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Der Augiasstall gehört ausgemistet

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Die Ära Mitterrand ist zu Ende. Wird der neue Präsident, Jacques Chirac, die längst überfällige Erneuerung der französischen Politik durchführen?

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Die Ära Mitterrand ist zu Ende. Wird der neue Präsident, Jacques Chirac, die längst überfällige Erneuerung der französischen Politik durchführen?

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Eine Abkehr von den traditionellen Grundsätzen der französischen Rechten verkündet Chirac nun bereits seit einem Jahr. Bruch mit der Vergangenheit, scharfe Kritik an der verkalkten französischen Elite, absoluten Vorrang einer sozialen Politik, um die über drei Millionen hoffnungslos Arbeitslosen wieder als arbeitende Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, sind Grundsätze seiner Politik. Mit dieser Haltung hat Chirac einen Teil der traditionellen rechten Wählerschaft vergrämt, die sich im ersten Wahlgang meist für Balladur entschied.

Chirac hatte jedoch den relativ größten Anteil an Wechselwählern für sich gewinnen können; und das stellt in einer Zeit, in der der Anteil der Stammwähler überall schrumpft, wohl ein entscheidendes Kriterium dar. 14 Jahre hat Mitterrand als republikanischer Monarch geherrscht. Die für de Gaulle maßgeschneiderte Verfassung der V. Republik machte es möglich. Doch von Mitterrands Regierungszeit ist nicht viel Gutes zu berichten. Innenpolitisch hat er durch die kritiklose Übernahme des Rea-ganschen Neoliberalismus schon im zweiten Regierungsjahr zwar geholfen, eine bestens funktionierende Exportindustrie aufzubauen, dagegen wurde ein großer Teil der Klein- und

Mittelbetriebe ruiniert, damit ein Arbeitslosenheer von drei Millionen offiziellen plus 1,5 Millionen inoffiziellen Arbeitslosen geschaffen und die Sozialistische Partei in den Abgrund getrieben. Ein weiteres schlimmes Ergebnis seiner Tätigkeit besteht in der Korrumpierung des öffentlichen Lebens, vor allem im Umfeld der Sozialistischen Partei.

Als Mitterrand antrat, wußte man von seiner zweideutigen Vergangenheit, doch es gab in der Linken niemanden von seinem Format, es gab nur quasi-feudale „Barone” mit politischen Herrschaftsgebieten. So hoffte alles auf seine Läuterung als Präsident. Was seine damaligen Wähler wahrhaftig nicht glauben konnten, das war die brutale Vereinnahmung der Macht, fast nach rumänischem Muster. In kürzester Zeit hatte Mitterrand enge Freunde bis hin'zur äußersten Rechten in seinen privaten Herrscherkreis gezogen und seinen Sohn Jean-Christoph in eine strategische Schlüsselstellung manövriert, als Verantwortlichen des Elysees für die lukrativen Beziehungen zu Afrika.

Arg zerzaustes Selbstverständnis

Über Gesetze und demokratische Prinzipien setzte er sich oft souverän hinweg, gleichgültig, ob es jetzt um ein Greenpeace-Schiff ging, das er in Neu-Seeland in die Luft sprengen ließ, um illegale Einsätze seiner per: sönlichen GIGN-Kommandos oder um gesetzwidrige Börsengeschäfte, an denen seine persönlichen Freunde viele Hunderte Millionen Francs verdienten. Wie jedem Herrscher, der sich über ethische Prinzipien hinwegsetzt, lag auch ihm viel daran, die Partei, der er vorstand, auf seinen Weg zu drängen. Immer wieder ließ sich feststellen, daß sozialistische Politiker, die durch Einhaltung ethischer Prinzipien unangenehm auffielen, hinausgeworfen und durch solche ersetzt wurden, die in ihrer Laufbahn zeigten, daß es ihnen auf Ethik nicht so ankäme. Das begann mit Pierre Cot, dem Staatssekretär für Entwicklung und Zusammenarbeit, als er daran ging, 1981 die sein Gebiet betreffenden Wahlversprechen umzusetzen.

Frankreichs und seiner Bürger Selbstverständnis wurden in diesen Jahren arg zerzaust. Die Stellung der „Grande Nation” in der Welt und zuerst in Europa stellt nicht mehr das dar, was sich ein patriotischer Franzose als selbstverständlich erwartet. Aus französischer Vergangenheit hat er das Bewußtsein mitbekommen, Bürger einer Weltmacht zu sein. Allen Mißerfolgen zum Trotz konnte de Gaulle zu Ende des Zweiten Weltkrieges diese Stellung in der ersten Fassung der Neuen Weltordnung mit einem Sitz im Sicherheitsrat und der selbständigen Entwicklung der Atombombe verankern. Doch die mit dem Sieg der Alliierten in Gang gesetzte weltweite Demokratisierung war allen Widersprüchen zum Trotz unaufhaltsam und damit konnten auch die Kolonien endlich nicht mehr gehalten werden, eine bittere Machteinbuße für Frankreich.

Innerhalb Europas hatten Adenauer und de Gaulle sich auf eine Abstimmung der Interessen der beiden Länder geeinigt. Frankreich entwickelte die gemeinsame Politik und Deutschland stand mit seiner wirtschaftlichen Macht brav dahinter. Mit der Implosion der Sowjetunion und dem Fall der Mauer, der Einigung Deutschlands, kurz, in der zweiten Passung der Neuen Weltordnung war die vor 45 Jahren fixierte Vormachtstellung Frankreichs und später als internationaler Vertreter der Achse Paris-Bonn aber nur mehr Fiktion.

Viele Franzosen haben immer noch Schwierigkeiten, ihr Land als nur einen unter mehreren mittleren Staaten zu sehen. Chirac hat vermieden, sich auf diesem Gebiet klar auszudrücken. Er wird versuchen, die Interessen Frankreichs zu verteidigen, wo immer das nötig ist, doch in den nächsten Jahren wird ihn die Arbeit an der überfälligen politischen und wirtschaftlichen Gesundung Frankreichs voll in Anspruch nehmen. Mitterrand war 1981 gegen einen Kandidaten der Rechten gewählt worden, der sich als über die Maßen schäbig korrupt gezeigt hatte. So hatte Gis-card privat Diamantenschatullen von Bokassa erhalten und im Gegenzug dessen lächerliche „Kaiserkrönung” mit staatlichem französischen Geld finanzieren lassen. Mit Mitterrand kamen die Franzosen vom Begen in die Traufe. Doch vor fast zehn Jahren begann der erste „kleine Richter”, wie man Van Ruymbeke und seine Nachfolger vorerst spöttisch apostrophierte, mutig Prozesse gegen korrupte politische Machthaber zu führen.

Zuerst freute sich die Rechte über die Prozesse gegen korrupte Linke, doch die Richter gingen wie in Italien - aber (noch?) nicht in Deutschland und Österreich - in aller Stille weiter in der unabhängigen Anwendung der Gesetze und heute ist man schon so weit, daß prominente rechte ebenso wie linke Politiker, so Michel Noir, der rechtsstehende Bürgermeister von Lyon, zu Gefängnis verurteilt werden und es nun auch schon den Präsidenten von staatlichen Großkonzernen wie Alcatel-Alsthom an den Kragen geht, die in Frankreich zu einer Elite gehören, die stets über dem Gesetz stand. Damit geriet, nach Italien, aber mit weit weniger Aufsehen, auch Frankreich in stürmische Gewässer.

Das System der organisierten politischen und wirtschaftlichen Korruption ist im Wanken. Mit dem italienischen Beispiel vor Augen steht Jacques Chirac vor der Aufgabe, den Augiasstall zu reinigen, ohne das System als solches in Gefahr zu bringen.

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