Entwicklung zu beschleunigen.

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