6832546-1974_47_06.jpg
Digital In Arbeit

Die Partei ohne Vater

19451960198020002020

Der Herbst 1974 stand in Frankreich ohne Zweifel im Schatten der Linksparteien. Auf einer großen Tagung trafen sich zuerst alle wesentlichen Elemente eines nicht-kommunistischen Sozialismus, um die Basis der Sozialistischen Partei zu erweitern. Die Kommunistische Partei wiederum hielt einen außerordentlichen Kongreß ab, und verstand es vorzüglich, die Massenmedien zu mobilisieren und zu meistern. Der Beobachter konnte manchmal den Eindruck gewinnen, die V. Republik sei bereits fest in den Händen der linken Union. Fast nur am Rande wurde die Entwicklung innerhalb der regierenden Mehrheit, und da wieder bei den Gaullisten registriert.

19451960198020002020

Der Herbst 1974 stand in Frankreich ohne Zweifel im Schatten der Linksparteien. Auf einer großen Tagung trafen sich zuerst alle wesentlichen Elemente eines nicht-kommunistischen Sozialismus, um die Basis der Sozialistischen Partei zu erweitern. Die Kommunistische Partei wiederum hielt einen außerordentlichen Kongreß ab, und verstand es vorzüglich, die Massenmedien zu mobilisieren und zu meistern. Der Beobachter konnte manchmal den Eindruck gewinnen, die V. Republik sei bereits fest in den Händen der linken Union. Fast nur am Rande wurde die Entwicklung innerhalb der regierenden Mehrheit, und da wieder bei den Gaullisten registriert.

Werbung
Werbung
Werbung

Seit den Präsidentschaf tswahlen war die UDR, nach wie vor im Parlament die stärkste Fraktion, von einer Art Trauma befallen. Mehr als einmal wurde orakelt, daß die gaullistische Sammelpartei am Zerfallen sei. Die Zersetzungserscheinungen an der Peripherie können natürlich nicht bestritten werden. Trotzdem hat der Kern der Partei allen Versuchungen, in eine sterile Oppositionsrolle abzugleiten, entschieden standgeihalten. Ende Oktober empfing ider Staatspräsident die maßgebenden parlamentarischen Repräsentantendes Gaullismus. Die Zusammenarbeit zwischen der Obersten Staatsführung und der UDR dürfte somit für die nächste Zeit gesichert sein. Rein arithmetisch gesehen, ist die Majorität auf die Unterstützung der Gaullisten angewiesen. Da Giscard d’Estaäng, allen Informationen zufolge, den Gedanken an Neuwahlen strikt ablehnt — Legislativwahlen würden im derzeitigen politischen Klima möglicherweise mit einem Sieg- der linken Union enden — ist er daran interessiert, jede Art von Fronde innerhalb der UDR zu bannen. Nachdem diese Partei in den nächsten Monaten die Hauptlast der parlamentarischen Diskussionen für die Regierung zu tragen hat, dürfte es wohl angebracht sein, sich mit Gegenwart und-Zukunft der gaullistischen Bewegung, einem besonderen Phänomen der französischen Innenpolitik, auseinandersetzen.

Wir sagen „Gaullismus“ und denken an die Sammedpartei UDR, die das Erbe des Gründers der V. Republik und seine politischen Optionen pflegt. Dabei sei nicht vergessen, daß zahlreiche Gruppen, Grüppchen und Zirkel den Namen Gaullismus in. Anspruch nehmen und sich als die orthodoxen Verfechter dieses Staatsund Gesellschaftskonzepts ansahen. So könnte man seit dem Entstehen der V. Republik jederzeit von einem Linksgaullismus sprechen, der ein gewisses Vorbild in der schwedischen oder deutschen Sozialdemokratie gefunden hatte. Ein kleinerer Verband, der sich die „Progressive Front“ nennt, ohne beachtenswerten Einfluß auf die Wähler, hat sich schon vor den Präsddentscbaftswahlen entschieden von der Mehrheit distanziert und rückte in die Front der Linken ein. Georges Marchais, Generalsekretär der Kommunistischen Partei, hat mehrfach, und besonders nachdrücklich in der Nacht nach dem ersten Wahlgamg im Mai 1974, die Gaull’isten eingeladen, sich mit Sozialisten. und Kommunisten zu verbünden. Diese- Sirenen töne haben die gaullistischen Massen — immerhin zählt die UDR 225.000 Mitglieder — nicht in das gelobte Land des Sozialismus führen können. Abgesehen von der „Progressiven Front“ hat lediglich der Jugendverband der UDR, die UJP (Union des Jeunes pour le Progrės) den Rubicon überschritten, sich im Oktober 74 zur selbständigen Organisation erklärt und Gespräche mit der kommunistischen Jugendbewegung aufgenommen, die sich jedoch bisher nicht in eine organisierte Zusammenarbeit verwandelten. Die UJP hat im Rahmen der Gesamtpartei nie eine besondere politische Rolle gespielt. Es sind auch aus ähren Reihen keine Persönlichkeiten hervörgegangen, die später in der eigentlichen Parteiführung, im Parlament oder in der staatlichen Verwaltung, also den Kabinetten, ausschlaggebend gewesen wären. Der Nachwuchs wurde seit 1958 im wesentlichen den genannten Mitarbeiterstäben der gaullistischen

:.3s:ssr.-j_

Minister und Staatssekretäre entnommen. Die UJP war ein Forum, das den gaullistischen Würdenträgern dazu diente, ihre Thesen der Öffentlichkeit vorzutragen, gewissermaßen eine Geräuschkulisse, die sich in Wahlkämpfen für die Plakatanschläge einsetzte, aber, wie dies auch bei anderen konservativen und christlich-demokratischen Parteien der Fall ist, sie blieb eine marginale Organisation. Sie vermeldet 32.000 Mitglieder, was für eine politische Jugendbewegung in Frankreich keineswegs schlecht ist. Der Gründer und langjährige Präsident der UJP, Robert Grossmann, dem ebenfalls der Sprung in die große Politik nicht gelungen ist, hat nach der Autono- mieerklärung seines Verbandes ein Konkurrenzunternehmen ins Beben gerufen, das Ministerpräsident Chirac unterstützen soll. Es wäre verfrüht, diese Gründung mit Prognosen über ihren Erfolg auszustatten. Die UJP hat sich mit dem früheren Minister Gharbonnel solidarisch erklärt, der ebenfalls mit der Linken flirtet und die Bildung einer eigenen gaullistischen Partei ins Auge faßt, ohne den letzten Schritt gewagt zu haben.

Für die Gesamtpartei viel gefährlicher dürfte die Aktion des letzten Außenministers Georges Pompidous sein, -der seit Wochen Frankreich dunhpilgert und unzählige Interviews gibt, aber seine politischen Gedanken bisher noch nicht klar formuliert hat. Michel Jobert will sich weder rechts noch links einstufen lassen und betont feierlich, er sei „anders“. Er kann mit 30 Prozent Sympathisierender innerhalb der UDR rechnen. In den letzten Wochen sind spontan zahlreiche Jöbert-Ko- mitėes in verschiedenen Städten gebildet worden und die Parteileitung beobachtet diese Initiativen mit Nervosität und Unzufriedenheit. Das große Rätselraten um die eigentlichen Ziele des Exaußenministers wird höchstwahrscheinlich noch mehrere Monate dauern.

So richtet sich das Scheinwerfer- licht auf die Hauptpartei und ihre gegenwärtige Situation. Die UDR hat in ihrer Geschichte noch keinen Parteipräsidenten gestellt. Seit der In- staurierung der V. Republik war der jeweilige Ministerpräsident Chef der gesamten Mehrheit und bediente sich in erster Linie des relativ gutfunk- tionierenden Parteiapparates der UDR, um die Wahlen zu schlagen. Die Kandidaten wurden nicht in Regional- oder Parteikongressen designiert, sondern fast ausschließlich in den Böros. des Elysee-Palastes. Dort beherrschten eine oder zwei graue Eminenzen die Personalpolitik des Regimes. Die administrative Arbeit oblag dem jeweiligen Generalsekretär, einmal sogar einem Team von mehreren hohen Parteifunktionären, die sich die Agenden des Generalsekretariats ressortmäßig aufgeteilt hatten. Die eigentliche Macht innerhalb der Partei kam den sogenannten „Baronen“ des Gaullismus zu, den engsten Weggefährten und Vertrauten des Generals. Zu diesem Kreis zählten der erste Ministerpräsident der V. Republik Michel Debrė, der Bürgermeister von Bordeaux Cha- ban-Delmas und, nicht zu vergessen, der Exminister Olivier Guichard, der in diesen Monaten das größte Prestige unter den Baronen genießt und sich als zukünftiger Parteipräsident in Erinnerung bringt. Er konnte in einer Nachwahl Ende September 1974 im ersten Wahlgang sein Abgeordnetenmandat relativ triumphierend wiedergewinnen und gründete Ende Oktober den „Klub der Sechzehn“, worunter die 16 Jahre der gaullistischen Herrschaft in Frankreich zu verstehen sind. Diese Mobilisierung hoher Technokraten, einflußreicher Beamter, bekannter Financiers, Wirtschafts- und Außen- politikexperten wird den „Baron“ Olivier Guichard als eine Art Hausmacht beraten und unterstützen. Der Exminister kann für sich beanspruchen, in der Partei einen Einfluß auszuüben, der, weit über den „Klub der Sechzehn“ hinausgeht. Allerdings muß er mit einem Rivalen in der Person Chaban-Delmas’ rechnen, der in den Kulissen die Niederlage dieses Jahres zu vergessen scheint und gleichfalls das höchste Amt in der Partei anstrebt. Wägt man den Ausstrahlungsradius der »beiden Politiker ab, so muß man Olivier Guichard die weitaus größeren Chancen einräumen.

Wurde die Einheit der Partei nach den schweren Erschütterungen der verlorenen Präsidentschaftswahlen gerettet, so ist dies ein Verdienst ihres gegenwärtigen Generalsekretärs Alexandre Sanguinetti. Diese Condottiere-FAgur hat in den entscheidenden Monaten nach dem 19. Mai die UDR fest in die neue Mehrheit eingebaut. Er ging allerdings sehr autoritär vor, schuf sich zahlreiche Gegner und seine einsamen Entschlüsse und Erklärungen wurden nicht immer von den höchsten Parteiinstanzen gelbilligt. Weiterhin, und diese Tatsache stößt verschiedentlich auf Ablehnung, hat

Alexandre Sanguinetti den Einfluß des Ministerpräsidenten Chirac untermauert, der niemals zu den Baronen des Gaullismus zählte, sondern ein Geschöpf Pompidous ist. Die Regierung hat höchst geschickt einen früheren Generalsekretär der Partei, Renė Tomasini, ala Staatssekretär für die Beziehungen zum Parlament, in Wirklichkeit für die Relation zur UDR, ernannt. Im Fahrwasser To- masinis segelt die umstrittene Marie- France Garaud, die im Elysėe-Palast unter Pompidou das gute und schlechte Wetter im gaullistischen Lager vorfabrizierte.

Damit kommen wir zur Position des gegenwärtigen Ministerpräsidenten innerhalb der Partei. Jaques Chirac hatte bereits vor dem ersten Wahlgang vom Mai 1974 mit anderen Abgeordneten offen Partei für Giscard d’Estaing ergriffen und den eigenen offiziösen Kandidaten Chaban-Delmas desavouiert. Diese Haltung ‘wurde ihm anfänglich als Verrat angekreidet und es gehörte viel taktisches Geschick dazu, um das verlorene Terrain innerhalb der UDR wiederzugewinnen. Auf den verschiedenen Tagungen der Paria- mentsgruppe und der Exekutivorgane der Partei tauchte der Ministerpräsident regelmäßig auf, war einer der Treuesten im Saal und hat sicherlich diese Partei in den Griff bekommen. Der letzte Versuch Chaban-Delmas’, den Ministerpräsidenten aus dem Exekutivkomitee zu drängen, indem er de jure dank seiner Funktion zu sitzen hat, ist gescheitert. Die Charme-Offensive Chiracs ist vorläufig abgeschlossen und die Partei steht dem Ministerpräsidenten, sehen wir von den oben angeführten Absprümgen ab, durchaus zur Verfügung. Mitte Dezember wird das Zentralkomitee endgültige Entscheidungen über die Zukunft dieser Bewegung fällen. Ein neuer Name soll gefunden, eventuell ein Präsident ernannt und der Generalsekretär nicht mehr vom Zentralkomitee, sondern vom Nationalrat der Partei gewählt werden, der sich aus sämtlichen Parlamentariern und aus gewählten Delegierten aller Regionalorganisationen zusammensetzt und 800 Personen umfaßt.

Alle Beobachter sind sich darüber einig, daß die UDR den Tiefpunkt des Frühjahrs überwunden hat und nach wie vor ein wesentlicher Faktor der Innenpolitik und die einzige Massenpartei bleitot, auf die sich das Regime stützten kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung