6775214-1969_19_03.jpg
Digital In Arbeit

Der Sturz eines Giganten

19451960198020002020

Die Meinungsforschungsinstitute hatten am Vorabend des 27. April eine Niederlage de Gaulles in einer Ordnung von 51 Prozent bekanntgegeben. Aber seien wir ehrlich, niemand hat wirklich die Siegeschancen des Staatschefs bezweifelt. Seit elf Jahren beherrschte General de Gaulle souverän seine Nation und spielte in der internationalen Politik eine Rolle, die mit der gegenwärtigen Stellung und industriellen Kapazität eines Landes kaum in Einklang zu bringen war. Seine Politik irritierte, seine Person imponierte! Auch der neugewählte amerikanische Präsident Nixon konnte sich diesem Charisma nicht entziehen und bezeichnete de Gaulle als einen „Giganten der Geschichte“. Mochten auch die Kaufleute protestieren, die Bauern revoltieren, die Arbeiter mit Streiks drohen, die Studenten Barrikaden bauen, er inkarnierte Frankreich und war der unbestrittene Sprecher der Nation, der prophetische Barde von Frankreichs Größe und einmaliger Bedeutung in der Welt.

19451960198020002020

Die Meinungsforschungsinstitute hatten am Vorabend des 27. April eine Niederlage de Gaulles in einer Ordnung von 51 Prozent bekanntgegeben. Aber seien wir ehrlich, niemand hat wirklich die Siegeschancen des Staatschefs bezweifelt. Seit elf Jahren beherrschte General de Gaulle souverän seine Nation und spielte in der internationalen Politik eine Rolle, die mit der gegenwärtigen Stellung und industriellen Kapazität eines Landes kaum in Einklang zu bringen war. Seine Politik irritierte, seine Person imponierte! Auch der neugewählte amerikanische Präsident Nixon konnte sich diesem Charisma nicht entziehen und bezeichnete de Gaulle als einen „Giganten der Geschichte“. Mochten auch die Kaufleute protestieren, die Bauern revoltieren, die Arbeiter mit Streiks drohen, die Studenten Barrikaden bauen, er inkarnierte Frankreich und war der unbestrittene Sprecher der Nation, der prophetische Barde von Frankreichs Größe und einmaliger Bedeutung in der Welt.

Werbung
Werbung
Werbung

Am 27. April gegen 20.45 Uhr wußten es bereits die Elektronengehirne, daß die Wähler dein Staatschef das Vertrauen entzogen hatten. Mit einer beachtlichen Stimmenmehrheit

wurde der Befreier der Jahre 1940 bis 1944, Schöpfer der V. Republik, in die Einsamkeit eines kleinen lothringischen Dorfes zurückgeschickt. Wie ist diese Nation undankbar, klagen und jammern die gaullistischen Parteigänger, die einfach nicht glauben wollen, daß de Gaulle durch den simplen Vorgang eines Referendums gestürzt wurde.

„Dieses Referendum wurde uns aufgezwungen“, kommentierten seit Wochen durchaus vernünftige Publizisten, Abgeordnete und Parteifunktionäre. Die gaullistische Sammel-partei UDV besaß im Parlament die umfassendste Mehrheit, die jemals eine Partei aufzuzeigen hatte, seitdem Frankreich Republik geworden war. Es wäre also vernünftig gewesen, der Kammer eine derartig diffizile Materie vorzulegen, wie es die Regioraalisierung an sich schon bedeutet. Schließlich wurde das Orien-tieruhgesetz hinsichtlich einer Rehorn*-der -Universitäten leääglids vom Parlament votiert. Frankreich war im Mai/Juni sowie im November 1968 so tief erschüttert worden, daß eine Epoche der Ruhe und Gesundung durchaus notwendig erschien. Aber de Gaulle hatte die Explosion des vergangenen Jahres als Herausforderung empfunden und den gewaltigen Wahlsieg des Juni 1968 nicht in einen persönlichen Erfolg umgemünzt. Der damalige Ministerpräsident Pompidou mußte seine ganze Uberredungskraft aufwenden, um vom Staatschef die Auflösung der Kammer und die Ausschreibung von Neuwahlen zu erzwingen. Ohne Zweifel ist damals eine Trübung der Beziehungen zwischen den beiden Männern eingetreten. Pompidou wurde in die „Reserve der Nation“ versetzt, und General de Gaulle dachte daran, sich durch eine Volksweihe die endgültige Bestätigung der Alleinherrschaft zu verschaffen. Der General hat niemals den parlamentarischen Mechanismus geliebt. Sein individueller Regierungsstil kennzeichnete sich durch plebiszdtäre Referenden, in denen er die Nation aufforderte, ihm die absolute Verantwortung zu übertragen. Er wollte sein Lebenswerk durch eine grundlegende Modernisierung des Staates krönen und seinen Namen ebenso in der Nation verankern, wie es Napoleon durch seinen Code getan hatte.

Der von seinen Ratgebern ausgearbeitete Gesetzestext war höchst undurchsichtig. Die maebenden Juristen des Staatsrates konnten diesen -Vorschlägen nicht die Sanktionen erteilen. Das Zweikammersystem gehört in Frankreich zu einer traditionellen und geheüigten Einrichtung. Der Senat sollte nach den Vorstellungen de Gaulles restlos entmachtet werden. Der neugebildete Ständerat hätte keine wie immer geartete legi-stische Funktion zu erfüllen gehabt. Es stimmt, daß der Senat mehrheitlich antigaullistisch eingestellt war. Aber die Senatoren waren in den Landbezirken persönlich besser vertreten, als es die eifrigen Parteigänger der Gauillisten wahrhaben wollten. Die Verfassungsänderung hätte dem Staatschef zusätzlich weitreichende Vollmachten verliehen. Natürlich wünschte de Gaulle von diesen neuen Prärogativen nicht mehr Gebrauch au machen als bisher. Aber zahlreiche Wähler fürchteten instinktiv, daß die linke Opposition, verstärkt durch die Kommunisten, mit Hilfe einer Zufallsmehiv heit im Parlament einen kalten Staatsstreich versuchen könnte. Der Wahlkampf begann in Indifferenz, und die Bürger schienen von der Propagandaflut wenig beeinflußt zu sein. Im Gegenteil, man gewann des öfteren den Eindruck, daß die Leute von der Regierung eine Beschäftigung mit den täglichen Problemen vorzögen.

Die linke Opposition hatte seit Juni 1968 nur einen Gedanken: die schwere Wahlniederlage zumindest teilweise zu korrigieren. Aber es boten sich geringe Ansätze, um diese Wünsche zu realisieren. Die neue Sozialdemokratische Partei ver-mcÄeK&iffifikaum richtig zuentwickeln.- • “Die- -demctoattsche' -/ 'und sozialistische 'Föderation MiWerränds war zerbrochen. Die Kommunisten kehrten zu einem stalinistischen System ihrer politischen Arbeit zurück, und die Gemeinschaft SFIO mit der KP wurde problematischer. De Gaulle und seine Männer hatten seit Jahren die Wahlkämpfe unter dem Kennwort „Ich oder das Chaos“ geführt. Dieser Slogan erzielte auch bisher eine beachtliche Wirkung. Kultusminister Malraux hatte noch im April dieses Jahres in Straßburg seine bekannte Feststellung feierlich wiederholt: „In Frankreich gibt es zwei Mächte: wir und die Kommunisten.“ Weder de Gaj.ille noch die Funktionäre der UDV hatten ein Phänomen beachtet, das in den letzten Wochen entscheidend wurde. Die G'dullisten <und die Kommunisten waren überzeugt, daß ein atomisier-tes Zentrum keine politische Anziehungskraft ausstrahle. Nun ist Frankreich ein Land, das ständig vom Zentrum regiert wurde. Einmal standen die Aspekte links, dann wieder rechts, aber die Koalition zwischen Unabhängigen, christlichen Demokraten und Radikalsozialisten gehörte zu den feststehenden Praktiken der II. und IV. Republik. Der Gaullismus hat diese politische Familie vorübergehend aufgesogen. Durch die historische Persönlichkeit des Staatschefs wurde die Existenz des Zentrums überdeckt. Die jungen Männer des Zentrums, wie Lecanuet und Duhame, vermochten systematisch den Aufbau einer renovierten politischen Mitte voranzutreiben.

Es ist bemerkenswert, daß am 27. April jene 17 bis 19 Prozent der Zentrumswähler den Gaullismus verließen und sich neuerlich an alte Bindungen erinnerten. Zusätzlich konnte die rechte Mitte mit einer maßgebenden Unterstützung rechnen. Der langjährige Finanzminister de Gaulles und Chef der zur Mehrheit gehörenden unabhängigen Republikaner, Giscard d'Estaing, verkündete in ebenso würdiger wie nachdrücklicher Form, daß er entsprechend seines Gewissens mit Nein stimmen müsse. Über diesen Entschluß spalteten sich die unabhängigen Republikaner. Während die Parteiorganisation zu Giscard d'Estaing stand, blieben die Minister und Abgeordneten mehrheitlich de Gaulle treu. Aber Giscard d'Estaing ist das Sprachrohr junger liberaler Wirtschaftskreise. Diese lehnen die starre Planwirtschaft der Gaullisten ab und betrachten die weitreichenden Sozialisierungsbestre-bungen der Linksgaullisten unter Leitung des Finanzministers Capi-tant mit echter Sorge und beachtlichem Mißtrauen. Dieses erneuerte Zentrum hat in der Person des christlichen Demokraten und Sen'ats-Präsidenten Alain Pober einen geeigneten und maßvollen Sprecher gefunden. Wir glauben, daß Alain Poher gegenüber den Gaullisten dieselbe Aufgabe übernommen hat, die dem Retter des Franc, dem „Mann mit dem kleinen Hütchen“, Pinay, in der IV. Republik zugekommen ist.

Alain Poher ist kein Volkstribun, keine geschichtlich gewachsene Persönlichkeit, die in der Einsamkeit des Genies planetarischen Problemen nachhängt. Der Senatspräsident ist der glückliche Typ jenes mittleren Franzosen, der in der Wärme seiner Familie in vorzüglicher Weise den Vater und Großvater verkörpert. Ein solcher Mann geht lieber am Sonntag an die Seine angeln, als Massen im Sportpalast anzufeuern. Das unerwartete Auftauchen Pohers, in dem sich zahlreiche Franzosen wiedererkannten, gehört zu den eigenartigsten Erscheinungen dieses an Zwischenfällen reichen Wahlkampfes. Fast meint man, Frankreich sei der allzu großen Glorie, der weltpolitischen Pflichten müde geworden, die der General der Nation aufbürdete. Wie sagten die revoltierenden Bauern 1967: Zuerst die Bretagne und dann Quebec. Natürlich schätzt eine Nation, die einen Ludwig XIV. und einen Napoleon hervorgebracht hat, den Gl'anz seines Regimes und das Prestige des ersten Staatsbürgers. Aber zuviel Ruhm mag manchmal bedrücken. Wenn die Alternative gestellt wurde: hier der glorreiche Befreier de Gaulle, dort der einfache Bürger Alain Poher, wird da nicht der eine oder andere Franzose nachdenklich?

Mit General de Gaulle verläßt ohne Zweifel eine historische Persönlichkeit ersten Ranges die internationale Szene. Die Auswirkungen auf die Innen- und Außenpolitik sind vorläufig nicht abzusehen. Entsprechend dei gültigen Verfassung des Jahres 1958, übernimmt der Senatispräsident die interimistische Leitung des Staates. Im stehen alle Vorrechte dieses hohen Amtes zur Verfügung. Er kann allerdings kein Referendum organisieren oder die Kammer auflösen. Nach 30 Tagen muß ein neuer Präsident gewählt werden. In den politisch informierten Kreisen werden momentan zwei Namen kolportiert: Georges Pompidou und Alain Poher. Letzterer hat bereits die Unterstützung der Sozialisten gefunden. Die Präsidentschaftswahl erfolgt in zwei Perioden, wobei in der ersten die absolute und in der zweiten die relative Mehrheit erforderlich ist. Sicherlich haben die Gaullisten im Referendum, das sie gerne als ersten Wahlgang einer Präsidentschaftswahl bezeichnen, mehr Stimmen erhalten als de Gaulle 1965. Der Wahlarithimetik entsprechend und unter Berücksichtigung des derzeitigen politischen Klimas, kann Pompidou als Favorit 'angesprochen werden. Der frühere Ministerpräsident mag ein jahrzehntelanger Mitarbeiter des Generals gewesen sein, der Regieriungsstil Pompidous wird sich jedoch in vielen Nuancen von dem seines Vorgängers unterscheiden. Man darf daher mit Recht behaupten, daß die V. Republik in der seit 1958 errichteten autoritären Form am 27. April 1969 ihr Ende gefunden hat. Wir stehen vor einer einmaligen historischen Wandlung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung