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Randbemerkungen zur woche

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DAS AUSSCHEIDEN MALENKOWS aus der obersten Führung des Sowjetstaates wurde für die Weltöffentlichkeit zur Ueberraschung: nicht durch das Faktum, wohl aber durch die zeitlichen Umstände. Die gegensätzliche Schreibweise der „Prawda“ und „Iswestja“, der Partei- und der Staatszeitung, zuletzt ein wenig verhüllter Angriff Chruschtschows an die Adresse Malenkows auf einer internen Parteitagung, der aber erst jetzt veröffentlicht wurde zu Beginn der Tagung des Obersten Sowjets, bestätigen immer mehr die Gerüchte, die seit ]ahr und Tag in den Couloirs der internationalen Diplomatie kursierten über schwere Differenzen zwischen Chruschtschow und Malenkow. Dem Augenschein nach ergibt sich für viele nichtöstliche und außerrussische Beobachter folgendes Bild: Malenkow ist als Vertreter eines gemäßigten Kurses, und als Repräsentant einer breiten bürokratischen Schicht von Partei- und Staatsbeamten unterlegen im Machtkampf, den Chruschtschow gewann mit Hilfe alter Stalinisten und Militärs als deren Repräsentant nun Bulganin die nominelle Nachfolge Malenkows antritt. Also wäre die Folgerung: totale Wiederaufnahme des Stalinkurses, seine harte Militärpolitik, Ausschaltung der auf Ruhe und Ordnung und stete Facharbeit bedachten Spezialisten, des breiten heutigen sowjetischen Mittelstandes zugunsten einer radikalen Führungsgruppe aus Militärs und Parteileuten? — Bei näherem Hinsehen drängt steh eine andere Möglichkeit auf: Chruschtschow und seine Leute bemühen sich, das Amt und Erbe, die Funktionen Malenkows selbst mit zu übernehmen. Sie hatten den Obersten Sowjet einberufen, um ihm das Schauspiel der Demission Malenkows vorzuführen, weil sie den Völkern der Sowjetunion Rechenschaft schuldig sind für die Nichterfüllung vieler Versprechungen: weder der Lebensstandard, noch, was wichtiger ist, die Lebensmittelversorgung, konnte seit Stalins Tod in einem Maße gebessert werden, wie es erwartet, erhofft, gefordert wurde. Malenkow mußte deshalb in seiner Demission die Schuld auf sich nehmen für das Versagen der Landwirtschaft — wenige Tage zuvor war Mikojan abgesetzt worden, der seit 1935 Leiter der Konsumgüterproduktion gewesen war. Zwei Tage vor der Demission Malenkows sagte Chruschtschow dem amerikanischen Publizisten Randolph Hearst jun., er, Chruschtschow, würde, wenn es möglich wäre, gerne in die USA reisen, um dort die Methoden moderner Landwirtschaft zu studieren, er glaube nur, daß die USA ihm das nicht gestatten würden ... — Ein Bonmot? Wohl kaum, wenn man sich der Worte Lenins über die Bedeutung der amerikanischen Methoden für den jungen Bolschewismus erinnert. Chruschtschow hat, ebenso wie Marschall Bulganin, das Erbe und die Aufgaben Malenkows mit zu übernehmen, die Versorgung von 200 Millionen Menschen mit Lebensmitteln und mit Gütern, die einer relativ breiten Masse von mittleren und unteren Führern einen gewissen Lebensstandard erlauben; und er ist, bei der Durchführung aller seiner Pläne, angewiesen auf die tatkräftige und einigermaßen freiwillige Mitarbeit jener Intelligenzschichten, Beamte und Fachleute, als deren poltischer Repräsentant Malenkow galt. Es fällt auf, daß Malenkow verhalten wurde, als Gründe seines Rücktrittes gerade jene zwei Bereiche zu nennen, welche die wunden Punkte der gegenwärtigen Politik sind und als deren Schirmherr er selbst galt: die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und die sachgerechte Betreuung der politischen Agenden. — Für die Welt, für den Frieden, für die Zukunft wichtig ist weniger das Faktum dieses Machtkampfes und die Herrschaft im Kreml, als vielmehr die Art, wie dieser Machtkampf weiter ausgetragen wird: eine relativ „demokratische“ Art der WacUablöse durch „Demissionen“ und Ausbootungen, oder aber eine Tschistka, eine Groß-säuberung nach altasiatischer Manier, lassen auf ein Steigen oder Fallen der inneren Spannungen schließen. Das aber kann erst die Zukunft lehren ...

DER JÜNGSTE MINISTERPRÄSIDENT, DER FRANKREICH JEMALS REGIERTE, der zwanzigste Premier der Vierten Republik, ist also nach siebeneinhalb Monaten Regierungszeit gestürzt worden. Mister France, „Herr Frankreich“, nannte ihn anerkennend der Westen, der ihn mißtrauisch beobachtet hatte, als er am 18. Juni 1954 das Heft in die Hand 'nahm. Pierre Mendes-France war damals den USA und der Bonner Regierung nicht geheuer: war er nicht doch vielleicht ein Günstling Molotows, der soeben Bidault mit gestürzt hatte? Später wurde er dem Freien Westen mehr als geheuer, seine Reise nach Amerika wurde zu einer Triumphfahrt, Adenauer zeigte sich sichtlich beeindruckt durch seine Nüchternheit und Energie; da aber wurde er den Abgeordneten seines eigenen Landes von Tag zu Tag weniger geheuer: täglich ging ihnen dieser rastlose Arbeiter mehr auf die Nerven-, wollte er nicht alle Probleme lösen? Indochina, Nordafrika, die Finanzen des Staates, die Wahl- und Verfassungsreform .. .? Immer mehr Politiker verdächtigten ihn, über die Köpfe des Parlaments hinweg regieren zu wollen mit Hilfe seines Spezialistentrupps hochqualifizierter junger Fachleute, mit Hilfe seiner Appelle an die Oeffentlichkeit via Rundfunk. In diesem kühlen Rechner wurde ein Fanatismus sichtbar, der ihn den Weg eines Seiltänzers gehen ließ: hinwegsehend über die Positionen und Interessen gerade auch jener Parteigruppe, der er selbst entstammte, also der Radikalsozialisten, bekämpft aus politischen und persönlichen Gründen von Gaullisten, Kommu nisten und Volksrepublikanern. — Mendes-France kam an die Spitze der Regierung auf dem Höhepunkt einer außenpolitischen Krise, im Indochina-Konflikt, und wurde gestürzt in einem Moment einer anderen weltpolitischen Krise ersten Ranges. Eine eigentümliche Gesetzlichkeit des politischen Lebens Frankreichs wird hier sichtbar; man muß nicht nur an den Februar und März 1938 denken: die Nation scheut offensichtlich zurück, Entscheidungen zu fällen, die in solchen Momenten von weittragendster Bedeutung sein können. Pinay, der Nachfolger des gestürzten Premiers, war seinerzeit ein Anhänger der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft — ob er aber morgen die Pariser Verträge, die von Tag zu Tag mehr bekämpft werden, unter Dach und Fach bringen wird, ist zweifelhaft. Soeben läuft in Westdeutschland die innenpolitische Auseinandersetzung um Ratifizierung und deutsche Aufrüstung auf Hochtouren, Moskau winkt weiterhin mit dem Zaunpfahl, Englands Bemühungen, die USA und China an einen Verhandlungstisch zu bringen, sind bis jetzt gescheitert, da China mehr fordert, als der Westen geben kann. — In diesem kritischen Moment ist Frankreich für einen Augenblick einen seiner stärksten und fähigsten Männer losgeworden — nicht aber der Sorgen, derenthalber es ihn seinerzeit berufen und jetzt abberufen hatte. Es ist möglich, daß der politische Genius Frankreichs sich hier mit einer tiefen Schwäche merkwürdig verbindet: der französische Geist ist mißtrauisch gegen den guten Sinn der Siege fremder und gegnerischer Mächte — steht nun aber ebenso mißtrauisch eigenen Erfolgen gegenüber: die Angst, düpiert zu werden — „was steckt dahinter?“ —, vermählt sich tragisch genug mit einer Furcht, die seit langem notwendigen entscheidenden Reformen zu vollziehen. Es ist möglich, daß Frankreich zurückkehrt zu dem alten System des Fortwursteins, des Lavierens in den alten Gewässern; es ist möglich, daß Pinay auf seine Weise und behutsamer den Kurs Mendes-Frances fortsetzt. Manche A.nzeichen deuten darauf hin. Mendes-France verläßt die Regierungsbank nicht als „Toter“; er wird wiederkehren, seine Freunde sagen: hoffentlich nicht zu früh, sondern erst, wenn er die Kräfte erneuert hat, die ihm die zerreibende rastlose Arbeit eines halben Jahres geraubt haben des halben Jahres zwischen dem Waffenstillstand in Indochina und der Drohung um Formosa.

IRAK UND WELTPOLITIK sind ein Begriff. Der Blick auf die Landkarte und die Handelsstatistiken beweisen es. Ueber das Gebiet von Irak laufen die Rohrleitungen der Irak-Petroleum-Company. Von Kukuk nach Tripolis. Von Kirkuk nach Haifa. Von Kirkuk nach Banias. Britisches, französisches, niederländisches und, seit dem letzten Krieg besonders stark, amerikanisches Kapital haben ein wachsames Auge auf die politischen Regungen des Landes. Der Beistandspakt mit der Türkei, den die Reise des türkischen Ministerpräsidenten Menderers zu seinem Kollegen, dem achtzigjährigen Nuri Es Said, in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit stellte, findet selbst im Irak nicht jenen Beifall, den die Initiatoren einer „Lückenschließung zwischen Atiantik-imd Pazifikpakt“ wünschten. Begreiflich: Die Bevölkerung des Irak besteht zu SO Prozent aus Atabern und nur zu zwei Prozent aus Türken. Wenn daher Nuri Es Said bestrebt bleibt, den Draht nach Kairo zur Arabischen Liga nicht reißen zu lassen - und wenn man anderseits am Nil deutlich abwinkt und sich nicht in die Linie Ankara—Bagdad—Karatschi einfügen will, ist die Schwierigkeit der Lage deutlich. Die Zeiten der Bagdadbahn sind vorüber. Es fährt kein „Balkanzug“ von Berlin über Dresden— Tetschen—Znaim—Nisch nach Konstantinopel, aber es fährt eine Linie durch die arabischen Staaten vom Persischen Golf bis Nordafrika. Zu den neu erwachten religiösen und geistigen Bestrebungen kommt aber noch, daß die soziale Lage im Irak zu wünschen übrigläßt. Neben dem patriarchalisch-feudalen Großgrundbesitz hat die aufblühende Oelindustrie das Industrieproletariat sprungartig anwachsen lassen. Dieses Spannungsfeld wird von einer Macht, die ihre weltrevolutionären Bestrebungen nicht leugnet, geschickt ausgenützt. Und immer wieder erleben wir es, daß die Länder, anstatt Beistandspakte zur Hebung der Volkswohlfahrt zu beschließen, glauben, man könne die Sprünge im Gehau mit Waffen kitten. *

DER „DRITTE MANN“ IM CAFE GARTENBAU? Ja, er geht wieder um, der düstere Schatten der von Orson Welles einst verkörperten Gestalt, Symbol für das Wien des Hungers, der Ruinen und des Krieges, der Geheimdienste im Dunkel. Der Hunger ist zwar verschwunden, dort wo vor zehn Jahren nichts als ausgebrannte Ruinen standen, wachsen von Jahr zu Jahr immer mehr neue Häuser empor. Geblieben aber ist die Besatzung von Ost und West und mit ihr das gefährliche Spiel im Dunklen, das dunkle Spiel des „gefährlichen Lebens“, dem sich die V-Männer aller Geheimdienste verschworen haben. Die „Affäre Naliwaiko“ erinnert uns daran. Als eine Warnung für die Oesterreicher. Ihre Zurückhaltung verpflichtet sie jedoch nicht zu schweigen. Im Gegenteil. Sie leiten daraus das Recht ab, ihre mächtigen Gäste dringend zu ersuchen, an anderen Orten als in der österreichischen Metropole zu zündeln.

RESOLUTIONEN 82 GEGEN 66, EIN EXODUS, DREI SUSPENDIERTE LANDESOBMÄNNER: das sind so Randglossen vom Bundesverbandstag des VdU, der am vergangenen Wochenende in Wien abgehalten wurde. Sie zeigen wohl genügend anschaulich, daß der Weg zu einer wirklichen „dritten Kraft“ unserer Innenpolitik sehr weit ist. Immerhin darf das Bemühen der neuen Bundesleitung, die Eskapaden der extremen „Aktivisten“ zu zügeln und einen Kurs der Mäßigung zu steuern, notiert werden. Wird die Truppe der neuen Parole ihrer Führer folgen? Die Probe aufs Exempel steht noch aus. Resolutionen 82 gegen 66, ein Exodus, drei suspendierte Landesobmänner . . .

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