6789279-1970_28_07.jpg
Digital In Arbeit

Die Garde murrt

19451960198020002020

Sie war die Elitetruppe Napoleons, zeichnete sich auf allen Schlachtfeldern Europas aus, murrte aber mehr als einmal über die Befehle und die schlechten Lebensbedingungen. Trotzdem waren diese Soldaten stolz, dem Kaiser zu dienen, und zeigten sich jederzeit bereit, für ihn das Leben zu lassen. Auch General de Gaulle hatte sich mit einer solchen Garde umgeben, es war die nach ihm benannte Partei, die bedingungslos die Richtigkeit aller Entschlüsse des Staatschefs bejahte. Sobald der Fraktionsvorsitzende den gaullistischen Parlamentariern mitteilte, er sei eben im Elysee-Palast empfangen werden, verstummte sofort die geringste Neigung, zu frondieren.

19451960198020002020

Sie war die Elitetruppe Napoleons, zeichnete sich auf allen Schlachtfeldern Europas aus, murrte aber mehr als einmal über die Befehle und die schlechten Lebensbedingungen. Trotzdem waren diese Soldaten stolz, dem Kaiser zu dienen, und zeigten sich jederzeit bereit, für ihn das Leben zu lassen. Auch General de Gaulle hatte sich mit einer solchen Garde umgeben, es war die nach ihm benannte Partei, die bedingungslos die Richtigkeit aller Entschlüsse des Staatschefs bejahte. Sobald der Fraktionsvorsitzende den gaullistischen Parlamentariern mitteilte, er sei eben im Elysee-Palast empfangen werden, verstummte sofort die geringste Neigung, zu frondieren.

Werbung
Werbung
Werbung

Seit dem Amtsantritt Pompidous ist es anders geworden. Das „Parlament im Parlament“ beginnt recht heftig die oberste Staatsführung anzuklagen und dem Ministerpräsidenten Abweichungen von der rein orthodoxgaullistischen Linie vorzuwerfen. Die 285 Abgeordneten der UDR, die im Juni 1968 als Stütze der Ordnung gegen die „Wilden“ des Quartier latin gewählt wurden, bilden nun nicht jene Einheit, die es ermöglichen würde, eine kohärente Politik zu entwickeln. Vierzig von ihnen begründeten eine Art Traditionsverband „Gegenwart des Gaullismus“ und fanden im früheren Armeeminister Messmer, dem Exunterrichtsmini-ster Fouchet und dem Schwager General de Gaulles, Jacques Ven-droux, die ehrfürchtigen und intran-sigenten Hüter des gaullistischen Erbes. Eine andere Gruppe scharte sich um den ehemaligen Ministerpräsidenten der IV. Republik, Edgar Faure, letzter Unterrichtsminister Couve de Murvüles. Obwohl auch hier ein Freundeskreis unter dem Namen „Für einen neuen Sozialvertrag“ Profil gewinnt, hält sich Edgar Faure diskret in der nationalen Reserve. Einen Sonderfall stellt der Armeeminister Debre dar, der die Optionen des gaullistischen Systems gegenüber dem Staatspräsidenten und der Öffentlichkeit repräsentiert. Seine Warnung, die Einrichtungen der V. Republik aufrechtzuerhalten, findet gerade in den letzten Wochen die Unterstützung der Fraktionsmitglieder und der Partei, die sich — so eigenartig es klingen mag — trotz oder gerade ihrer Größe wegen in ein Verteidiguingsreduit einigelt. Dem Ministerpräsidenten Chaban-Delmas wird vorgeworfen, zu wenig die Werte und Tugenden der gaullistischen Altgardisten anzuerkennen. Um so eher folge er den Ratschlägen seiner engsten Umgebung — ehemalige Technokraten des linksgerichteten Ministerpräsidenten Mendes-France.

Einigen Anklagen der parlamentarischen Fraktion der UDR muß man, mit dem Blick auf die Verteilung der politischen Gewalten in Frankreich, recht geben. Seitdem General de Gaulle Partei und Parlament eine untergeordnete Rolle zuteilte, sind diese Instrumente des öffentlichen Lebens aus ihrem Winterschlaf nicht erwacht. Die Verantwortung, auch in nebensächlichen Dingen, wird von der hohen Bürokratie getragen, wobei einzelne Minister, wie Debre, Giscard d'Estaing und der Bautenminister Chalandon, dank ihrer hervorragenden Persönlichkeit eine eigene Entscheidungsmacht ausüben. Dem Kabinett des Ministerpräsidenten steht ein beachtlicher Einfluß zu, da Chaban-Delmas in Budget- und politischen Fragen ein Schiedsrichteramt einniirnmt und entsprechend seinem Charakter des öfteren autoritär durchgreift. Im Elysee-Palast hat sich im Gegensatz zur gaullistischen Ära ein nur kleiner Stab versammelt, dem nicht die gleiche Aufgabe zukommt wie seinerzeit dem gaullistischen Schattenkabinett, das jenseits der Ministerien Fragen der Außen-, Verteidigungs- und Kolonialpolitik bearbeitete. Anläßlich der Vorbereitung für den V. Plan (1971 bis 1975) schalteten sich jedoch der Staatspräsident und sein Generalsekretär Michel Jobert in die Vorbesprechungen ein und pflegten direkten Kontakt zum Wissenschaftsminister Francois Ortoli, der als Vertrauensmann Pompidous im Kabinett angesehen wird. Ortoli gehört seit langem zum Stall Pompidous und beansprucht gegenwärtig dieselbe Position wie Messmer oder Couve de Murville zu Zeiten de Gaulles.

Im Frühjahr dieses Jahres hatte Staatsminister Frey eine weitere Öffnung der Mehrheit angekündigt und zahlreiche ehrwürdige Gaullisten gekränkt. Diese wollten nicht einsehen, warum man sogar an die Mitarbeit sozialistischer Kreise denkt. Natürlich wissen die gereizten Abgeordneten, daß ihre politischen Schicksale auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet sind. Das Wunder des Juni 1968 würde sich unter Berücksichtigung der Analysen aller Nachwahlen keinesfalls wiederholen. Die Gaullisten sind von einem Alptraum befangen: Würde es einer Partei oder Persönlichkeit gelingen, die Millionen Wähler zwischen UDR und Kommunisten zu mobilisieren? Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, ist der ungeschickte Einsatz der Regierung in Nancy zu erklären, der gegen den Willen des Ministerpräsidenten, aber auf Wunsch Pompidous und der Mehrheit der Fraktion erfolgte. Der Nationalrat der UDR hatte sich zwischen dem Kongreß der Sozialisten und dem Parteitag der PSU in Versailles zu einer Tagung zusammengefunden (25. bis 27. Juni), um einen neuen politischen Ausgangspunkt zu finden und die Malaise in den eigenen Reihen abzureagieren. In der Regel wurden auf dieser Konferenz äußere Elemente angeklagt, so das böse Fernsehen, das dem machtgierigen Servan-Schreiber zu Publizität verholten habe, oder die obskure Bürokratie, die jeder Verantwortung ausweiche und die Gesellschaftsordnung der Gaullisten torpediere. Aber die massiven Vorwürfe gegen die externen Gegner konnten nicht verhindern, daß einzelne weitblickende Funktionäre und Abgeordnete mit einer Gewissenserforschung einsetzten und mit der scharfen Sonde am eigenen Leib hantierten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung