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Frankreich in Neid, Scham und Trotz

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Jedem einsichtigen Beobachter der französischen Mai-Juni-Krise war klar, daß diese, trotz des gewaltigen gaullistischen Wahlsieges, Kräfte freilegte, die sich später manifestieren würden. Obwohl der Sommer durch die Ereignisse in Mitteleuropa verdunkelt war, tauchte bei den Millionen Ferienhungrigen die Frage auf, in welchem Klima die Herbstarbeit beginnt. Die Zeitungen prophezeiten neue Studentenunruhen und wußten von internationalen Geheimkonferenzen der Junganarchisten zu berichten. In den Studentenvierteln und Fakultätsgebäuden kam es zu erträglichen Zusammenstößen. Die Gewerkschaften schwiegen und beobachteten unmutig das schnelle Ansteigen der Lebenshaihaltungskosten.

Dennoch lauteten die Berichte von der Wirtschaftsfront eher optimistisch. Die Experten rechneten mit einer Beseitigung sämtlicher Folgen des wochenlangen Generalstreiks innerhalb eines Jahres.

Aber es mangelte an Freude und Unbekümmertheit. Ängstlich schielte der Bürger auf das Orakel im Elysėe-Palast, studierte bange die Leitartikel und war mit sich und seiner Umwelt keineswegs zufrieden. Wie angenommen, verstärkte das Regime seinen autoritären Charakter. Der Innenminister drohte den Studenten und Arbeitern schärfste Maßnahmen an, falls diese die mühsam hergestellte öffentliche Ordnung wieder stören würden.

War der gewaltige Stimmenzuwachs der Gaullisten ein echter Vertrauensbeweis oder flüchteten Millionen des Mittelstandes in eine trügerische Sicherheit? Opferten sie die eigene politische Überzeugung zugunsten der Vatergestalt, die alleine einen Damm gegen das drohende Chaos errichtet?

Huldigung der Revolution

Der Staatschef und seine Regierung.”hätten mit Energie die versprochene Reform eingeleitet, Der Unterrichtsminister Edgard Faure legte dem Parlament einen umfassenden Plan zur Restrukturierung der Universitäten und des Unterrichts vor. Seit den Zeiten Napoleons wurde damit erstmalig der Versuch unternommen, die Hochschulen der Gegenwart anzupassen. Ohne Zweifel zeigte der Gesetzesentwurf originelle Ideen. Weite Kreise des Bürgertums betrachteten jedoch das Werk Edgar Faures eher skeptisch. In den Reihen der gaullistischen Partei UDR hatte der Unterrichtsminister vielfältige Angriffe abzuwehren. Der Plan schien gewagt. Er entspricht nicht ganz einem französischen Volkscharakter, der Mutierungen auf evolutionären Wegen vorsieht. Frankreich huldigt dem Mahnen der großen Revolution, aber lehnt jetzt jedes Abenteuer ab.

Uber die geplante Betriebsreform sickerte wenig an die Öffentlichkeit. Es war bekannt, daß General de Gaulle sein ungebrochenes Prestige einsetzte, um eine Lösung abseits des Kapitalismus und Marxismus zu finden. Die Mitbestimmung der Gewerkschaften in den Produktionsstätten sollte gesichert werden. Viele Unternehmer betrachteten die Idee der Regierung als gefährlich und sahen eigene Vorrechte bedroht. Psychologisch höchst ungeschickt tastete der Finanzminister die Erbfolge an, eine geheiligte Vorstellung des mittleren französischen Bürgertums. Die Linksopposition stellt den Gaullismus, Schützer der Monopole und der Kapitalisten, an den Pranger. Sie vergißt, daß der sozialreformerische Zug innerhalb dieser Bewegung mindestens gleich stark ist wie ein konservatives Beharren auf die bisher eingespielte Gesellschaftsordnung. Die UDR erleidet ein ähnliches Schicksal Wie die christlich-demokratische Partei MRP in der Vierten Republik. Beide Parteien beabsichtigten, die erstarrte Gesellschaft aufzulockern, während die Wähler ihre Stimmen abgaben, um Privilegien zu sichern und gegenüber der Linken eine überlieferte bürgerliche Ordnung zu wahren.

Den Bogen überspannt

Die in den Novembertagen ausgebrochene zweite französische Krise kam ebenso überraschend wie die Vorfälle im Frühjahr. Die Besitzer kleiner und mittlerer Kapitalien, aber auch die Hochfinanz — höchst egoistisch eingestellt und nicht bereit, dem Staate zu geben, was ihm zusteht — spekulierten in einem Ausmaß auf die Änderung der europäischen Währungsparitäten., .wie es seit Jahrzehnten kauni der Fall war. Mögen Millionen Francs w-er Und nach der Bonner Währungskonferenz den Weg nach Frankfurt oder Genf genommen haben, handelte es sich doch im letzten um eine politische Krise. Das Vertrauen weiter Finanz- und Wirtschaftskreise zum Regime war erschüttert. Eine sehr labile und reizbare Haltung gegenüber den Plänen der Regierung förderte die rücksichtslose Transferierung der Kapitalien.

Staatschef de Gaulle konnte mit klassischen Methoden versuchen, der Gefahr zu begegnen und sich den Gesetzen eines von ihm stets bekämpften internationalen Währungssystems zu beugen. Seit seinem Machtantritt 1958 und besonders in den letzten zwei Jahren predigte de Gaulle von einer Reform des Abkommens von Bretton-Woods. Für ‘ihn waren die Gold- und Devisen- vorräte, welche Frankreich nach der ‘ gelungenen Währungsreform 1958 angehäuft hatte, eine politische Waffe wie der Aufbau einer autonomen Atomstreitmacht. De Gaulle wollte den Dollar als echte Reservewährung restlos durch eine Golddeckung zu ersetzen. Er dürfte mit diesen Bestrebungen den Bogen überspannt haben.

Eine Rückkehr zum Dirigismus?

Der Staatschef ist nicht ein Mann, der sich einem scheinbar ausweglosen Schicksal ergibt. Mit einer bewundernswerten Standhaftigkeit traf de Gaulle neuerlich und im letzten auf sich alleine gestellt eine politische Entscheidung, deren Tragweite wohl erst in den kommenden Monaten sichtbar wird.

Paris hätte schließlich resignierend die Abwertung der nationalen Währung und damit eine Abwertung des Regimes hingenommen. General de Gaulle konnte sich jedoch mit einer Verminderung seiner Autorität nicht abfinden. So kam es zu einem Entschluß, den de Gaulle in der Tradition großer Stunden der Nation am Sonntag, dem 24. November, mitteilte. Frankreich will die Schlacht um den Franc ebenso gewinnen wie nach dem 18. Juni 1940 den Kampf um die Freiheit des Landes. Wie immer man das historische Wirken de Gaulles beurteilen mag, verdient diese feste Haltung die Bewunderung aller Bürger, die im Staate einen besonderen Ausdruck sehen. General de Gaulle ist sich selbst und seinem Ruf treu geblieben.

Nachdem er politischen Überlegungen den ersten Platz einräumte, müssen außen- und innenpolitische Vorstellungen über Bord geworfen werden. Die seit Jahren vom Regime bestimmten Optionen stehen zur Diskussion. Der Gaullismus hatte bewußt eine liberale Wirtschaftsordnung gewählt. Die bekannten Fünfjahrespläne paßten sich pragmatisch der wirtschaftlichen Entwicklung an. Nun ist eine Rückkehr zum Dirigismus festzustellen. Autarke Neigungen werden gefördert. Die getroffenen Entscheidungen entsprechen weder im .

Geiste noch im Inhalt den römischen Verträgen der EWG.

Annäherung an die USA

Frankreich hatte Milliarden dem Aufbau einer eigenen Atomstreit- macht gewidmet. Diese „Maginot- Linie des Generals”, wie sie ein bekannter Militärkritiker nannte, vernachlässigte die klassischen Formen der Armee. Die Entwicklung eigener Atomwaffen wird nun weitgehendst gebremst. Frankreich sieht sich gezwungen, die vielgelästerte NATO als wichtigen Garant seiner Sicherheit zu betrachten. An den letzten Manö- vern im Mittelmeer der NATO nahmen bereits wieder französische Kriegsschiffe teil. Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Mächte in der Tschechoslowakei deutete auf eine Bedrohung Europas hin, die jahrelang von der gaullistischen Außenpolitik bestritten worden war. Es ist natürlich, daß sich Frankreich der Vormacht des Westens näherte und sorgfältig die antiamerikanischen Positionen abbaute. Außenminister Debrė besuchte Washington und schuf eine Atmosphäre der offenen Aussprache, wie sie seit langem zwischen den beiden Nationen unbekannt war. Die Verbesserung der Beziehungen mit Washington mußte zwangsläufig auch die starren Fronten gegenüber London auflockern. De Gaulle blockierte den Wunsch Englands, der EWG beizutreten. Erste Anzeichen liegen vor, daß dieses Konzept nicht in vollem Umfange aufrechterhalten wird. Mag Paris lediglich kommerzielle Arrangements zwischen der EWG und Großbritannien vorschlagen, so wurden die gemeinsamen Interessen Englands und Frankreichs in der Währungskrise in Paris akzentuiert, daß die Beobachter hellhörig wurden.

„Ich werte nicht ab”

Diese zweite französische Krise birgt darüber hinaus eine große Gefahr. Die westeuropäische Ordnung nach dem zweiten Weltkrieg beruhte auf einer sorgfältigen Anerkennung eines, wenn auch künstlichen, Gleichgewichtes. Trotz eines beachtlichen Wirtschaftsaufschwunges stellte das geteilte Deutschland für seine Partner keine nennenswerte Bedrohung dar. Man wußte wohl, daß die Bundesrepublik handelspolitisch und finanziell einen bedeutenden Platz beanspruchte. General de Gaulle und seine Ratgeber glaubten trotzdem, in der EWG die politische Führung übernehmen zu können…§ie rechneten mit’der’ Gefügigkeit ‘ ilireV Nachbarn. Die Währungskrise hatte einer verblüfften französischen Öffentlichkeit gezeigt, daß Deutschland in der Welt eine überragende Position innehat, die politische Folgen zeitigen wird. Das bisherige Spiel der Kräfte in der EWG unterliegt nach Ansicht politischer Pariser Kreise einer Revision. Den Franzosen wurden die Grenzen der eigenen nationalen Politik Mar. Neid, Schamgefühl und Trotz beeinflussen das nationale französische Denken.

Wird Deutschland ebenfalls Beschränkungen auf sich nehmen, die selbst eine wirtschaftliche Weltmacht beachtet, um in der Zusammenarbeit der westlichen Nationen keine einseitigen Schwerpunkte herzustellen? Mögen die antideutschen Ressentiments in Frankreich verschwunden sein, können die derzeitigen Umstände manches wieder zerstören, was von Robert Schuman und Adenauer verheißungsvoll eingeleitet wurde. Jedenfalls muß Frankreich eine gleichberechtigte Partnerschaft Bonns viel mehr in Rechnung setzen, als dies in den vergangenen Monaten geschehen war.

General de Gaulle hat mit seinem trotzigen „Ich werte nicht ab” eine neue Situation geschaffen, die mit geänderter Zielsetzung und anderen Methoden zu einer konstruktiven Gemeinschaft der westeuropäischen Völker führen kann oder die Auffächerung in egoistische Nationalstaaten fördert. In diesem Fall würde Europa, endgültig verurteilt, sich der Hegemonie einer der Superweltmächte beugen müssen.

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