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Wenn drunten in der Türkei…

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Wenn drunten, weit in der Türkei, zwar nicht die Völker, doch die drei oder vier wichtigsten politischen Gruppen aufeinanderschlagen, dann bildet das weit seltener den Gesprächsstoff der friedlich einherspazierenden mitteleuropäischen Bürger als zur Zeit Goethes oder des Dr. Faust. Nun gibt man sich in breiten Kreisen keine Rechenschaft davon, daß es in der Türkei nicht etwa einzig um eine Auseinandersetzung zwischen zwei politischen Parteien — mißgünstige Kritiker sagen: Interessentengruppen,

Klüngel, Cliquen — sich dreht oder um ein Tauziehen zwischen Anhängern westlicher Formaldemokratie und Befürwortern einer faktisch autoritären Scheindemokratie, sondern um ein Ringen zwischen den Verfechtern einer west- und mitteleuropäischen Mustern getreuen Ordnung einerseits, den in die Bahnen der dem Westen bitter feindlichen mit dem afro-asiatischen Neutralismus einlenkenden radikalen Umstürzlern anderseits.

Die Herrschaft des Offiziersausschusses von erst 48, dann 3 8 Mitgliedern war, schon wenige Tage nach seiner Einsetzung, eine Kette von heftigen Konflikten zwischen den beiden in dieser höchsten Behörde miteinander rivalisierenden Richtungen, bald auch von zähen, doch unblutigen Kämpfen mit einem beträchtlichen Teil der dem Umschwung feindlichen Sphären. Die Zwistigkeiten im Schöße cjer regierenden Gruppe kamen erstmals offen bei einer Kabinettsrekonstruktion im August 1960 öffentlich zum Ausdruck. Sie führten bei Herbstbeginn zu einem Erfolg Gürsels und der Gemäßigten, als Oberst Türke? seines Amtes enthoben wurde, zu nächst freilich im Komitee verblieb. Im Laufe des Monats Oktober waren die Radikalen jedoch imstande, scharfe Maßnahmen gegen einen der beiden Eckpfeiler des neuen Kurses durchzusetzen, wider die Universität, deren Professoren und Studenten. Diese überzeugten Anhänger einer echten Demokratie westlicher Färbung hatten sich nicht darum, sogar unter blutigen Opfern, gegen Bayar und Men- deres erhoben, um hernach unter die Fuchtel einer Militärdiktatur zu geraten. Sie drängten den Nationalausschuß, seine anfänglichen Versprechen zu verwirklichen und so bald wie möglich einem frei gewählten Parlament Platz zu machen.

Der „lange Weg“

Ursprünglich hatte man damit gerechnet, noch im Sommer eine neue Verfassung und hierauf eine Volks Vertretung zu bekommen. Eine Anzahl bedeutender Rechtsgelehrter, mit dem siebzigjährigen berühmten Juristen und Rektor der Universität von Istanbul Sadyk Sami Onar an der Spitze, arbeitete den Entwurf einer Konstitution aus, der am 18. Oktober dem Offiziersausschuß überreicht wurde.

Den jüngeren, radikalen Offizieren gefiel der Professorenentwurf, ungeachtet seiner Anpassungsbestrebungen, sehr übel. Sie hatten überhaupt genug von den gelehrten „Reaktionären“, die sich an den Fakultäten breitmachten. Auf Betreiben der Freunde des beiseite geschobenen Vormanns der Linken, Oberst Türke?, wurden 147 Hochschullehrer abgesetzt. Das war die dritte tief einschneidende Maßnahme zur Säuberung des Personenbestandes der wichtigsten Gremien im Lande. Im Sommer hatte man etwa 4000 Generale und Stabsoffiziere pensioniert. Am 21. Oktober verfügte ein Dekret des Nationalausschusses die Zwangsdeportierung regimefeindlicher „religiöser Fanatiker“ oder „Agas“ (Großgrundbesitzer). Dieses echt totalitäre Zaubermittel sollte zudem den Widerstand nationaler Minderheiten, vor allem der Kurden in der Nordosttürkei, brechen.

Während aber diese ländlichen Gegner zu keinem aktiven Vorgehen imstande waren, wehrten sich die Universitätskreise energisch und mit Erfolg. Sie genossen dabei den Beistand Gürsels und der gemäßigten unter den jetzigen Herren. Als zum Protest gegen die Professorenbesetzung die Rektoren der Hochschulen von Istanbul und Ankara, der vorgenannte Onar, Nerter und Yetkin, zurücktraten, als sich der Professoren und der Studenten empörte Unruhe bemächtigte, griff Gürsel ein. Die bedrohte Autonomie der Hochschulen wurde gerettet, die demissionierenden Rektoren wiedergewählt. Man entließ ferner eine Reihe von „Fanatikern“ und „Agas" aus der Haft. Gürsel hatte bei seiner Politik Rückhalt vornehmlich an General Ozdilek, der während mehrerer Monate Kriegsminister gewesen war, am 22. Oktober in diesem Amt durch General Ataman abgelöst wurde, jedoch das Amt eines stellvertretenden Ministerpräsidenten, und Vizepräsidenten des Natienälaus- schtKses übernahm, ferper an. Gepqrql Madanoglu und Oberst Küfük, die immer profilierter als Widerparte Türke? und der Linksextremen sichtbar erschienen. Es waren vornehmlich zwei andere Fragen, über die der rechte und der linke Flügel des Komitees übereinander gerieten.

Der zweite Staatsstreich

Im Morgengrauen des 13. November löste Gürsel den Offiziersausschuf auf. Vierzehn seiner Mitglieder, die Leute Türke?’, wurden zunächst verhaftet, dann auf geringe Posten bei ausländischen Vertretungen der Türkei abgeschoben. Aus den dreiundzwanzig Gürsel zuneigenden Mitgliedern des aufgelösten Ausschusses wurde ein neuer gebildet, der fortab den Staat lenkte. Der triumphierende General erfreute sich nicht lange ungetrübt seines Sieges. Zwei Wochen später warf ihn ein Schlaganfall nieder. Er war zeitweise der Sprache beraubt und er blieb linksseitig gelähmt, obzwar sich dieser Zustand langsam besserte. In den Wochen seiner Behinderung wuchs die Bedeutung anderer gemäßigter Komiteeangehöriger, vornehmlich des geschäftsführenden Vorsitzenden Ozdilek und des Generals Madanoglu, des Obersten Küfük. Man verfiele nun in schweren Irrtum, betrachtete man das Überrunden der Extremisten durch die eher westlich orientierten Generale und Stabsoffiziere — im Ausschuß sitzt nunmehr nur e i n Hauptmann und kein lAtnant — als Anzeichen be- schleulSber Hinkehr zu westlich- demokraPrechen Methoden. Zeitungen wurden unter strenge Kontrolle gestellt, und zwei aufmuckende Organe verboten. Widerspenstige wanderten hinter Kerkermauern, Unliebsame wurden deportiert. Ein neues Preßgesetz bescherte nur scheinbare Meinungsfreiheit. So war beispielsweise das Berufsgeheimnis der Journalisten durch die Einschränkung ausgelöscht, daß es vor der Rücksicht auf die Staatssicherheit zurückzustehen habe.

Auch die Bestimmungen über die in diesen Tagen zusammentretende,Legislative, in der die neue Konstitution beraten werden wird, waren’westlichen Mustern kaum ähnlich. Ihre 272 Mitglieder wurden teils aus den beiden früheren Oppositionsparteien genommen, teils außerhalb der eigentlichen politischen Sphären geholt.

Nach den Erfahrungen der letzten acht Monate sind wir einigermaßen skeptisch über die Rückkehr zur zivilen, wir sagen nicht Demokratie, so doch zur Parlamentsherrschaft. Immerhin hat sich nach dem Zusammentritt der Konstituante gezeigt, daß die in ihr mit großer Mehrheit dominierende Volkspartei und deren Oberhaupt, der greise Expräsident Ismet Inönü, über gewaltiges Ansehen verfügen und … daß General Gürsel eher mit ihr sympathisiert als mit den extremistischen Offizieren. In der am Vorabend der Eröffnung der Konstituante umgebildeten Regierung sitzen lauter gemäßigte Männer von großer Fachkenntnis und hohem Ansehen, darunter zwei Politiker der Volkspartei — einer davon, der Unterrichtsminister Professor Feyzoglu, scheint zum künftigen Ministerpräsidenten bei einer Machtübernahme Inönüs im heurigen Herbst ausersehen —, dann der Führer der zweiten zugelassenen „Nationalrepublikanischen" Partei, General Ozdilek, ist aus dem Kabinett ganz ausgeschieden, bleibt aber als stellvertretender Vorsitzender des Offiziersausschusses die rechte Hand Gürsels und dessen designierter Nachfolger, falls den jetzigen Präsidenten Krankheit oder Tod abberufen sollten. Innenminister General Kizilo- glu, Freund Inönüs und Gürsels, General Madanoglu und Oberst Kücük, im Ausschuß der nunmehrige Verteidigungsminister und ehemalige Armeeoberkommandant General Alanküs, sind die Schlüsselfiguren des gegenwärtigen Kurses, in dem allerdings das Gewicht der Politiker aus der Volkspartei schnell steigen dürfte.

Es gibt noch manche Dinge, die den politischen Zustand in der Türkei beständig dem in jederlei totalitären Regimen ähnlich zeigen. Vor allem der sich träg dahinschleppende Tendenzprozeß von Jassi Ada, der trotz löblicher Versuche der Richter, sich in Einzelheiten als unbefangen und als unabhängig zu bewähren, als Ganzes ein Höhn auf objektive Justiz ist. Sodann die bald emporbrandende, bald absinkende, nie aber ganz geglättete Welle der Verhaftungen früherer Minister, Präfekten, Generale, Geistlicher, Pr ?fp$spnen und ,,.,., kleinerLeute. Man hängt ihnen allen die beliebten Etiketten „religiöser- .Fanatiker“ und „reaktionärer Verschwörer" um, die zumeist zutreffen, doch zugleich erhärten, daß überall, vorab jedoch in den Ostprovinzen und allerorts auf dem flachen Lande, das ‘ derzeitige System keineswegs dem Willen der Gesamtheit und kaum dem der Mehrheit der Bevölkerung entspricht. Besonderes Aufsehen weckte, inmitten zahlreicher kleinerer Aktionen, das sogenannte „Weihnachtskomplott“, als dessen Teilnehmer allein in der Hauptstadt 65 Personen, insgesamt indessen viele hunderte, wenn nicht mehr als tausend Mißvergnügte hinter Schloß und Riegel gerieten. Zuverlässige Beobachter erzählen von der Unzufriedenheit unter der Bauernschaft, bei der die Sympathien für Menderes nicht verschwunden sind. Nicht zu unterschätzen dünkt uns endlich das stete Abbröckeln innerhalb der Träger des Umschwungs vom 27. Mai 1960.

Der Pendel schwingt

Wir haben auf das unaufhörliche Schwanken des Pendels hingewiesen, das einmal nach rechts, ein anderes Mal nach links ausschlägt (im Augenblick nach rechts). Demgemäß sind bald die Universitätskreise, bald die radikalen Offiziere verärgert; bald scheiden diese, bald jene Persönlichkeiten von ihrem Platz an der Sonne der Macht. Aus der ersten Regierung Gürsel ist nur noch ein Viertel der Minister im Amt. Noch vor der Kabinettskonstitution Anfang Jänner haben zwei hervorragende Männer ihr Portefeuille niedergelegt; der Notwendigkeit gehorchend und nicht dem eigenen Triebe: der Inhaber des Finanzressorts, Ekrem Alican, der einzige frühere Berufspolitiker im Kabinett, und der Verkehrsminister Gene- ralral Ulay, einer der populärsten Offiziere, ehemaliger Kommandant der Kadettenschule, der mit seinen ihn heiß liebenden Zöglingen eine wichtige Rolle beim Maiumschwung spielte.

Unsicherheit der Zukunft, fiebrige Gegenwart, ein Klima des Provisoriums, das alles ist kaum geeignet, die schwergeprüfte Wirtschaft zu fördern. Aus deren Niedergang, für den allerdings das heutige Regime weit weniger verantwortlich ist als das ihm vorangegangene, quillt jene soziale und außenpolitische Labilität, von der wir eingangs gesprochen haben. Unter Gürsel und, falls er, dessen Gesundheit zu großen Besorgnissen Anlaß bietet, unter Ozdilek, Madanoglu, Kugük wurde trotz allen — zugegeben, zeitweise unvermeidbaren — totalitären Schönheitsfehlern der eher westliche Kurs der Außenpolitik und nach innen eine durch starken sozialen Beisatz gekennzeichnete Wirtschaft die Oberhand beibehalten. Niemand kann jedoch verbürgen, daß nicht neuerlich die zweite Haupttendenz siegt, mit ihrem Drang zum völligen gesellschaftlichen Umsturz und zum Neutralismus oder gar hin zum Ostblock.

Die gefährliche Situation in der Türkei wird nicht zuletzt durch die Haltung ihrer zwei bedrohlichsten Nachbarn verschärft. Die UdSSR hat anfangs Gürsel sehr schöne Worte gegeben; neuerdings stuft sie ihn und seine engeren Freunde unter die Reaktionäre ein. Aus nationalistischen wie aus weltpolitischen Motiven benimmt sich die VAR sehr feindselig. Die Sprengung des Atatürk-Denkmals in Iskanderun (Alexandrette) durch großarabische Agenten in der Nacht zum 20. Dezember hat wie ein Fanal gewirkt und in der Türkei überall eine tiefe Erbitterung hervorgerufen. Das Bewußtsein der von außen drohenden Gefahren ist aber das stärkste, wenn nicht das einzige Moment, das in diesem Lande die schier hoffnungslos miteinander verfeindeten innenpolitischen Gegner einander annähern könnte. Darauf und auf den bisherigen Verlauf der Konstituante gründet unsere, der aufrichtigen Freunde der Türkei, Hoffnung, daß sie zu einer wahrhaft demokratischen Ordnung und zu ruhigem Dasein an einem Schnittpunkt des Weltfriedens zurückfinden werde.

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