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Späte Erkenntnisse und Geständnisse

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Der Sumpf, in dem die Verleumdungen gegen das frühere Österreich wurzeln, ist jener Nationalismus, der am Vorabend der Revolution von 1848 entwickelt und der unter der Patronanz der sogenannten liberalen Regierungen Englands, Piemonts und des dritten Napoleon eifrig gefördert wurde. Alles, was im habsburgischen Reiche seit Beginn der konstitutionellen Ära an ehrlichen und ingeniösen Bemühungen zur Lösung der verworrenen nationalen Probleme von einer Reihe hervorragender Staatsmänner, die den besten zeitgenössischen Staatsmännern des Westens ruhig an die Seite gestellt werden können, während mehr als eines halben Jahrhunderts mit unübertrefflicher Geduld, vorbildlicher Toleranz und fortschreitenden Erfolgen geleistet worden ist, wurde von einer Flut von Gehässigkeit überschüttet. Ihre auswärtigen Quellen waren darin unerschöpflich, während sich die infamste Lüge der neueren Geschichtsschreibung, die Österreich als einen Kerker der Nationen und einen Hort der Reaktion darstellte, sich in der westeuropäischen und amerikanischen Publizistik einnisten durfte, genährt von Strömungen, die das von der Donaumonarchie repräsentierte höhere Ordnungsprinzip aus dem einen oder anderen Grunde herabzusetzen ein Interesse hatten. Dies Lüge hat entscheidend zur Entfesselung des ersten Weltkrieges beigetragen, sie bestimmte schlechtinformierte Staatsmänner des Westens, das große Österreich zu zerschlagen und wurde in der Zwischenkriegszeit von gewissen Sachwaltern in den Nachfolgestaaten, denen sie eine Rechtfertigung bedeutete, auf das sorgfältigste konserviert. Sie fristete ihr Leben sogar über den zweiten Krieg hinaus, wiewöhl schon die Werke von C. A. M ac- artney, Professor der Oxford Universität „Problems of the Danubian basin“, 1942, von A. J. P. Taylor „The Habsburg Monarchy 1815 co 1918“ und von G. P. Gooch „Studies in Diplomacy and State- craft", 1942 den Beginn einer Wandlung in dem Urteil der Welt über das Wesen und die Bedeutung des alten Österreichs ankündigten.

Erst die dramatische Entwicklung der letzten Jahre hat — namentlich in den angelsächsischen Ländern — endlich das offene Eingeständnis erzwungen, daß man in der Politik gegenüber dem kunstvollen Bau des vormaligen Elfvölkerreiches zwischen dem, Bodensee und dem Eisernen Tor einer ungeheuerlichen Täuschung aufgesessen sei. Es hätte doch schon viel früher auffallen müssen, daß die historische Publizistik aus slawischer oder slawenfreundlicher Quelle über die Unterdrückung der Slawen durch eine deutsche Hegemonie im großen Österreich klagte, während deutsche Autoren das franzisko-josephinische System der Unterdrückung des österreichischen Deutschtums beschuldigten. Wie kann nun dieser Widerspruch erklärt werden? Auf diese Frage gibt der amerikanische Publizist Robert Ingrim in seinem kürzlich erschienenen Werke „After Hitler Stalin?" deutsche Übersetzung „Von Talleyrand zu Molotow“ im Thomas-Verlag, Zürich eine einfache und einleuchtende Erklärung: Die vormalige österreichische Regierung erlaubte keiner Nation, eine andere zu unterdrücken, und das faßte jede als Beschränkung auf. Das ist die Wahrheit.

Wenn von einem prinzipiellen Gegensatz zwischen Regierung und den Nationen im großen Österreich gesprochen werden kann, so bestand er darin, daß es die Regierung als ihre Aufgabe ansah, jedem einzelnen Staatsbürger den vollen Anteil an dem kulturellen Leben seiner Nation zu gewährleisten. Für sie bedeutete die Nationalität eine der Person eigentümliche Angelegenheit, während die Nationen um die Anerkennung eines geschlossenen Territoriums bemüht waren. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Regierung den humaneren Standpunkt vertrat. Dies war auch der Standpunkt der höheren Freiheit, denn er bedeutete den Schutz einer Nation gegenüber der anderen und des einzelnen gegenüber einer fremden Nation. In diesem Geiste gelang es dem österreichischen Staatsmann Freiherrn von Chlumecky im Jahre 1905, in Mähren einen deutsch-tschechischen Ausgleich auf Grund nationaler Kataster durchzuführen. Ingrim sagt von dieser österreichischen Lösung des Nationalitätenproblems: „Es war ein gutes und anständiges System, aber es konnte den modernen Nationalismus nicht befriedigen. Versuch, dem Tiger zu sagen, daß gebratenes Huhn seinem Magen wohltäte! Er will töten.“

Die .Friedensmacher von 1919 hatten sich den Tigerstandpunkt zu eigen gemacht. Sie schufen damit die Voraussetzungen für die Politik der nationalsozialistischen Diktatur und sind mitschuldig geworden an jenen Tragödien, die mit der nationalsozialistischen Machtergreifung ihren Anfang nahmen und nach dem Ende des Krieges sich fortsetzten. Das Buch Ingrims macht daraus kein Hehl.

Hinsichtlich des Vorwurfs, daß in Österreich eine durch Scheinkonstitution schlecht verhüllte reaktionäre Beamtenautokratie geherrscht habe, muß folgende Überlegung angestellt werden. Das österreichische Beamtentum zeichnete sich seit den Tagen Maria Theresias und Josephs II. durch Duldsamkeit und Unbestechlichkeit aus. Der Geist der österreichischen Verwaltung lebte nach dem Zerfall der Monarchie noch lange in den Nachfolgestaaten fort, ja man kann annehmen, daß er sogar unter den heutigen Verhältnissen noch nicht gänzlich ausgestorben. ist. Die seit 1781 von der Verwaltung vollkommen getrennte Rechtsprechung stand auf gleicher Höhe wie etwa die Rechtsprechung in England. Jedem, ohne Unterschied der Geburt, der Religion und des Vermögens, waren die höchsten Stellen in der Beamtenschaft und im Heere zugänglich, wofür zahlreiche Beispiele angeführt werden könnten. Der Beamtenschaft fiel das Verdienst zu, immer an der Spitze der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung im alten Österreich gestanden zu sein. Unter dem Schutze des allgemeinen Wahlrechts hatte sich im letzten Jahrzehnt vor dem Kriege die Sozialdemokratische Partei zur zweitstärksten Partei im Wiener Parlament emporgehoben. Die Presse erfreute sich einer Freiheit, die jeder Nation und jeder Partei die Möglichkeit bot, ihre Interessen zu vertreten. Die Kohärenz dieses Reiches, das elf Völkern Sicherheit, Recht, Bildung und Wohlfahrt bot, erwies sich durch den viereinhalbjährigen heroischen Widerstand im ersten Kriege. Das Reich wäre niemals von innen heraus zerfallen, sondern es wurde durch äußere Einwirkungen zerstört. Jede andere Darstellung ist eine Geschichtsfälschung. Dies bestätigt auch ausführlich das Buch Ingrims. Ingrim erklärt die „nationalen Revolutionen“ vom Herbst 1918 als nachträgliche Fiktionen, die Wilson’ und seine Mitarbeiter brauchten, um die Zerstörung des großösterreichischen Staatskörpers zu rechtfertigen, der sie unter dem Drucke der damaligen italienischen Regierung und einzelner ehrgeiziger Emigrahten aüis Österreich, vor allem Masaryks, in letzter Stunde zügestimmt hatten.

Diese Fiktion wurde von den neuen Regierungen der Nachfolgestaaten bereitwillig aufgegriffen und benützt, um jede Kontinuität mit dem alten Reiche und damit auch jede daraus abgeleitete Verpflichtung abzulehnen, Ingrim schreibt: „Es gab gar keine Revolution in Wien und Budapest; es gab nicht einmal eine in Prag. Was geschah, war, daß der Kaiser und König Karl angesichts der Tatsache, daß Wilson in der Stunde des Sieges sein eigenes Programm preisgab, die föderalistische Lösung fallen ließ und seinen Ministern und Statthaltern die Weisung gab, die Verwaltung an Ausschüsse der Nationalitäten zu übergeben. Das erklärt auch, warum Masaryk als der erste Präsident der Tschechoslowakei genötigt war, zu verordnen, welcher Tag als der Beginn der tschechischen Erhebung anzusehen sei. Es hat einfach keine gegeben.“ Mit den stärksten Argumenten widerlegt Ingrim die Darstellung Professor Shotwells in seiner Vorrede zu einem Buche Francis Deaks und jene Seton-Watsons in dessen Abhandlung „Treaty Revision“ London 1943, nämlich die These der „inneren Zersetzung“, und kommt zu dem Schlüsse: „Präsident Wilson … verkündete den Besiegten, was sie zu tun hätten, um einen Waffenstillstand zu erlangen. Das ist der springende Punkt, aber es scheint als unanständig zu gelten, ihn zu erwähnen … Es waren die Verhandlungen vor dem Waffenstillstand, welche die neue Ordnung gestalteten und schnell zu einem zweiten Weltkrieg führten.“ Ingrims Auffassung deckt sich unter anderem mit dem Urteil des Wiener Historikers Heinrich Benedikt. In seinem kürzlich erschienenen Buche „Monarchie der Gegensätze“ Ullstein-Ver- lag, Wien tritt dieser Autor mit gleicher Entschiedenheit der Legende von dem inneren Zerfalle des habsburgischen Reiches entgegen, wenn er auch mit Recht die ungarische Regierung an dem Zerstörungswerk teilnehmen läßt, das er in der Hauptsache als durch äußere politische Einwirkungen vollzogen erklärt.

Der Mißbrauch mit dem Begriffe der Freiheit -und dem der Befreiung, der die europäische Politik seit dreißig Jahren charakterisiert, hat mit der Zerst""ung der Donaumonarchie begonnen. Damals v urden aus einem Reiche der Gerechtigkeit, der Duldsamkeit und des Wohlstandes Völker „befreit“, deren Mehrzahl heute unter politischem Drucke leidet, zum Teil von ihren Wohnstätten vertrieben ist oder Verfolgung und jede Art von Drangsal erdulden muß. Damals bereiteten Wilson, Cle- menceau und Lloyd George das Feld für den gegenwärtigen Zustand Mitteleuropas. Damals geschah das, was mehr war als ein Verbrechen am künftigen Frieden, nämlich, auch vom Standpunkt Frankreichs und Englands, eine Dummheit von säkularem Auis- maß, mit der sich übrigens die Briten doch nur als eisenstirnige Verfolger jener Politik der Palmerston und Gladstone erwiesen, die auf eine Schwächung der europäischen Mitte hinauslief und über die nun Ingrim schreibt: „In vielen Sprachen habe ich es sagen gehört, daß es ein Fehler war, das alte Österreich zu zerstören. Der erste, der es mir sagte, war im Jahr 1929 Ante Trumbitsch, der Kroate, der einer der glühendsten Vorkämpfer der südslawischen Einigung gewesen war. Schwerer Regen hatte den Boden aufgeweicht und die Baumwurzeln gelockert, als der deutsche Orkan hereinbrach.“ Denn „die österreichische Idee“, so schließt Benedikt sein Hoheslied auf das alte Österreich, „hat die Eigenart der Monarchie gerechtfertigt und lebt, obwohl sie aus dem mitteleuropäischen Raum vertrieben ist, weiter, weil sie universale Bedeutung hat… Die Gemeinschaft der vielen Völker, welche die Monarchie bildeten, war ein Abbild der Menschheit, erzeugte in dem einzelnen ein, wenn auch auf einen kleinen Teil der Erde beschränktes, Weltbürgertum … Von cusanischem Geist erfüllt, vereinigte die Monarchie die nationalen, sozialen und kulturellen Gegensätze Mitteleuropas in der Harmonie einer höheren Gemeinschaft.“

Historische Lügen haben offenbar weniger kurze Beine als bürgerliche. Viel zu oft gelingt es ihnen, in das Dickicht der Geschichte zu flüchten. Daß auch sie allmählich unschädlich gemacht werden, dafür sorgen die politischen Vorgänge im Gebiete der einstigen Monarchie und Publizisten, in deren vorderste Reihe Robert Ingrim getreten ist.

Ganz bescheiden schloß sich , vor kurzem ein bejahrter Mann diesem Chor der Stimmen an, der einst zu jenem distinguierten Zirkel gehörte, der mit seiner publizistischen Tätigkeit jahrelang an jenem österreichischserbischen Konflikt schürte, aus dem der erste Weltkrieg entbrannte. Vielleicht in wehmütiger Erinnerung an die Jahre, in denen er ,,Times“-Korrespondent in Wien war, hat vor nicht langer Zeit im „Manchester Guardian“ Wickham Steed festgestellt, daß in der Zeit, als er als Chef der. Propagandamission im Frühjahr 1918 an die italienisch-österreichische Front ging, der Zweck seiner Mission nicht die Aufteilung der Donaumonarchie in eine Reihe, kleiner Staaten gewesen sei. Er wäre auch nicht ermächtigt gewesen, irgendeinem Volk der österreichisch-ungarischen Monarchie die vollständige Unabhängigkeit zu versprechen.

Diese Feststellungen sind um der objektiven historischen Wahrheit willen außerordentlich wichtig. Sie können das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Sie kommen spät, doch für Gegenwart und Zukunft nicht zu spät.

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